Kitabı oku: «Mary und das geheimnisvolle Gemälde», sayfa 2
Schon am 16. Januar 1921 war ein Brief an sein liebes Hermle unterwegs: Verzeih, wenn ich manchmal brummig war. Verzeih dem einsamen Vater, denn Du bist fort und er ist noch immer brummig. Mit Dir ist auch Frau Musika, Eurer lieben Mutter Freundin, aus dem Hause gezogen.
Seit Marys Tod stand der Flügel verlassen, wie ein vergessenes Möbelstück, im Speisezimmer. Es war, als hätte die Trauer im Haus nicht nur das Lachen der Menschen, sondern auch seinen Klang verstummen lassen. Trotz seiner Schwermut legte Richard der Tochter dringend ans Herz, weiterhin im Haus des Onkels zu bleiben: Und wenn Dich einmal Herz und Heimweh ruft, dann komm wieder zu uns. Vorderhand kann vom Fortgehen von Lu oder gar Else und den Kindern noch keine Rede sein. Gegebenenfalls würde das auch nicht von heute auf morgen gehen. Linus (der Knecht) ist ja jetzt nicht mehr bei uns und wird höchstens einmal auf 14 Tage kommen. Diese Kosten sind dann gespart und da es zweifelhaft, ob Lene (die Haushälterin), die fort möchte, also auch der Trauer entfliehen wird, noch länger bleibt, so haben wir auf Tante Linas Empfehlung hin ein Fräulein Wohlgemuth, vierzig Lenze zählend, im Sinne, anzunehmen. […] dann wäre doch jemand da, der sich ganz alleine verantwortlich der Hausführung widmen würde. Ich bin nicht optimistisch, sehe aber ein, dass ich so jemanden haben muss.
Gestern Abend war ich mit Else und Lu auf einem Konzert in Eschau, das der Musiklehrer Wolf am Klavier, begleitet von einem Cello und einer Sängerin, veranstaltete. Alle Größen waren vertreten und nach Schluss wurde bei Pfarrer Löffelholz weiter musiziert. Ich war zu trübe gestimmt, mir fehlte Euer Mutterle. Ich ging vorzeitig heim und las bis die anderen kamen. […] Ich muss ja jetzt doch die Stelle Eurer Mutter einnehmen und dabei die nötigen Briefe schreiben. So lang es geht, geht es, wie man sagt. Allmählich verkleinert sich ja auch der Kreis, um dann mit mir ganz aufzuhören …
Im fernen Altona litt Hermi immer mehr unter Heimweh. Im Haus des Onkels und der Tante fehlte die liebevolle Atmosphäre, die sie von ihrer Mutter kannte. Sie waren zwar freundlich zu ihr, aber distanziert. Auch das Arbeiten in der Arztpraxis erfüllte Hermes nicht. Einzig die Abende, an denen sie mit Onkel Franz musizieren konnte, machten die Zeit erträglich. Nach einem halben Jahr war sie erleichtert, wieder abreisen zu können. Doch ohne Ma war auch die Villa Elsava nicht mehr ihr Zuhause. Durch die Unterstützung ihrer Mainzer Freundin begann sie bald eine Ausbildung zur Korsettmacherin und konnte nach kurzer Zeit ein eigenes kleines Geschäft eröffnen. Es sprach sich schnell in Mainz herum, wie geschickt sie Mieder nach Maß anfertigen konnte und die Damen der gehobenen Gesellschaft wurden bald gute Kundinnen.
Frieden und Krieg
Am 24. Juni 1922 ging eine Eilmeldung durch die Presse: Außenminister Walter Rathenau auf dem Weg ins Auswärtige Amt ermordet! Am Abend zuvor hatte er noch bis in die frühen Morgenstunden bei einem Essen mit dem amerikanischen Botschafter Alanson Houghten den deutschen Standpunkt in der Reparationsfrage erläutert und über eine „Abkehr von der bisherigen Erfüllungspolitik“ diskutiert. Durch seine widerspruchsvolle politische Haltung wurde er von vielen Seiten angefeindet und hatte Mühe, Unterstützung zu finden für seine neue entspannungsfördernde Politik. Zwar war Berlin weit weg, doch die Erleichterung über den Frieden wurde allgemein getrübt durch den verlorenen Krieg und den erzwungenen Friedensvertrag von Versailles. Die tief empfundene Ungerechtigkeit heizte landesweit die Debatten im Volk an.
Am 31. Januar 1922 war Rathenau zum Außenminister ernannt worden, um Deutschland bei der Weltwirtschaftskonferenz in Genua zu vertreten. In der Reparationsfrage gelangen ihm keine Fortschritte, aber er fand sich unter Bedenken bereit, am 16. April 1922 mit Sowjetrussland einen bilateralen Sondervertrag abzuschließen, um Deutschland außenpolitisch mehr Handlungsspielraum zu verschaffen. Obwohl dieser Schritt von nationaler Seite begrüßt wurde, hielt es die Organisation Consul nicht davon ab, später ein Attentat auf Rathenau zu verüben. Er wurde als ältester Sohn des deutsch-jüdischen Industriellen Emil Rathenau (des späteren Gründers der AEG) in Berlin geboren. Rückblickend schrieb er über seine Jugendzeit: In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann. Die traumatisch erlebte Kluft zwischen Zugehörigkeit zur Elite und gleichzeitiger Diskriminierung begleitete ihn lebenslang und enthält vielleicht die Quintessenz der deutsch-jüdischen Geschichte, nämlich den - sich über Generationen hinstreckenden - Versuch, die jüdische und die deutsche Identität miteinander in Einklang zu bringen, ohne sich weder in der einen noch in der anderen wirklich zu Hause zu fühlen. Als Präsident der AEG reichte Rathenaus Einfluss weit über den Konzern hinaus. Er war überzeugt, eine Planwirtschaft wäre die notwendige Ergänzung zum Marktmechanismus und könne so dazu verhelfen, soziale Schieflagen und überzogene Profite zu vermeiden. Noch am Tag der Ermordung Rathenaus wurden die Funktionäre der rechtsextremen Organisation Consul festgenommen. Die O. C. war eine nationalistisch und antisemitisch gesinnte terroristische Vereinigung während der Weimarer Republik, eine paramilitärische Organisation, die als Geheimbund aufgebaut war. Sie verübte politische Morde mit dem Ziel, das demokratische System der jungen Republik zu destabilisieren, eine Militärdiktatur zu errichten und die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges, insbesondere den Friedensvertrag von Versailles, zu revidieren. Bei der vorzeitigen Haftentlassung einer der Mörder Rathenaus wurde der Täter von einer Musikkapelle der paramilitärischen Wehr-Organisation „Stahlhelm“ begrüßt, dessen Ehrenmitglied Reichspräsident von Hindenburg war. Dies zeigte schon seine undemokratische, reaktionäre Einstellung. Im August 1921 wurde der bei den Rechten verhasste Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im Schwarzwald von der O. C. ermordet. Der Mordversuch am 4. Juni 1922 an Philipp Scheidemann, der bereits 1883 in die verbotene SPD eingetreten war, scheiterte. Vermutlich war die Gruppe auch verantwortlich für die Ermordung von Karl Gareis, der überzeugter Sozialist und zuletzt als Lehrer in Aschaffenburg tätig war. Ihre etwa 5000 Mitglieder bestanden zum größten Teil aus ehemaligen Offizieren des Deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine sowie der Freikorps. Ihr Motto war die Bekämpfung alles Antinationalen und Internationalen, des Judentums, der Sozialdemokratie und der linksradikalen Parteien, mit dem Ziel, durch die Ermordung von exponierten Personen der Demokratie, die Republik zu beseitigen. Vor allem Politiker jüdischer Abstammung zählten dazu, aber auch Politiker der demokratischen Parteien der Mitte, der Linken sowie Pazifisten und Politiker, die an den Verhandlungen des Versailler Vertrages beteiligt waren. In einer Hetzschrift der Freikorps hieß es: Auch Rathenau, der Walter, erreicht kein hohes Alter. Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau.
Eines der bekanntesten O.-C.-Mitglieder war der Schriftsteller Ernst von Salomon, der als Rechtsterrorist (Für einige Historiker gilt er als Wegbereiter des Nationalsozialismus.) an der Vorbereitung von politischen Verbrechen, wie dem Mord an Rathenau, beteiligt war. Anfangs war die Organisation sogar von der Reichsregierung und der Reichswehrführung geduldet, da sie hofften, mit ihrer Unterstützung die Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages unterlaufen zu können. Salomon erreichte mit seinen Büchern „Dokumente vom Kampf um die Wiedergeburt der Nation“ etc. im Nationalsozialismus sehr hohe Auflagen. Auf der Grundlage des im Juli 1922 erlassenen Republikschutz-Gesetzes wurde die O. C. verboten. Als Nachfolgeorganisation wurde der Bund Wiking gegründet. In der Zeit des Dritten Reiches wurden die Mitglieder der O. C. der SS unterstellt.
Rathenau war lange Zeit einer beispiellosen antisemitischen Hetzkampagne ausgeliefert gewesen. Seine Aussage, wonach die Geschicke der Welt von etwa 300 mächtigen Männern geleitet würden, war zu der Denunziation umgedeutet worden, Rathenau selbst wäre einer der „300 Weisen von Zion“, die mit ihm an die Macht gelangt seien. 1920 wurde erstmals eine deutsche Fassung - der ursprünglich in Russland erschienenen - unter dem Titel „Die Geheimnisse der Weisen von Zion“ (von Ludwig Müller von Hausen) herausgegeben. Der Gründer und Vorsitzende des Verbandes gegen die „Überhebung des Judentums“ pflegte in Berlin intensive Kontakte zu rechtsextremen russischen Emigranten. Diese sogenannten Protokolle waren nur eine von vielen antisemitischen Veröffentlichungen, die das Land überschwemmten. Dennoch zeigte ihr publizistischer Erfolg, dass in der Weimarer Republik das Bedürfnis nach einem Sündenbock für den Sturz der Monarchie und für die Niederlage im Weltkrieg angesichts der eigenen rassischen Überlegenheit - die die völkische Bewegung immer verkündet hatte - groß war. Die „Protokolle“ vereinten eine Vielzahl von Klischees, die den antisemitischen Diskurs prägten. So wurden darin Juden grundsätzlich als Feinde der Christen dargestellt. Als Ziel der Juden wurde die weltweite Herrschaft - ihres Glaubens und des Glaubens an ihre „göttliche Auserwähltheit“ - in dem von ihnen beherrschten „Universalstaat“ dargestellt. Zudem wurden ihnen Ehrgeiz, Rachsucht und Hass auf die Christen unterstellt. Die Vorstellung, die Juden seien grundsätzlich feindlich gegen Christen eingestellt, wurzelt im Antijudaismus (seit Beginn des Christentums), der ihnen „verstockte“ Verweigerung von Bekehrung und Taufe, Gottesmord, Hostienschändung sowie angebliche Bündnisse mit dem Teufel vorwarf. Zweifel an der Echtheit der Protokolle kamen schon sehr früh auf. Es wurde vermutet, dass der gesamte Text ein böswilliges Phantasieprodukt war, wonach die Juden wegen ihrer angeblichen Rolle in der russischen Revolution 1905 verleumdet wurden.
Die NSDAP stützte sich in ihrer Propaganda stark auf diese „Protokolle“ und verbreitete deren „aufsehenerregenden Enthüllungen“ seit 1921 in auflagestarken Flugblättern. In „Mein Kampf“ schrieb Hitler: Die Protokolle der Weisen von Zion sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die Frankfurter Zeitung in die Welt hinaus, der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. Irgendein Beweis, dass die sog. Protokolle irgendwo und irgendwann von einem oder mehreren Juden im Auftrag einer geheimen „jüdischen Weltregierung“ ausgearbeitet, vorgetragen oder beraten worden sind, wurde nie erbracht. Die Nationalsozialisten solidarisierten sich noch während der Weimarer Republik mit den Attentätern, obwohl die Mörder Rathenaus eine monarchistische Gegenrevolution auslösen wollten und keine faschistische Nationalrevolution.
Nach 1945 wurde das Schlagwort von dem „ersten Opfer des Dritten Reiches“ populär. Rathenau sei sowohl ein erstes Opfer des Dritten, wie ein letztes Opfer des Zweiten Reiches gewesen. Die politischen Reaktionen auf das Attentat waren enorm. Es kam zu Tumulten, Millionen Deutsche demonstrierten in Protestkundgebungen und Trauerzügen gegen den konterrevolutionären Terror, aber der Bürgerkrieg, auf den die Terroristen gesetzt hatten, blieb aus. Die Reaktionen auf die Ermordung Rathenaus stärkten letztendlich die Weimarer Republik. Das Deutschlandlied wurde zur Nationalhymne erhoben. Die Bevölkerung sah die Ermordung ihres Außenministers als Opfer für die Demokratie.
Else und Ludwig hatten sich ihr Leben mit den Kindern nun endgültig in der Villa eingerichtet. Schweren Herzens musste Ludwig seine beruflichen Pläne aufgeben. Jetzt, nach Kriegsende, fand er den Anschluss an sein Philosophie-Studium nicht mehr. Dozent an einer Universität zu werden, war während der Kriegsjahre sein ersehntes Ziel gewesen.
Dennoch arbeitete Ludwig in Anlehnung an Platons Werk „Politeia“ an einer Abhandlung „Der Staatsmann“, die in einem Buch des „Leuchter“, einem Verlag für philosophische Schriften in Darmstadt, 1922 veröffentlicht wurde. Er ließ seine Frau nicht nur gerne teilhaben an seinen Gedanken, er diktierte ihr sogar den über zweihundert Seiten langen Text, den sie mit ihrer schönen Handschrift für den Verlag zu Papier brachte. Lu zitierte Platon, der Sokrates‘ Texte niederschrieb: Das wichtigste, was wir Menschen im Leben lernen müssen, ist nachzudenken. Er vertiefte sich in Nietzsches Werke und stimmte überein mit Hegel: Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden.
Else war durch eine unerwartete Schwangerschaft sehr erschöpft und die übernommene Verantwortung überforderte sie. Ihre Schwiegereltern und die Schwägerin boten ihr an, die siebenjährige Liselotte einige Zeit zu sich zu nehmen. In Rheinhessen konnte sie zur Schule gehen und erhielt die bestmögliche Förderung des Opas, der ihre musische Begabung erkannte und nach den Hausaufgaben täglich mit ihr am Klavier saß.
Am 19. Januar 1923 kam der kleine Wilhelm Otto Franz zur Welt. Die Geburt setzte sehr plötzlich und einige Wochen zu früh ein. Der zarte Junge war zu schwach und lebte nur einen Tag. Else war sehr geschwächt und erholte sich nur langsam.
Mie bemühte sich täglich, Opapa von seinem Heimweh nach Lisekind abzulenken, die inzwischen in Darmstadt ein Gymnasium mit Internat besuchte, und die beiden temperamentvollen Buben brachten ihn mit ihren Streichen zum Lachen.
Am Heiligen Abend 1935 überraschte Richard seine Tochter Else mit einem Bild, auf dem er einen Rosenstrauß in zarten Pastellfarben festhielt, den er erst einen Tag zuvor zusammengestellt hatte. Der sonnige Herbst war in einen außergewöhnlich milden Winter übergegangen. Kein Frost hatte die zarten Rosenblüten zerstört und Richard schnitt behutsam von Marys Rosenstock die letzten vollerblühten weißen Rosen. Viele Stunden hatte er sich mit Hingabe seinem Werk gewidmet, versunken in Erinnerungen der gemeinsamen Jahre. Bevor er das fertige Bild in den vergoldeten Rahmen legte, schrieb er Rosen zu Weihnachten 1935 darunter. Else wusste, Papa hatte die weißen Rosen für seine Frau gemalt und stellte das Bild neben Mutters Urne.
1933 war die Machtergreifung durch Adolf Hitler erfolgt. Am 11. September 1938 schrieb Else begeistert auf ihrer Ansichtskarte mit einem Foto vom Führer - neben B. von Schirach, dem Leiter der HJ, - in seiner Grußhaltung mit ausgestrecktem Arm (der stereotype „Deutsche Gruß“) beim Vorbeimarsch der Hitlerjugend unter dem Hakenkreuz: Hurra, den Führer gesehen! Tapfer erkämpft im drückendsten Gewimmel. Hoffe heute Abend wieder erleben zu dürfen, den Führer zu sehen. Innigst Eure Mutsch. Else und Lilo waren in Begleitung einer Freundin mit dem Fahrrad mehrere Tage unterwegs gewesen nach Nürnberg zum Reichsparteitag. Seit einigen Monaten leitete Else mit ihren beiden Töchtern für den BDM (Bund deutscher Mädchen) im Park ein fröhliches Beisammensein für junge Frauen im Dorf. Sie kamen gerne, denn die leichte Gymnastik und frohen Lieder waren wie eine Belohnung für die harte Arbeit zu Hause auf dem Bauernhof. Daneben war Else engagiertes Mitglied in der NS-Frauenschaft.
Nach einundzwanzig Jahren einer fragilen Friedenszeit und der Machtergreifung Hitlers brach 1939 erneut ein Krieg aus. Die Wunden des verlorenen Ersten Weltkrieges waren noch lange nicht verheilt. Eine ganze demoralisierte Generation ließ sich vom Hitler-Regime überzeugen, dass die Schmach des verlorenen Krieges nur durch einen grandiosen Sieg in einem erneuten Krieg zu vergelten wäre. Kaum einer im Land wollte nicht gerne den Versprechungen glauben.
Nach Hitlers Überfall auf Polen 1939 (ausgelöst durch eine von der SS inszenierten, angeblich polnischen Besetzung des Reichssenders Gleiwitz, Nähe Kattowitz) und der daraus resultierenden Kriegserklärung Englands und Frankreichs, aufgrund des Beistandspaktes mit Polen, war der Flächenbrand mitten im Herzen Europas entfacht und breitete sich als Zweiter Weltkrieg aus. Nach den schnellen Anfangssiegen, des sogenannten Blitzkrieges über Polen und Frankreich, gelang es Hitler, mit seinen Parolen und Versprechungen eines Endsieges, den Kampfgeist für das Vaterland bei vielen jungen Männern zu wecken.
Am Abend war Richard - wie am Ende jedes Tages - in Gedanken bei seiner geliebten Frau und erzählte ihr von den aktuellen Ereignissen. Vor allem lauschte er auf ihre vertraute Stimme, ihre warmherzigen Worte, die trotz der jahrelangen Trennung, nach wie vor nicht in ihm verklungen waren: Jetzt sah er wieder in ihre tränenfeuchten Augen, als sie vor Jahren zu ihm sagte: „Richard, ich denke gerade an die Worte von Hegel: ‚Alle großen weltgeschichtlichen Vorgänge ereignen sich zweimal.“ Hatte Mary den Zweiten Weltkrieg etwa vorausgeahnt?
Nach Kriegsende 1918 hatte Ludwig eine Stelle als Ausbilder im Werksunterricht der „Glanzstoff“ - die größte Firma im Umkreis für Kunstfaserprodukte - angetreten. Diese Aufgabe war allerdings nicht das, was er sich nach seinem Philosophie-Studium vorgestellt hatte und so sah er seine erneute Einberufung zum Militär als eine Herausforderung, die ihm Abwechslung brachte und auch neue Anerkennungen, mit denen er an seine Auszeichnungen während des Ersten Weltkrieges anknüpfen konnte. Im Mai 1940 hielt Ludwig sich bereits in Bad Orb als Hauptmann mit seiner Kompanie zur Ausbildung auf. Auch sein Sohn Richard hatte sich freiwillig gemeldet und war längst mit seinen Kameraden auf dem Weg nach Finnland.
Vereinzelt kamen die Meldungen von gefallenen Soldaten aus den Nachbarorten. Zu wissen, dass draußen der Kampf tobte, die Männer der Familie bis auf den alten Opapa und den neunzehnjährigen Franzkarl, den Dickel, noch zu Hause waren, machte die plötzliche Ruhe im Haus fast unerträglich.
Ende Mai 1940 meldeten die Nachrichten grandiose Erfolge, wie sie angeblich die Weltgeschichte noch nie erlebt hatte. Else schrieb euphorisch an Lu: Alles wird beseelt von dem einen Manne, der Deutschlands Glück und Hoffnung ist, und wie Du schreibst, die Weltgeschichte gestalten wird.
Franzl, als Kind der kleine Rebell in der Familie, von dem Opapa manchmal kopfschüttelnd sagte: „der Bub ist wie ein kleines Füllen, das um sich schlägt, wenn man ihm zu nah kommt“, wurde in letzter Zeit sehr still. Jetzt, wo auch Edgar, Annemaries Mann, eingezogen worden war und Willi, Liselottes Mann, bei den Luftlandetruppen kämpfte und bereits das Eiserne Kreuz erhalten hatte, fühlte sich auch Franzkarl mitgerissen von der Euphorie, die die Feldpostbriefe ins Haus brachten, war er doch mit seinem Bruder Richard durch ihre gemeinsame Zeit in der Hitlerjugend längst eingestimmt: „Meine Ehre heißt Treue“, klang es begeistert im Chor. „Auch Willi ist ein willensstarker, großartiger Kämpfer!“, rief Else anerkennend aus.
Franzkarl traute sich allerdings noch nicht, der Familie seine Pläne zu offenbaren, da er wusste, seine Schwester Lilo war dagegen. Wie in einer Vorahnung gab sie sich alle Mühe, ihren Bruder zurückzuhalten, sich bei der Luftwaffe zu melden.
Über das Grauen des Krieges, die Leiden der Soldaten, die Erschöpfung, wie sie es aushalten konnten, auf Menschen zu schießen, die Schmerzensschreie der Verwundeten und Sterbenden zu erleben, sprach keiner und auch in den Feldpostbriefen wurde nur von den Heldentaten berichtet. Selbst nach dem Krieg blieb diese Haltung unverändert und somit konnten die Traumata noch lange nicht aufgearbeitet und damit nicht geheilt werden. Aber es gab auch andere Stimmen, wie der Soldat Emil G. in einem authentischen Feldpostbrief am 24.06.41 über die verhungerten Kinder des Warschauer Ghettos schrieb, das er kurz gesehen hatte: Im letzten Krieg brachte das Ausland Bilder von abgehackten Kinderhänden. Und nun dies! Die Wahrheit ist schlimmer, grausamer, viehischer als alle Phantasie.
In der Wochenschau im Kino, zu der Franzl seine Mutter 1941 nach Aschaffenburg begleitete, sahen sie auf großer Leinwand den Einsatz des neuen Vormarsches. Ergriffen äußerte sich Else auf dem Weg zum Bahnhof: „Die Bilder waren so atemberaubend, gleichzeitig grauenvoll, aufregend, beinahe unfassbar und doch so überzeugend glaubhaft.“ Worauf Dickel erstaunt feststellte: „Warum haben unsere Soldaten denn noch keine Kriegsgefangenen?“ Immer noch tief bewegt von den Eindrücken gingen sie schweigend nebeneinander her bis Mutch die Stille unterbrach: „Franzl, meinst du nicht auch, die Leistungen unserer Soldaten grenzen ans Wunderhafte und doch sind bei allem die Opfer nicht allzu groß, man muss es gesehen haben!“ Für Franzkarl war dieser Satz seiner Mutter wie ein Weckruf. Bereits einige Wochen später befand er sich in der Kampffliegerschule Greifswald. Er hatte sich noch im Herbst 1941 freiwillig gemeldet. Was macht die kleine Schmütze (Inge) und Burschi, unser Wölflein (Wolfgang)? Jetzt können sie bald nicht mehr im Freien spielen. Na, unser Haus ist ja groß genug. Heil Hitler, Dein Franzkarl, schrieb er beschwingt an seine liebe Mutch, während er sich auf seinen ersten Flug mit der Messerschmitt freute.
Else begann nun wieder, wie fünfundzwanzig Jahre zuvor während des Ersten Weltkrieges, diesmal mit ihren Töchtern Lilo und Mie, ihren Männern Päckchen mit Lebensmitteln an die Front zu schicken. Die Familie zu Hause kam kaum vom Radio weg, bei jeder neuen Meldung wurde es laut aufgedreht, dass es durch das ganze Haus hallte. Die Zeitungen wurden verschlungen, die Siegesmeldungen verbreiteten eine euphorisches Stimmung und waren so wuchtig und gewaltig, dass keine Zweifel an einem baldigen Sieg aufkommen konnten.
Die Demütigung durch den verlorenen Ersten Weltkrieg gipfelte in Hitlers Versprechen, die er in einstudierten Parolen und Gesten verkündete. Die „Inszenierung von Massenerleben“ traf auf die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, dem Entkommen einer inneren Leere. Die Gesinnung in der Bevölkerung allerdings spaltete sich.
Wie deutsche Konzerne massiv vom Krieg und von Konzentrationslagern profitierten, zeigt das abschreckende Beispiel in einem Artikel des Handelsblattes: Der Konzern, der Hitler den Weltkrieg ermöglichte. Das dunkelste Kapitel der IG-Farben (u. a. Bayer) war wesentlich geprägt durch die Giftgas-Produktion und dem Bau der riesigen Buna-Fabrik mit dem eigenen KZ Auschwitz-Monowitz. Hier ließen Zehntausende KZ-Häftlinge ihr Leben. Was im benachbarten Vernichtungslager Birkenau passierte, dürfte den Verantwortlichen der IG-Farben mit Sicherheit bekannt gewesen sein, zumal das für die Vergasung verwendete Zyklon B von einer Tochterfirma der IG-Farben produziert wurde. Der Konzern lieferte einen entscheidenden Beitrag zum Ausbau des Konzentrationslagers in eine industrialisierte Mordmaschinerie, in der etwa 1 ½ Millionen Menschen umgebracht wurden. […] Es ist die Geschichte von Firmenlenkern, die für den Profit die Ermordung von Zehntausenden Menschen duldeten - ja sogar anordneten. Sie wurden als Kriegsverbrecher (wegen Versklavung und Massenmord) verurteilt. Als sie aber wegen „guter Führung“ schon nach zwei Jahren das Gefängnis verließen, stand die Limousine schon bereit. Sie alle bekamen wieder gute Jobs und trafen sich im Februar 1959 zu einem glanzvollen Wiedersehensbankett […]. H. Bütefisch, SS-Obersturmbannführer (im Freundeskreis H. Himmlers), als Wehrwirtschaftsführer für Auschwitz zuständig und von Hitler mit dem Ritterkreuz dekoriert, bekam in der BRD später das Bundesverdienstkreuz verliehen. Auch der IG-Farben-Manager O. Ambros, Ritterkreuzträger, Schulfreund von H. Himmler und Hauptverantwortlicher für Auschwitz-Monowitz, machte ebenfalls wieder Karriere u. a. beim Contergan-Hersteller. Heute würden sie vom Kriegsverbrechertribunal Den Haag zu lebenslänglich verurteilt.
Das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mussten jedoch Mary und ihre Eltern nicht mehr erleben.
Unser Führer gibt dem Volke doppelte Kräfte, Vertrauen und Stärke. Unsere Soldaten leisten wieder Übermenschliches. Richard ist seit Führers Geburtstag nun wie Franzkarl auch Obergefreiter, schrieb im Mai 1942 Else voller Stolz im Feldpostbrief an ihren Mann. Ihr Bruder Franz befand sich immer noch als Lazarett-Arzt an der Ostfront. Von den Russen wurden Flugblätter abgeworfen, die einige Mutige an sich nahmen, obwohl es unter Androhung der Todesstrafe streng verboten war:
Lesen und weitergeben! Ein neues Hitlerabenteuer gescheitert! Deutsche Soldaten! Hitlers Plan einer blitzartigen Zerschmetterung der Roten Armee ist gescheitert. Nicht allein, dass die deutschen Truppen nicht vorwärts kommen, die Gegenschläge der Roten Armee bringen ihnen gewaltige Verluste bei. Um das Scheitern seiner Pläne vor den Augen der Armee wettzumachen, hat Hitler Luftangriffe auf Moskau und Leningrad angeordnet. […] Wie ist dieses neue Abenteuer ausgegangen? Bisher wurde auf Leningrad keine einzige Bombe abgeworfen. […] Die deutsche Luftwaffe hat über Moskau bereits 150 Flugzeuge und ihre besten Flieger eingebüßt. Das sind die Resultate! Mit einem Fiasko endet jedes neue Abenteuer Hitlers! […] mit der Vernichtung Hitlers und seiner Bande, wird auch dieser ganze sinnlose und hoffnungslose Krieg gegen Sowjetrussland enden! Deutsche Soldaten! Denkt an Euch und Eure Familien! Denkt an das Schicksal Deutschlands, das einem Verbrecher und Abenteurer wie Hitler in die Hände gefallen ist! Macht Schluss mit dem Krieg! Geht über auf die Seite der Roten Armee!
Darunter war eingerahmt zu lesen: Dieses Flugblatt gilt als Passierschein zum Übergang auf die Seite der Roten Armee. Wer allerdings mit einem solchen Passierschein desertierte und dabei von seinen eigenen Leuten erwischt wurde, kam nicht lebend davon. Wie es einem deutschen Soldaten erging, wenn ihm der Übergang zur Roten Armee gelang, bleibt Spekulation.
Um Richard, der nach 50-jährigem Einsatz als Arzt im Spessart seine Tätigkeit aufgeben musste, weil er selber das Nachlassen seiner Kräfte spürte, war es immer stiller geworden. Die Zahl der Freunde, die ihn regelmäßig besuchten, wurde kleiner. Einer der wenigen, der immer noch gerne zu einem Gedankenaustausch bei einem Schoppen Wein vorbeikam, war Valentin Pfeifer. Der über die Landesgrenze bekannte Lehrer und Autor der „Spessartsagen“ sammelte alte Sagen der Region, schrieb sie nieder in seinem Buch und erhält sie damit für die Nachwelt. Valentin machte sich zunehmend Sorgen um seinen alten Kameraden. Doch Richard winkte lachend ab: „So schnell, alter Freund, wirst du nicht an meinem Grab stehen müssen. Es ist noch nie ein Wehsarg unter achtzig gestorben!“
Dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches im Frühjahr 1945, von dem Richard sich als überzeugter Patriot so viel für sein geliebtes Vaterland versprochen hatte, folgte der völlige Rückzug des altgewordenen Doktors aus seiner bereits altersgemäß eingeschränkten Praxistätigkeit.
In ihm – wie in den meisten seiner Generation – lebte die Heimatliebe im Geist der alten Burschenschaften (im Liedtext von Hoffmann von Fallersleben 1839 geschildert) weiter:
Treue Liebe bis zum Grabe
schwör ich dir mit Herz und Hand;
was ich bin und was ich habe,
dank ich dir mein Vaterland!
Nicht in Worten, nur in Liedern
ist mein Herz zum Dank bereit,
mit der Tat will ich’s erwidern
dir in Not, in Kampf und Streit. […]
Die Härten des Krieges, von denen die Bevölkerung zwar auf dem Land in ihrem Alltag weitgehend verschont geblieben war, trafen auch seine Familie grausam. Sein hoffnungsvoller Enkel Franzkarl, der Spaßvogel der Familie, der wie er immer zu einem Scherz aufgelegt war, und den er so gerne um sich hatte, war als Kampfpilot 1944 mit seinem Jagdflugzeug über Le Havre abgeschossen worden. Er selbst hatte die Nachricht entgegengenommen. Bevor er das Bündel, das dem Schreiben an die Eltern, der Sohn sei im Kampf für das Vaterland gefallen, öffnete, nahm er es an sich, um am Abend, wenn Ruhe im Haus eingekehrt war, sich zuerst Lilo anzuvertrauen. Mit zitternden Händen, kein Wort kam über seine Lippen, übergab er ihr die Unterlagen.
Lilo ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken und las:
An die Mutter
Der Tag ist geschwunden,
das Licht weicht der Nacht.
Vor dem Zelt wird ein Feuer entfacht.
Ich schau in die Flamme
und denke an dich.
All‘ was es gibt,
das bist du für mich.
Da taucht mir im Schimmer
dein Bild aus der Glut,
ganz wie du bist, so lieb und so gut.
Es ist so wie früher,
du redest zu mir.
Ich höre dir zu
und bin ganz bei dir.
Die Flamme wird kleiner,
sie ist fast verglimmt.
Ich merke, dass sie dein Bild von mir nimmt.
Nun trennen uns Länder.
Was macht es denn schon,
sind wir doch eins,
du und dein Sohn.
Er hatte das Gedicht auf dem Luftwaffenstützpunkt in Catania auf Sizilien verfasst und nun lag es bei dem Abschiedsbrief, den er, wie alle Soldaten, vor dem Einsatz schreiben musste für den Fall seines Todes. Wie sehr hatte Lilo - in Vorahnung des „Todeskommandos“ - ihren Bruder beschworen, sich nicht für die Luftwaffe, sondern für die Infanterie zu melden. Franzkarl war so jung, so euphorisch und fühlte sich nutzlos, nach dem Abitur nur zu Hause herumzusitzen, während sein jüngerer Bruder, sein Vater, sein Onkel und seine beiden Schwager ihm ein Vorbild waren, weil sie als „Helden im Einsatz für das Vaterland“ ihr Leben riskierten. Alle gutgemeinten Worte der Schwester hatten Franzl von seinem Vorhaben nicht mehr abbringen können. Sein jugendlicher Optimismus hatte alle aufkommenden Zweifel hinweggefegt.