Kitabı oku: «Zwischen Aufbruch und Randale», sayfa 2

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BUTTERFAHRT NACH DÄNEMARK

Im August 1989 gelang meiner Freundin Daniela, damals gerade mal 17 Jahre jung, mithilfe von Freunden aus der ungarischen Subkultur die abenteuerliche Flucht nach Österreich. Nun versuchten wir, gemeinsam in Braunschweig in dieser neuen fremden Welt klarzukommen. Doch wir verstanden das hiesige Denken nicht und genauso ging es den Braunschweigern mit uns wohl auch.

In den bunten Westzeitungen, die es hier überall gab, strahlte uns eine Annonce an: „Butterfahrt nach Dänemark nur 19,99 DM.“ Dazu wurden allerlei Gratis-Geschenke angepriesen. Gepökeltes Eisbein, Wurstbüchsen, eingeschweißte Wurst- und Fleischwaren, eine Handnähmaschine und vieles mehr. Na wenn das nicht eine Chance war, superbillig nach Dänemark zu kommen! Dort wohnte die Olsenbande. Egon Olsen, Benny und Kjield. Dieses grandiose Gaunertrio, das damals die Lachmuskeln aller Kinogänger strapazierte. Die Olsenbande lief überall in der DDR rauf und runter. Doch Dänemark lag damals wie alle Länder des kapitalistischen Auslands in unerreichbarem, verbotenem Gebiet. Wir schauten erst einmal auf einer Westlandkarte nach, wo dieses Dänemark überhaupt liegt. In der Annonce stand ja Transport per Bus und Boot. Es musste also irgendwo am Meer liegen. Unser Vorschlag, zusammen diesen Dänemark-Ausflug zu machen, stieß bei unseren Braunschweiger Bekannten nur auf verständnisloses Kopfschütteln. Wir fragten noch eine Freundin, die auch gerade aus der DDR ausgereist war, die sofort zusagte. Sie fieberte genauso aufgeregt wie wir der Reise nach Dänemark entgegen. An der Bushaltestelle saßen nur sehr alte Omas und Opas. Nicht nur sie, auch die Butterfahrtreiseleiter musterten uns ausgiebig. Drei Jugendliche mit knallbunten Haaren zählten wohl nicht zu ihrem üblichen Kundenkreis. Egal. Wir stiegen ein und saßen nun im vollen Bus Richtung Norden. Volle Pulle dröhnten die angesagtesten Songs der Volksmusik- und Schlagerszene die ganze Fahrt lang in unsere Ohren. Im Bus war eine heitere Stimmung. Die alten Leute sangen und klatschten lautstark mit. Auf der Fähre wehte ein starker Wind. Wir sahen das erste Mal im Leben die raue Nordsee und betraten erstmalig ein fremdes westliches Land und lauschten der fremden Sprache, die sich recht lustig anhörte. Da wir die Olsenbande bestimmt nicht treffen würden, reichte uns das schon. Aber in der Annonce stand ja, es gäbe auch noch allerlei schöne preiswerte Dinge zu kaufen. Der Bus fuhr also von der Fähre, sammelte uns wieder ein und stoppte dann irgendwo im Niemandsland. Dort stand ein Haus. Die Türen wurden aufgeschlossen und alle liefen hinein. Wir drei wurden unauffällig zur Seite gewunken. Dann sagte uns der Reise- oder besser der Verkaufsleiter, dass er uns so einschätzt, dass wir sicherlich kein Interesse an den Waren haben würden, die dort verkauft werden. Aber wir sollen uns ruhig verhalten und nicht stören. Im Gegenzug bekämen wir eine Flasche Rotwein, die wir während der Verkaufsveranstaltung trinken dürfen. Wenn sie alle ist, sollten wir uns melden, dann bekämen wir eine neue. Wir sollten einfach nur nicht stören. Da wir ja nicht mal wussten, was uns hier überhaupt erwartet, willigten wir ein und freuten uns auf den Gratis-West-Rotwein. Wir nahmen an unserem Tisch Platz und gaben beim Hinsetzen noch zum Besten, dass wir frisch aus der Ostzone kämen. Das war wohl ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Die Türen wurden verschlossen und schon ging es los. Erst bekamen alle die versprochenen Geschenke. Dann wurde eine Lammfell- und Lama-Decke nach der anderen präsentiert. Scheuermittel und schweineteure Kochtöpfe. Da aber die Rentner keine Lust verspürten, die völlig überteuerten Waren zu kaufen, wurde immer mal wieder auf uns verwiesen. „Die armen Brüder und Schwestern in der Ostzone würden sich freuen, so etwas Schönes kaufen zu können.“ Alle Köpfe drehten sich nach uns um. Mitleidige Blicke wurden uns zugeworfen. „Und ihr verschmäht dieses schöne Warenangebot“, fuhr der Verkäufer fort. Immer wieder wurde auf die Kosten für die schöne Butterfahrt, die Freigetränke und die Geschenke hingewiesen. „Das bezahlt sich doch nicht von alleine!“ Unsere erste Rotweinflasche war inzwischen leer. Leicht angeschwipst forderten wir eine neue. Der Veranstalter brachte diese eilig. Wir öffneten sie und schauten weiter der surrealen West-Verkaufsshow zu. Das war für uns wie Westfernsehen, nur eben live. Da immer noch niemand etwas kaufen wollte, wurde nun der „Schwede“ herangeholt. Dieser war ein blonder, hochgewachsener muskulöser Typ, der extrem gewalttätig aussah und den man in einen Anzug gepfercht hatte. „Geizig! Geizig!“, brüllte er die alten Leute an. Dazu stülpte er das Innere seiner Hosentaschen nach außen und ging auf jede Oma und jeden Opa persönlich zu. „Geizig! Geizig!“, schrie er jeden Einzelnen an und schaute dabei so finster drein, dass wir uns wirklich wie in einem B-Movie-Thriller fühlten. Der Bösewicht war live vor Ort. Nun bekamen die Ersten Angst und kauften einige von den überteuerten Scheuermitteln. Ich befürchtete, dass er gleich dem ersten Rentner eine reinhaut. Hinter ihm wurden wieder die extrem teuren Lamm- und Lama-Decken präsentiert. Doch keiner wollte sie kaufen. „Geizig! Geizig!“, schrie tobend der „Schwede“. So nach und nach kaufte fast jeder außer uns eine Flasche Scheuermittel, um seine Ruhe zu haben. Eine Oma, die schon seit einiger Zeit Röchelgeräusche von sich gab, meldete sich. Sie fragte, ob sie etwas sagen dürfe. „Nein! Erst wird gekauft!“ Eine weitere Oma meldete sich und sagte schüchtern, dass die alte Frau Blutdruckprobleme hätte. Sie müsste an die frische Luft. „Nein, erst wird gekauft!“ „Geizig! Geizig!“, schrie der Schwede dazwischen. Als die alte Dame nach Luft hechelte und kurz vorm Kollabieren war, durfte sie endlich von ihrer Freundin herausgebracht werden. Auch der „Schwede“ und der Verkäufer standen kurz vorm Herzinfarkt. Knallrot im Gesicht, stinksauer darüber, dass niemand etwas Teureres kaufte als die überteuerten Scheuermittel, gaben sie schließlich auf und beendeten die Veranstaltung. Für uns war das ganz großes Kino. Wir hatten Gänsehaut und waren inzwischen schon mächtig beschwipst. Die Türen wurden aufgeschlossen und die Rentnerreisegruppe lief eingeschüchtert zum Bus. Wir torkelten hinterher. Beladen mit noch einer Flasche Wein und den Gratis-Geschenken. Gepökeltes Eisbein, Wurstbüchsen, eingeschweißte Wurst- und Fleischwaren, eine Handnähmaschine und noch viel mehr. Mit Bus und Fähre ging es zurück nach Braunschweig.

Daniela und Geralf im Sommer 1989 in Ungarn im Keleti pályaudvar — der Gedanke an Flucht keimt auf.


Butterfahrt nach Dänemark — Geralf und Daniela

Wieder angekommen in unserer WG, in die wir gerade eingezogen waren, packten wir alles Essbare in den Gemeinschaftskühlschrank, der vor lauter gepökelten Eisbeinen und Wurst und Fleischwaren aller Art fast aus den Nähten platzte. Als unsere Mitbewohner nach Hause kamen, wollten wir gleich mit ihnen zusammen unsere Speisen essen. Doch sie waren vor uns am Kühlschrank. Es folgte ein Entsetzensschrei. Was denn das für fürchterliche Sachen in ihrem Kühlschrank wären. Das müsste sofort alles raus. Sofort! Wir waren verwirrt. Das schöne Westessen. Warum sollte es raus? Wir mussten wieder dazulernen. In der BRD gab es Menschen, die als Vegetarier lebten. So etwas kannten wir aus der DDR nicht. Wie sollte man sich denn bitteschön von Weißkraut und Rotkraut, welches das einzige Gemüse war, das es in der DDR immer gab, ernähren? Auch Obst gab es ja so gut wie nicht zu kaufen. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Nicht dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass es im Westen möglich war, sich vegetarisch zu ernähren, bei diesem riesigen Warenangebot. Uns verwunderte, dass nicht toleriert wurde, dass wir unser Fleisch im Gemeinschaftskühlschrank lagerten. Nach langer Diskussion gaben wir auf. Wir nahmen die gepökelten Eisbeine und alle Wurst- und Fleischwaren aus dem Kühlschrank und versuchten, sie zu essen. Das meiste davon war fürchterlich und die gepökelten Eisbeine schmeckten wie gesalzenes Leder. Essen konnte man das auf die Schnelle nicht. Lagern konnte man das Fleisch ohne Kühlschrank aber auch nicht. So wurden wir zum ersten Mal Teil der westlichen Wegwerfgesellschaft und schmissen alles in den Mülleimer.

Nach der Flucht: „Große Freiheit“ 1989


Sturm auf der Fähre nach Dänemark

Die Fähre nach England bei Calais

WIE WIR DEM SHAM-69-SÄNGER JIMMY PURSEY BEGEGNETEN

Begierig danach, fremde Länder kennenzulernen, begannen wir auf der Landkarte auszukundschaften, wo die auf DDR-Landkarten nur grau dargestellten Staaten lagen. Rot waren alle Länder des sozialistischen Weltsystems. Grau der Rest. Grau und ohne viel Beschriftungen. Als nächstes wollten wir nach Frankreich. Französischer Punkrock lief in der Ostpunkszene rauf und runter. Ludwig von 88 und Bérurier Noir fehlten bei keiner Party. Auch kannten wir alle Filme mit Louis de Funès. Diese liefen jeden Sommer in den Zeltkinos am Ostseestrand. Das waren genug Gründe, dieses Land zu besuchen. Doch wo lag das besagte Frankreich? Zu DDR-Zeiten waren der Mond, Kolumbien, Kenia, USA, Indien oder Frankreich in etwa dasselbe für uns. Alles unerreichbar. In der Schule lernten wir praktisch nichts über die grauen Gebiete. Nur dass dort die Menschen arm sind und von den Kapitalisten ausgebeutet werden. Und dass die Kinder außerhalb des sozialistischen Staatensystems fast alle hungerten.

Zu unserem Erstaunen grenzte Frankreich direkt an die BRD. Wir schnappten unsere Schlafsäcke und stellten uns an die Autobahn. Den Daumen hoch und schon saßen wir in einem teuren Westgefährt. Der Fahrer stellte seinen Tempomat auf 220 km/h. Ununterbrochen bremste das Fahrzeug ab. Nur den Anschnallgurten war es zu verdanken, dass wir nicht durch das Auto flogen. Er schimpfte wie ein Rohrspatz auf die Autofahrer, die es wagten, nur 120–180 km/h auf der Überholspur zu fahren. „Dich zeige ich an, du Arschloch! Wer hat dir denn das Autofahren beigebracht?“ Währenddessen schrieb er sich einhändig die Nummernschilder besagter Wagen auf. Uns wurde angst und bange! An einer Raststätte irgendwo im tiefsten Westen ließ er uns schließlich raus. Uns war kotzübel. Während wir nach Luft schnappten, kam ein bunter Kleinbus auf die Raststätte gefahren. Aus ihm stiegen einige Punks. Wir gingen sofort auf einen zu und fragten, ob sie uns mitnehmen könnten. Der nette ältere Punk antwortete irgendwas auf Englisch. Diese Sprache war für Ostdeutsche genauso fremd wie Chinesisch. In der DDR war Russisch das Sprach-Pflichtfach. Der Punk nuschelte irgendetwas und wir filterten die Namen Sham 69 und Jimmy Pursey aus dem Kauderwelsch heraus. „Ah, ihr fahrt zum Sham-69-Konzert. Könnt ihr uns mitnehmen?“, fragten wir. „No, we are Sham 69. I’m Jimmy Pursey“, antwortete er. Wir verstanden nichts, waren uns aber sicher, dass diese Punks mit ihrem Kleinbus zu einem Sham-69-Konzert fahren würden. Wir erklärten, dass wir frisch aus der DDR kamen. Das verstand einer der englischen Punks und horchte interessiert auf. Nach weiteren zehn Minuten des Erklärungsversuchs bezüglich ihrer Identität ging der ältere Punk zum Kleinbus. Er kam mit zwei Sham-69-T-Shirts in der Hand zurück. Dann drückte er uns lächelnd die Kleidungsstücke in die Hand und zeigte auf sich: „I’m Jimmy Pursey.“ Dann wies er auf die restlichen Punks aus dem Kleinbus. „We are Sham 69.“ Nun verstanden wir es. Wir standen vor der Kultband Sham 69 aus England. Wahnsinn! Anfang der 80er hatte ich die ersten Songs von Sham 69 bei der John-Peel-Session im britischen Radio mitgeschnitten. Nun standen wir vor dieser Band. Der Kleinbus war voll. Aber Jimmy Pursey lud uns nach England ein. Zu einem Festival, auf dem sie spielten. Er schrieb eine Adresse auf. Wir könnten bei ihm wohnen. Der Bus fuhr weiter und wir blieben zurück mit unseren Sham-69-T-Shirts in der Hand und neuen Plänen im Kopf. Wir fahren nach Großbritannien! Zu unserem ersten britischen Punkfestival und zu Jimmy Pursey. Wahnsinn! Wo liegt denn eigentlich England? Wir fanden heraus, dass es gleich an Frankreich grenzt. Na klar. Der französische Freibeuter Robert Surcouf, der „Tiger der sieben Meere“, hatte in meiner Kindheit in der Fernsehserie Das Wappen von Saint Malo ja immer auf hoher See mit den Engländern gekämpft.

Frankreich 1989


Am Strand in Calais


Geralf 1989 mit Jimmy Purseys Sham-69-T-Shirt

Wir trampten nach Calais. Dort gab es eine neue Hürde. Das Meer versperrte den direkten Weg nach Großbritannien. Aber von hier fuhr eine Fähre. Wir waren unserem Ziel verdammt nah. Doch die Fährtickets waren für uns unerschwinglich. Unser Geld reichte einfach nicht. Wir schliefen mehrere Nächte in Calais am Strand und hofften auf irgendeine glückliche Fügung. Doch es fügte sich nichts. Unser Geld reichte nicht. Traurig gaben wir auf und trampten irgendwann zurück nach Braunschweig. Aber wenigstens hatten wir Frankreich gesehen. Und wir hatten Schätze im Gepäck. Zwei Sham-69-T-Shirts und die Adresse von Jimmy Pursey.

DAS IST UNSER HAUS – WOHNRAUMBESCHAFFUNG IN WESTBERLIN

Da wir das Leben in Braunschweig nach kürzester Zeit satthatten, planten wir nach Westberlin zu ziehen. Dort lebten inzwischen Hunderte Ex-DDR-Punks. Eine riesige Ostsubkultur-Gemeinde. Als minderjährige, 17-jährige Republikflüchtige und deren Fluchthelfer durften wir nicht die Transitstrecke durch die DDR benutzen. Wir wären sofort verhaftet worden. Somit gab es nur eine Möglichkeit, die Mauerstadt zu erreichen. Wir mussten fliegen. Als wir in Westberlin aus dem Flugzeug stiegen, hatten wir keinen blassen Schimmer, wo wir wohnen könnten. Aber auch hier halfen sich die vielen Exil-DDR-Punks untereinander. Anmelden konnten wir uns beim AG-Mauerstein-Akteur Igor und seiner Frau Jeanette, die dort inzwischen eine Wohnung besaßen. Laut Einwohnermeldeamt wohnten dort inzwischen Unmengen von ausgereisten DDR-Bürgern. Susi B. aus Halle (Saale) bezog gerade eine winzige Wohnung in Moabit. Dort konnten wir für kurze Zeit zwischen Farbdosen und sonstigen Malerutensilien unterkommen. Doch wo wollten wir danach wohnen? Da sahen wir in den Nachrichten einen Bericht über eine gerade vollzogene Hausbesetzung in Westberlin. Die Hochhäuser des Schwesternwohnheims des Rudolf-Virchow-Universitätsklinikums in der Sylter Straße. Die Besetzer sagten in der Sendung, es wäre noch viel Platz für weitere Besetzer. Mucksmäuschenstill hörten wir ihnen zu und dann war uns sofort klar: Das ist es!

Das besetzte Haus in der Sylter Straße

Am nächsten Tag nahmen wir unser spärliches Hab und Gut, das in zwei kleine Rucksäcke passte, und suchten diese Gebäude auf. Es kribbelte im Bauch. Sieben Jahre nach meiner stillen Besetzung in Halle (Saale) stand ich nun kurz davor, Hausbesetzer in Westberlin zu werden. Und das nicht still und heimlich wie im Osten üblich, um nicht aufzufallen, sondern laut. Mit Transparenten und viel Tamtam. Alle Balkons waren zu Spruchbändern umfunktioniert worden. Auf ihnen wurde mehr bezahlbarer Wohnraum gefordert. Auch alle möglichen politischen Ziele waren dort zu lesen. Das interessierte uns damals nicht. Wir suchten einfach nur einen Platz zum Wohnen. Und das mit viel Kontakt zur Subkultur. Hier waren wir richtig. Es traf noch ein weiterer Ex-DDR-Punk aus Eisenach ein. Etliche Wohnungen im Hochhaus standen noch leer. Wir besetzten eine ganze Etage. Ich glaube, es war die fünfte. Das war nun die Etage der Ostler.

Wir bleiben drin!

Während wir nur wohnen und Spaß haben wollten, hatten die Westberliner Besetzer etwas Größeres vor Augen. Sie hatten vielerlei politische Ziele und hielten ununterbrochen Versammlungen ab. Diese nannten sie Plenum. So was kannten wir aus der DDR-Subkultur überhaupt nicht. Es wurde diskutiert und diskutiert und diskutiert. Ab und zu wurde über etwas abgestimmt und dann wieder diskutiert. Wir verstanden kaum ein Wort. Wir verstanden auch nicht, dass sich alle hier vom Staat so extrem eingeengt fühlten. Für uns war es, im Gegensatz zum Leben in der DDR, die totale Freiheit. Ein Hochhaus zu besetzen, Transparente mit Sprüchen drauf, für jeden lesbar, anzubringen. Das alles hätte in der DDR unweigerlich zu langjährigen Haftstrafen für alle Beteiligten geführt. Wir Ostler versuchten, auf den Plena immer wieder unsere, ganz andere, Sichtweise rüberzubringen. Aber keiner verstand uns. Wir waren für die Westberliner Hausbesetzer irgendwie Ost-Exoten, die keine Ahnung von der Welt hatten. Ostdeutsch und Westdeutsch waren hier zwei total verschiedene Sprachen. Nach und nach zogen wir uns von den zahlreichen Plenumstreffen zurück und genossen unsere neu gewonnene Freiheit. Massig Wohnraum in einem besetzten Hochhaus in Westberlin. Was wollten wir mehr?!


Nach der Räumung

Doch das neue Wohnraumglück währte nicht lange. Mitten in der Nacht wurden wir von unseren Mitbewohnern unsanft geweckt. „Die Bullen kommen! Sie räumen! Wir müssen uns wehren! Wir müssen das Haus bis zuletzt verteidigen!“ Wir schauten schlaftrunken aus dem Fenster. Unzählige Polizisten in voller Montur mit Helm, Gummiknüppel und Schutzkleidung hatten das Haus umstellt. Wasserwerfer und sogar ein Räumpanzer standen bereit. Ein Stechen durchzuckte meinen Magen. Das sieht nicht gut aus. Einen Kampf konnten wir angesichts dieser Übermacht nicht gewinnen. Die Besetzer legten die Fahrstühle still. Das Treppenhaus wurde von unten bis zur sechsten Etage verbarrikadiert. Die Polizei versuchte daraufhin, in das total verrammelte Haus mithilfe von Gewalt einzudringen. Die Besetzer fingen an, Gegenstände aus den oberen Etagen auf die Polizeibeamten zu werfen. Ich bekam mehr und mehr Angst. Inzwischen flogen auch Einrichtungsgegenstände, Schränke und Kühlschränke aus den Fenstern. Die Polizei versuchte, die verbarrikadierte Tür mit dem Räumpanzer einzudrücken. Wir Ostler waren vollkommen überfordert mit dieser krassen Form der Gewalt. Das war wie im Krieg! Mit den Gewalterfahrungen der DDR-Volkspolizei gegen Andersdenkende im Hinterkopf hatte ich nur noch einen einzigen Gedanken: „Wenn die Polizei hier reinkommt, schlagen die uns tot!“ Es gelang ihnen, ins Haus einzudringen. Stundenlang versuchten sie, von Etage zu Etage bis zu uns Besetzern vorzudringen. Die Barrikaden und Wurfgeschosse konnten das Ganze nur verzögern, nicht aber aufhalten.

Es war inzwischen schon Mittag und unten vor dem Haus hatten sich etwa 1.000 Befürworter der Besetzung zu einer Unterstützerdemonstration versammelt. Nun hatte die Polizei an zwei Fronten zu kämpfen. Immer mehr Polizei-Verstärkung traf ein. Auch die Demonstranten wurden immer mehr und immer aggressiver. Wir hatten uns inzwischen in das oberste Stockwerk zurückgezogen. Wir hörten die Polizei, die mit schwerem Räumgerät Treppenstufe für Treppenstufe erkämpfte und immer näher kam. Wir hatten fürchterliche Angst. Ich fühlte mich wie in einer Hinrichtungszelle. Auch in dieser Situation gab es ein weiteres Plenum. Es wurde beschlossen, dass alle auf das Dach steigen. Dort sollten wir eine Menschenkette um den Rand des Daches bilden. Alle sollten sich anfassen und der Polizei drohen, dass wir gemeinsam in den Tod springen, wenn die Räumung nicht sofort beendet würde. Das war zu viel. Wir drei Ostdeutschen legten Veto ein. Egal, was die anderen machten, wir würden nicht mit auf das Dach klettern und unser Leben aufs Spiel setzen. Wir waren froh, im Westen gelandet zu sein. Dafür hatten wir lange gekämpft. Wir kannten das Leben in einer Diktatur. Wir waren froh über die Möglichkeiten, die uns der Westen bot. Da springen wir doch nicht vom Hochhaus, um als Märtyrer zu sterben. Ob es nun in unseren Augen gerecht oder ungerecht war, dass das Haus geräumt wurde, spielte in diesem Moment keine Rolle. Die Westberliner Besetzer versuchten, uns zu überzeugen, dass wir doch zusammenhalten müssten. Und das ginge nur, wenn wir alle auf das Dach klettern würden. Wir drei Ostler weigerten uns beharrlich. Man hielt uns nun zwar für komplett verrückt, feige und unsolidarisch, aber da mussten wir durch. Wir wollten sehen, was uns das neue Leben in der unbekannten Gesellschaft noch bringt und nicht auf das Dach klettern und gemeinschaftlich runterspringen. Selbst wenn das nur als Drohung geplant war. Sobald einer die Nerven verliert, stolpert, fällt oder springt, fallen alle hinterher.

Wir beschlossen, uns in dem Raum, in dem wir saßen, einzuschließen. Bis die Polizei uns räumt. Wir bekamen noch Anweisungen, wie wir uns besonders schwer machen können, wenn sie uns raustragen, und wie man die Fingerabdrücke bei der erkennungsdienstlichen Behandlung verwischt. Die Polizei kam immer näher. Wir sangen gemeinschaftlich Ton-Steine-Scherben-Lieder: „Das ist unser Haus …“ Doch der Kampf war schon lange entschieden. Polternd schlugen sie mit schwerem Räumgerät an die letzte verbliebene Tür, „… uns kriegt ihr hier nicht raus …“. Mit einem lauten Knall zerbrach die Tür in 1.000 Stücke. In voller Panzerung drang die Polizei in unser letztes Rückzugsgebiet ein. Wir hatten uns alle gegenseitig eingehakt. Die wütenden Beamten gingen nicht gerade zimperlich mit uns um. Einer nach dem anderen wurde aus dem Raum getragen. Ängstlich saß ich im Polizeiwagen und erwartete nun U-Haft und einen Gerichtsprozess. Doch nach nur einer Stunde war ich wieder frei. Nicht mal die Finderabdrücke hatte man mir abgenommen. Es gab auch Besetzer, die länger verhört wurden, aber nach ein paar Stunden waren alle wieder frei. Die Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs wurden alle nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Der Westen tickte wirklich anders!

Daniela und Geralf mit Hausbesetzertranspi

Grenzüberschreitung — Der wilde Osten stürmt den Westen (Fotomontage)

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