Kitabı oku: «Zwischen Aufbruch und Randale», sayfa 3

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DER FALL DER MAUER

Kurz vor unserer „Übersiedlung“ nach Westberlin trampten Daniela und ich im Herbst 1989 nach Venedig. Wir wollten noch einmal in den Süden, ins Warme. Uns war bewusst, dass, erst einmal in der Mauerstadt angekommen, Reisen für uns nicht mehr möglich sein würden. Die Transitstrecken durch die DDR durfte ich als Fluchthelfer nicht mehr befahren, Daniela als Republikflüchtige sowieso nicht. Also machten wir uns ein letztes Mal von Braunschweig aus auf den Weg.

Dass der Brennerpass auf unserer Reiseroute lag, wussten wir vorher nicht. In 1370 Metern Höhe verbrachten wir unsere erste Nacht im Freien. Es herrschten Minusgrade und wir froren, aber im Dunkeln konnten wir nicht weitertrampen. Am nächsten Tag nahm uns dann ein Alt-Hippie mit. Die ganze Zeit über fuhr er nie schneller als 50 km/h. Und er fluchte über jeden einzelnen, der ihn überholte. Und es überholten alle!

Als wir in Venedig ankamen, lernten wir einen Punk kennen. Wir fragten ihn nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Er lud uns zu sich ein. Es gibt also doch Zusammenhalt im Westen. Vor einem Bankgebäude deutete er an, dass wir unser Ziel erreicht hätten. Verwundert sahen Daniela und ich uns an. Wir verstanden nur Bahnhof. Er zeigte auf einen Lüftungsschacht, aus dem warme Luft kam. Dann holte er aus einem Versteck einen keimigen Schlafsack hervor und legte sich damit an das Schachtgitter. Nun verstanden wir. Er war obdachlos und bot uns an, in seiner Nähe zu schlafen. So was kannten wir Ex-Ossis nicht. In der DDR lebten alle Punks und andere Aussteiger entweder in still besetzten Wohnungen bzw. Häusern oder noch bei ihren Eltern. Manche hatten auch legale Wohnungen, die sie über die verschiedensten Tricks ergattert hatten, denn auf normalem Weg war es ausgeschlossen, an eine Wohnung zu kommen. Zehn Jahre und mehr dauerten die Wartezeiten. Wer bei seinen Eltern rauswollte, wurde von anderen Punks aufgenommen, bis er selbst eine Bleibe fand. Obdachlosigkeit gab es in der subkulturellen Szene damals nicht. Wir waren geschockt, und wenig begeistert suchten wir uns eine eigene Schlafstätte unter freiem Himmel.

Venedig war für uns sehr exotisch. Die Bauten, die Kanäle mit den Gondeln und der überfüllte Markusplatz. Abgelegen vom Touristenrummel fanden wir die verfallenen Gassen, die in dem ungewöhnlichen Grusel-Thriller Wenn die Gondeln Trauer tragen und Klaus Kinskis Nosferatu in Venedig als Filmkulisse dienten.

An einem Zeitungsladen sahen wir plötzlich Leipzig und Halle (Saale) auf dem Titelblatt. Was da stand, war für uns nicht verständlich, aber die Bilder sprachen für sich. Riesige demonstrierende Menschenmassen mit Plakaten in den Händen, auf denen Reformen und Demokratie gefordert wurden. Wir konnten es kaum glauben. In einer Kneipe lief ein Fernseher. Auch dort dieselben Bilder. In der DDR brodelte es. Und besonders in Leipzig und Halle (Saale). Auch wenn wir nichts verstanden, erkannten wir die Orte sofort, an denen sich diese Ereignisse abspielten.

Geralf auf dem Markusplatz in Venedig


Am Schauplatz des Films „Wenn die Gondeln Trauer tragen“


Oktober 1989 — Trampen nach Venedig

Als wir wieder zurück in Westberlin waren, verfolgten wir jede Meldung über die Montagsdemonstrationen, über die Reformbewegung, über die Massenausreisen. „Wenn es jetzt so in der DDR zugeht, werden die bald Waffen einsetzen. Die Reformbewegung wird blutig niedergeschlagen. Wie in Peking“, dachte ich damals. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4.6.1989 verurteilte fast die ganze Welt die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung. Nur wenige Länder, darunter die DDR und die Sozialistische Republik Rumänien mit ihrem Diktator Nicolae Ceauşescu, gratulierten China. Das Politbüro der SED entwarf eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der „konterrevolutionären Unruhen“ bekannt gab.

Die Nachricht an die DDR-Bevölkerung war klar. Wenn es hier zu einer ähnlichen Demokratie-Massenbewegung kommt, wird diese mit Gewalt niedergeschlagen.

Seit der Flucht Danielas waren wir auch im Westen auf der Hut vor der Staatssicherheit. Und auch auf der Hut vor den BRD-Beamten. Daniela war minderjährige Republikflüchtige, ich ihr Fluchthelfer. Auf einem Amt hatte man mir erklärt, dass geflüchtete Jugendliche unter 18 Jahren wieder in die DDR abgeschoben werden. Also haben wir einfach das Geburtsdatum von Daniela geändert, sodass sie offiziell volljährig war. Doch wir waren trotzdem vorsichtig und meldeten sie nirgendwo an.

Wir hatten solch eine Angst, dass die Staatssicherheit herausbekommt, wo wir uns aufhielten, dass wir falsche Spuren legten. Ein Telegramm aus Amsterdam: „Wir wohnen jetzt hier. Uns geht es gut. Liebe Grüße…“. Eine Postkarte aus Venedig: „Leben jetzt in Italien…“. Solche Mitteilungen schickten wir aus dem Ausland an unsere Verwandten. Wohlwissend: Die Staatssicherheit liest mit. Der DDR-Geheimdienst sollte nicht herausfinden, wo wir uns wirklich aufhielten. Wir hatten paranoide Angst davor, dass Daniela entführt und zurück in den Osten gebracht werden könnte. Dass diese Gefahr real war, erkannte ich später, als ich die Graphic Novel Todesstreifen: Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989 der beiden Hallenser Dirk Mecklenbeck und Raik Adam las. Selbige, auch in der Hallenser Subkultur großgeworden, wurden von der Stasi verfolgt und waren schließlich nach Westberlin ausgereist. In der Graphic Novel schildern sie ihre Aktionen mit Transparenten und Molotowcocktail-Anschlägen gegen die verhasste Mauer. Ein Fakt bescherte mir besondere Gänsehaut: Sie wurden tatsächlich von einem eingeschleusten IM der Staatssicherheit in Westberlin beobachtet und ausspioniert.

Wer weiß, wie alles ausgegangen wäre, wenn es nicht die unvorhersehbaren Ereignisse am 9.11.1989 gegeben hätte. An diesem Tag besuchte uns Danielas Oma, die als Rentnerin in den Westen reisen durfte. Sie sah ihre Enkelin zum ersten Mal seit der dramatischen Flucht über Ungarn im August 1989 wieder. Wir brachten die Oma zur Grenze. In Ostberlin warteten Danielas Eltern. Diese durften nicht über die Mauer, um ihre Tochter zu sehen zu. Sie nahmen die Rentnerin in Empfang und fuhren wieder zurück nach Halle (Saale). Dort wurden sie von Freunden mit den Worten empfangen: „Die Mauer ist offen!“ – „Quatsch, wir kommen ja gerade von da. Da ist alles wie immer.“

Etwa zur gleichen Zeit erreichte uns aus dem Fernsehen dieselbe Nachricht. Auch wir nahmen das erst nicht für voll. Die Mauer offen? Was für ein Unsinn! Die Mauer wird nicht nur noch 100 Jahre bestehen, sondern ist für die Ewigkeit. Das war unsere feste Meinung. Doch die Nachrichtenflut nahm nicht ab. Ungläubig machten wir uns auf den Weg zur Mauer. Wir wohnten nicht weit entfernt. Und tatsächlich, das Betonungetüm hatte ein Loch bekommen. Massen von Ostberlinern strömten hindurch. Auf der Mauer standen unzählige Menschen. Grenzbeamte versuchten, für Ordnung zu sorgen. Immer wieder holten sie einige Personen vom sogenannten Antifaschistischen Schutzwall. Doch der so entstandene Freiraum wurde sofort von neuen Menschen aus Ost und West gefüllt. „Das muss ein Trick sein“, ging es mir durch den Kopf. Die lassen alle, die rüber wollen, raus und machen dann die Mauer wieder dicht. Eine Reise ohne Rückfahrschein! Genau wie bei mir. So wird man alle unliebsamen DDR-Bürger auf einen Schlag los. Und dann errichten die eine noch viel schlimmere Diktatur. Noch viel repressiver. Ohne irgendeinen kleinen Freiraum. Ohne irgendeine Chance auf Mitspracherecht für Bürger. Ohne eine Opposition. Ohne eine Subkultur.

Dirk, Daniela und Geralf auf einem DDRGrenzwachturm 1990


10. Nov. 1989 — die ersten Hallenser Freunde haben die Mauer durchdrungen


Geralf und Dirk im Mauerturm 1990


10. November 1989 — wir feiern mit Hallenser Freunden den Mauerfall

Geralf im Oktober 1989 bei einer Demonstration gegen die Mauer in Westberlin


Die Mauer bekommt Löcher


Wut auf die Mauer


9. November 1989


Geralf als Mauerspecht


Daniela als Mauerspecht

Doch die Mauer blieb auf. Am nächsten Tag trafen die ersten Freunde aus Halle (Saale) bei uns ein. Die Freude war groß. Wir feierten an der Mauer. Mit spritzenden Sektpullen. Zusammen mit Tausenden anderen. Glauben konnte ich es immer noch nicht. Doch die Löcher, die mit Hämmern aus der Mauer geschlagen wurden, sprachen eine eigene Sprache. Die Grenze war offen. Es wird eine neue, bessere, reformierte DDR geben. Eine DDR mit offenen Grenzen. Eine DDR, in der das Volk Mitspracherecht hat. Eine demokratische DDR. Dass es bald eine Wiedervereinigung Deutschlands geben würde, das lag weit jeglicher Vorstellungskraft. Für Menschen in meinem Alter gab es auf deutschem Boden schon immer zwei Länder. Die BRD und die DDR. Alles andere kannten wir nur vom Hörensagen.

In den folgenden Monaten waren wir fast täglich in Ostberlin. Wir besuchten unsere Freunde und feierten in der Friedrichshainer- und Prenzlauer-Berg-Subkulturszene viele Partys. Es gab immer noch die Ost- und die West-Mark. Für eine West-Mark bekam man auf dem Schwarzmarkt acht bis zehn DDR-Mark. Für zehn DDR-Mark konnte man in den Gaststätten der DDR zwei Mittagessen inklusive Getränke bestellen. Somit liefen wir fast jeden Tag über die Oberbaumbrücke zum Essen in die DDR-HO-Gaststätten. Die unfreundlichen Kellner und die bescheuerten „Sie-werden-platziert“-Schilder auf allen Tischen nahmen wir nun lächelnd gerne in Kauf. Auch unsere täglichen Einkäufe erledigten wir nun wieder in den DDR-Kaufhallen, während sich die Ostdeutschen im Aldi, Penny oder bei Bolle drängten und sich mit Westberlinern darüber stritten, ob die unsinnige „Rundgangnur-mit-Korb“-DDR-Regel auch hier gelte. In Westberlin gab es nun Schlangen wie früher im Osten üblich. Einige Einkaufsketten und Läden stellten Securitys ein, um die Zahl der Einkäufer, die gleichzeitig in die Läden wollten, zu begrenzen. In den Kaufhallen in Ostberlin mit ihren Ostprodukten dagegen gab es nun keine Schlangen mehr an den Kassen.

Die Mauer verschwand zusehends. Überall hämmerten Souvenirjäger und pfiffige Händler Stücke aus der Mauer. Auch wir hämmerten weiter. Nicht nur um so unsere Verachtung für dieses unmenschliche Bauwerk auszudrücken. Es gab noch einen anderen Grund. Der eigentliche Mieter unserer Wohnung, ein 1984 aus der DDR ausgereister Ex-Punk, reiste in dieser Zeit um die Welt. Er war gerade in Australien und wollte so viele Mauerstücke, wie wir nur schicken konnten. Diese verkaufte er dort teuer und konnte seine weitere Reise finanzieren. So kam es, dass Teile der Mauer doch noch zu etwas Gutem verwendet werden konnten und wir die schweren Pakete mit asbestverseuchten, bunten Steinen quer durch die Welt bis nach Australien schickten.

PASST BLOß AUF! SAALEPOWER!


1990 besuchte ich das erste Mal seit der Ausreise aus der DDR meine Heimatstadt Halle (Saale). Es hatte sich viel verändert. Die Subkulturszene war explosionsartig angewachsen. Punks, Gruftis, Depeche-Mode-Fans, Hippies und Heavy-Metaller waren keine Seltenheit mehr. Und es gab nun auch in der Saalestadt Häuser, die richtig besetzt waren.

Es eröffnete eine Szenekneipe nach der anderen. Legal oder illegal, das war in dieser Zeit wirklich scheißegal. NÖÖ (Haus der Demokratie/Reformhaus), Zwöö, Fusch, KaffeeSchuppen, Bolldorf, Brock, Röderberg, Jägergasse, Surprise, um nur einige zu nennen. Und auch das alternative Objekt 5 wurde immer weiter ausgebaut. Es wurden mehr und mehr Häuser besetzt. Am Reileck, in der Windthorststraße, in der Thüringer Straße, in der Reilstraße, am Jägerplatz, in der Emil-Abderhalden-Straße, Beesener Straße, Körnerstraße, zwei in der Kellnerstraße und und und…

Irgendwann fingen die Hallenser an, extra für Partys Häuser zu besetzen. Eine Villa am Neuwerk war ideal. In dieser fand die erste „Villakonfiszierungsparty“ statt. Etwa 400 Punks und Alternative erschienen allein durch Mundpropaganda. Flyer oder Plakate gab es nicht. Soweit ich mich erinnern kann, spielten unter anderem Müllstation, N.F.P. und KVD. N.F.P. hatten hier den kürzesten Auftritt ihrer Bandgeschichte. Einer der Musiker fiel etwas angetrunken in die Anlage, direkt neben den Techniker. Hit des Abends wurde die Hallenser-Dialekt-Endlos-Party-Punk-Version „Keene Klääche haben mir“ (zu Hochdeutsch: „Keine Arbeit haben wir“) von der eben neu gegründeten Band Klabusterbären.

Mit meinen alten Freunden traf ich mich damals meist im AfA (auch Antifa – später in GiG umbenannt) in der Reilstraße, das besetzte Haus der alten DDR-Punkszene. Im AfA war immer was los. Jeden Tag Partys, Punkdiskos oder Konzerte. Als die Toten Hosen 1990 in der Hallenser Easy Schorre spielten, kamen sie nach ihrem Auftritt mit ins besetzte Haus. Dort spielten sie noch einmal ihr ganzes Set und feierten mit uns die ganze Nacht. Ohne Gage! Die Stimmung war noch besser als zuvor beim eigentlichen Konzert. Auch Die Goldenen Zitronen kamen nach einem Auftritt in der Easy Schorre mit ins AfA und musizierten im besetzten Haus noch einmal.

In der Easy Schorre spielten Musiker*innen und Bands wie Einstürzende Neubauten, Abwärts, Feeling B, Rio Reiser, Sandow, Anne Clark, Sonic Youth, Bad Religion, Toy Dolls, Knorkator, The Inchtabokatables, Phillip Boa und viele mehr. Sogar Nirvana spielten, und eines der ersten Konzerte von Rammstein fand dort statt. Besonders lustig waren vor allem die Feeling-B-Konzerte, da Auftritte dieser Band schon immer sehr speziell waren. Chaotisches Anarcho-Theater in einer Endlosparty!



Die Toten Hosen 1990 in der Hallenser Easy Schorre. Nach dem Auftritt kamen Campino und Co. mit zu einer Party ins besetzte AfA (GiG) und spielten dort spontan ihr Konzert nochmal gratis.

Phillip Boa 1990 in der Hallenser Easy Schorre. Zwischen den Monitoren sieht man den Kopf von „Südstadt-Schmidt“, dem Gang-Leader der Red Bombers.

Party/Konzert im AfA (GiG) 1990



Party in einem besetzten Haus in Halle (Saale) 1991

1988 war ich in Berlin bei einem Auftritt der Band Magdalene Keibel Combo, in der auch Paul und Flake von Feeling B musizierten. Nach dem Konzert ging ich mit anderen Gästen zu einer Party. Am nächsten Morgen begab ich mich dann zur Trampstelle. Mich begleitete derjenige, der mich am Vortag zur Party eingeladen hatte. Ich fragte ihn, wo er hinwolle. Er antwortete: „Nach Dresden. Da spielt heute Die Firma.“ Ich erwiderte: „Ach, du willst heute wieder zu einem Punkkonzert?“ Seine Antwort verdutzte mich: „Ja, ich spiele doch bei Die Firma.“ Es stellte sich heraus, dass er auch am Vortag bei der Magdalene Keibel Combo mit auf der Bühne gestanden hatte. Es war Paul von Feeling B. Von nun an lud Paul mich immer in den Backstage ein, wenn sie in Halle (Saale) spielten. Da traf ich dann auch Flake, den ich schon von diversen Untergrund-Partys im Prenzlauer Berg und Friedrichshain kannte.

Als Feeling B noch vor der Grenzöffnung in Westberlin spielten, war ich natürlich da. Das Ganze glich einem Treffen der DDR-Punk-Exilgemeinde. Richtige Westberliner waren nicht oder kaum vor Ort. Ich glaube, es war Paul, der damals sinngemäß zu mir sagte: „Es ist genau wie im Osten – ich kenne ja jedes Gesicht hier.“

Die Bühnenshows von Feeling B waren immer sehr ausgefallen. Eine Besonderheit war die Slamer-Maschine. Auf diese wurde ein Freiwilliger gelegt, der einen Helm aufgesetzt bekam. Nun wurden ihm mithilfe eines Trichters Sekt und Tequila eingeflößt. Danach schlug man entweder mit einem Hammer auf den Helm oder man hob den Kopf des „Opfers“ immer wieder hoch und ließ ihn mit voller Wucht auf das unter ihm liegende Holzbrett fallen. Der Feeling-B-Sänger Aljoscha sang einen Slamer-Song und der ganze Saal pogte dazu. Der Freiwillige bekam meistens nichts mehr vom weiteren Konzertverlauf mit.

Auch ich wollte einmal wissen, wie sich der Slamer-Rausch anfühlt und kletterte auf die Bühne. Als der Hammer dann immer wieder auf den Helm krachte, sah ich Sterne. Der Sekt schoss durch meine Nase. Es brannte fürchterlich. Als ich aufstehen wollte, stürzte ich. Nur mit viel Mühe erhob ich mich und torkelte zurück ins Publikum. „Mix mir einen Drink, mix mir einen Drink, mix mir einen Drink, der mich woanders hinbringt“, hörte ich Feeling B noch singen, war aber schon in einer ganz anderen Dimension angekommen.

Bei ihrer Maske-des-roten-Todes-Tour hatten sie in Halle (Saale) eine neue Slamer-Maschine auf der Bühne. Ein drehbares Holzkreuz oder Holzgerüst. An dieses wurde ein Freiwilliger angebunden. Wie gehabt wurden ihm dann Sekt und Tequila eingetrichtert. Dann wurde die Slamer-Maschine mit vollem Schwung gedreht. Doch irgendetwas lief schief. Blut spritzte aus Nase und Mund. Der Freiwillige schrie. Die Band stoppte die Rotation der Maschine. Der blutüberströmte Jugendliche bewegte sich nicht mehr. Es wurden Sanitäter herbeigerufen, die den leblos wirkenden Körper von der Bühne trugen. Dann ging das Konzert weiter. Mir war unwohl und vielen anderen ging es genauso. Sollte der Veranstalter oder die Band nach dem Geschehenen nicht besser das Konzert beenden? Die spielen einfach weiter, als wäre nichts passiert. Rufe nach Abbruch des Konzerts wurden laut. Da erschien plötzlich der Slamer-Freiwillige fröhlich grinsend auf der Bühne. Das Ganze war inszeniert. Mit Kunstblut. Ob wohl damals schon die Idee, eine Band wie Rammstein zu gründen, in den Köpfen einiger Feeling-BMusiker rumgeisterte?

1994 hatten Feeling B auf dem legendären Steinbrücken-Open-Air bei Nordhausen ihren letzten Auftritt, und Paul und Flakes neue Band Rammstein trat zum ersten Mal auf. Kurze Zeit später spielten Rammstein dann in der Hallenser Easy Schorre als Vorband von Sandow. Durch ihre Musik und ihre Feuer-Bühnenshow beeindruckten sie so stark, dass viele nach der Umbaupause gar nicht mehr zur Hauptband reingingen. Ich auch nicht.

1990 besetzten auch die Nazis ein Haus. Weit weg von der Innenstadt. Hinter Halle-Neustadt, in der Kammstraße. Das Haus fungierte als rechte Schaltzentrale und zog Neonazis aus ganz Deutschland an. Die Nazis versuchten, in Halle (Saale) und anderen ostdeutschen Städten immer wieder alternativ besetzte Häuser anzugreifen. Doch die Hallenser Hausbesetzerszene war darauf vorbereitet. Viele der Hallenser Punks und Hausbesetzer waren direkt nach der Wende von einem der Szene wohlgesonnenen Kampfsportler ausgebildet worden. So konnten die Angriffe auf die Häuser meist gut abgewehrt werden. In der Innenstadt hatten eh die Punks und Hausbesetzer das Sagen. In den Betonghettos Halle-Neustadt und Halle-Silberhöhe war es dagegen gefährlich, als Punk oder alternativ aussehender Jugendlicher rumzulaufen. Als den Bewohnern des AfA die immerwährenden Angriffe der Nazis zu viel wurden, holten sie zum Gegenschlag aus.

„Bei einem weiteren Angriff wehrten wir die Nazis nicht nur ab“, berichtet ein Zeitzeuge. „Alle rannten nach draußen und wir verprügelten jeden, den wir kriegen konnten. Ein paar der Angreifer wurden ins Haus gezerrt. Dort zeigten wir unser Sammelsurium an Dingen, mit denen wir zukünftige Angriffe abwehren würden. ‚Wenn ihr das nächste Mal angreift, setzen wir das ein. Richtet das den anderen aus.‘ Dann wurden sie wieder aus dem Haus geworfen. Soweit ich mich erinnere, gab es danach keinen weiteren Angriff auf das AfA.“

Dafür wurden immer wieder die besetzten Häuser in der Kellnerstraße angegriffen. Diese befanden sich direkt neben dem Polizeigebäude, dem ehemaligen VPKA. Die Beamten ließen sich bei solchen Attacken so gut wie nie blicken. Somit musste die Verteidigung selbst in die Hand der Besetzer genommen werden. Es gab brutale Straßenschlachten vor dem Haus. Einmal steuerte ein Nazi mit Vollgas auf eine vor dem Haus stehende Menschengruppe zu. Ein anderes Auto, das gerade in die Kellnerstraße einbog, erkannte die Gefahr, gab Vollgas und rammte das Nazigefährt. Mit ohrenbetäubendem Motorheulen versuchten sich die beiden Autos gegenseitig wegzuschieben. Das Auto mit dem Nazi unterlag und er flüchtete. Wäre seine Aktion geglückt, hätte es auf jeden Fall Tote gegeben.

Es ging oft um Leben und Tod. Sobald sich Nazis und Punks, Hausbesetzer oder Autonome auf der Straße trafen, knallte es. Fast jeder war bewaffnet. Mit Knüppeln, Gas- und Schreckschusspistolen und Messern. Dazu kamen noch Sachen aus dem Fundus der sowjetischen Armee. Die abziehenden Soldaten verscheuerten damals ihre Waffen zu Spottpreisen, so hieß es. Zog jemand eine Pistole, dann wusste man nie, ob es sich um eine Schreckschusspistole oder eine scharfe Waffe aus russischen Beständen handelte.

Einige Zeit später rammten Nazis auf der Hochstraße nach Halle-Neustadt das Auto einer Freundin und versuchten, sie von der Straße zu drängen. Immer wieder rammten sie ihr Auto. Zum Glück hielt sie dem stand. Ein Sturz aus etlichen Metern Höhe wäre sonst die unausweichliche Folge gewesen.

Eines Tages, als ich mit drei Freunden im Auto in die Kellnerstraße einbog, kamen gerade etwa 40 brüllende und mit Knüppeln bewaffnete Neonazis angerannt. Wir rissen die Türen des Autos auf und sprangen raus, direkt ins besetzte Haus. Hinter uns wurde die Stahltür verbarrikadiert. Mein Auto hatte ich schon abgeschrieben. Als wir dann aus dem Fenster sahen, war es auch schon verschwunden. Ich hatte den Schlüssel stecken lassen, um schnellstmöglich ins Haus zu gelangen.

Bericht der MZ 1990 über das besetzte Haus AfA (später GiG). Auf dem oberen Bild im Artikel sieht man KVD und nicht Sonnenbrille wie fälschlicherweise im Artikel steht.


Die Angreifer standen grölend vor dem Haus und versuchten, die Tür aufzustemmen. Alles, was wir greifen konnten, schmissen wir aus den Fenstern auf die Rechtsradikalen. Erst jetzt fiel uns auf, dass zwei meiner Begleiter fehlten. Sie waren auf der Rückbank meines Autos und hatten es nicht geschafft, schnell genug aus dem Zweitürer zu entkommen. Als die Angreifer verjagt waren, machten wir uns auf die Suche nach ihnen. Nach etwa einer Stunde fanden wir sie. Das Auto hatte einige Schäden abbekommen, unsere Freunde aber waren heil. Sie waren nach vorne gesprungen und mit Vollgas durch die Nazihorde gefahren, während diese mit Knüppeln auf das Auto einschlugen, und konnten so entkommen. Wie wir später erfuhren, waren die Nazis extra aus dem Westen angereist, um die Kammstraße zu besuchen.

Als dann das Haus in der Kellnerstraße wieder einmal angegriffen wurde, beschloss die Hallenser Szene Stärke zu demonstrieren. Etwa 100 Punks, Hausbesetzer und Autonome marschierten, ganz in Schwarz gekleidet und komplett vermummt, mit Knüppeln bewaffnet durch die Stadt. Es wurden Nazitreffpunkte angesteuert. Eine Polizeistreife beobachtete aus weiter Ferne das schwarze Treiben. In einer Kneipe am Rannischen Platz traf die Gruppe auf Rechtsradikale. Einer von ihnen zog eine scharfe Waffe. Es kam zu einer Patt-Situation. Niemand wollte zurückweichen. Es kam zu keinem direkten Schlagabtausch. Doch die Besetzer konnten so trotzdem Stärke und Präsenz zeigen und dass sie sich keine weiteren Überfälle mehr gefallen lassen würden.

In dieser Zeit wurden auch immer wieder private Wohnungen gestürmt. Einige Punks siedelten nach solchen Überfällen schnellstens ins sichere Paulus-Viertel um. Infolge von Wohnungsüberfallen im Neubaughetto Silberhöhe änderte sich die dortige Situation komplett. Es gab dort nun eine sehr schlagkräftige Jugendgang, in der alle rote Bomberjacken trugen. Trafen die Red Bombers auf Nazis, ging das sehr schlecht für diese aus. Die Silberhöhe wurde immer sicherer. Wer genau diese Red Bombers waren, blieb uns allen lange Zeit ein Rätsel. Später stellte sich heraus, dass ein junger Punk namens Südstadt-Schmidt diese Gang aufgebaut hatte. Nazis hatten mehrmals seine Wohnung gestürmt, sodass er beschloss zurückzuschlagen.

In Halle (Saale) hielt damals die gesamte Subkultur gegen die Nazis zusammen. Egal ob Punk, Hippie, Grufti, Hausbesetzer oder sonstige subkulturelle Jugendliche. Die Rechten griffen überall im Land Andersaussehende an. In Halle (Saale) schlug man gemeinsam zurück. Gab es Hilferufe aus kleineren Gemeinden, kamen die Hallenser zu Hilfe. Waren Naziaufmärsche in anderen Städten, fuhren die Hallenser mit mehreren gemieteten Bussen zur Gegendemo. Auf Plakaten hieß es damals oft: Es kommen Autonome aus Berlin, Hamburg und Halle.

Als 1990 die Fun-Punkbands Abstürzende Brieftauben und Die Mimmi’s mit ihrem Festival der Volxmusik durch die DDR tourten, kam es in allen Städten zu massiven, brutalen Naziangriffen auf Gäste und Konzerte. In Dresden attackierten laut Zeitungsberichten etwa 500 Nazis das Konzert. So etwas wollte die Szene in Halle nicht zulassen, denn auch in der Saale-Stadt hatten sich die Naziskins angekündigt. Die alten Punks und Hausbesetzer, die sich eigentlich herzlich wenig für diese Veranstaltung interessierten, beschlossen, die anreisenden Jung-Punks und das Konzert zu beschützen. Etwa 100 schwarz vermummte, mit Knüppeln bewaffnete Punks und Antifas patrouillierten um die Easy Schorre, in der das Konzert stattfinden sollte. Alle Besucher konnten so sicher zum Konzert gelangen und die Nazis trauten sich nicht in die Nähe.

Für den 9.11.1991, den 53. Jahrestag der Reichspogromnacht und zweiten Jahrestag des Mauerfalls, kündigten die Nazis in unserer Saale-Stadt erstmals eine Großdemonstration an. Von allen Seiten wurde der Widerstand organisiert. Statt der angekündigten mehreren Tausend Neonazis kamen nur etwa 400 bis 500. Diese standen etwa 2.000 bis 2.500 Gegendemonstranten gegenüber. Die Nazidemo konnte nur sehr eingeschränkt und unter großem Polizeischutz stattfinden. Überall zeigten Hallenser, verbal wie auch militant, dass Halle nicht bereit ist, eine zweite „Hauptstadt der Bewegung“ zu werden. Magdeburger oder Dresdner Zustände wollte hier keiner zulassen.

Etwa drei Monate später, am 26.1.1992, brannte das Nazihaus in der Kammstraße ab. In der Zeitung stand, dass es im Vorfeld Hinweise gegeben hätte, da überall im Umfeld der Kammstraße As im Kreis gesprüht worden waren. Und das stand bekanntlich für Abfackeln. Ah ja! Es kursierten auch Gerüchte, die Nazis hätten sich verstritten und das Haus selbst angezündet. In der Hallenser Boulevard-Zeitung Express stand, dass im abgebrannten Gebäude „Nazis raus!“ zu lesen war. Was wirklich passiert war, ist bis heute nicht geklärt. Wenn ich mich recht erinnere, sollten die Nazis daraufhin das leerstehende Gebäude einer Halle-Neustädter Postfiliale als Treffpunkt überlassen bekommen, das allerdings noch vor Bezug abbrannte.

Übergriffe auf Szenetreffpunkte gab es trotz der verhältnismäßig sicheren Lage auch in Halle (Saale) immer wieder. Zum Beispiel wurde die Szenekneipe Fusch generalstabsmäßig überfallen. Laut Augenzeugen schalteten die vermummten Rechtsradikalen zuerst die Beleuchtung aus und knüppelten in der Dunkelheit brutal mit Baseballschlägern und Äxten auf alle Gäste und das Mobiliar ein. Es gab mehrere Schwerverletzte. Unter anderem erlitt eine Frau einen schweren Schädelbasisbruch.

Das alternative Objekt 5 wurde in der Nacht zum 27.9.1992 von Neonazis mit Äxten, Baseballschlägern und Schreckschusspistolen gestürmt. Autos wurden zertrümmert. Auch hier gab es Verletzte. In Halle (Saale) konnten inzwischen viele der Betroffenen mit der Losung der friedlichen Montagsdemonstrationen „Keine Gewalt!“ kaum noch etwas anfangen.

Als am 3.10.1992 im alternativen Klubkino 188 ein Film über Rechtsradikale gezeigt wurde, wozu etwa 30 Nazis als Gäste eingeladen waren, griffen etwa genauso viele Vermummte selbiges Kino an. Es gab eine Straßenschlacht zwischen den Nazis im Kino und den Angreifern. Besonders nach diesem Vorfall gab es in der Szene Diskussionen, inwieweit Gewalt legitim wäre. Darf man sich angesichts der brutalen Angriffe von rechts nur verteidigen? Oder im Sinne von „Wehret den Anfängen!“ auch angreifen? Der Song einer Hallenser Punkband beschreibt diese Situation treffend:

KVD: „Anti Inti“

Für die wahre Freiheit ohne Kompromisse

brauchen wir den Kampf und keine klugen Sprüche. Oberschlaue Quatscherei kann uns nicht retten

und wenn ihr’s nicht begreifen wollt, behaltet eure Ketten.

Ihr redet vom Kampf und wenn’s mal kracht,

abhau’n ist das Erste, was ihr dann macht.

Wenn alles vorbei ist, man glaubt es nicht,

sind sie alle wieder da und halten noch Gericht.

Dann wird verurteilt an einem Ausmaß von Klugheit, unvorstellbar die Blicke der Bosheit.

Dann bist du für sie ein primitiver Verbrecher

und überlegt handelnder Messerstecher.

Weil du für sie den Kopf hinhältst

weil ja so’n Inti lieber Reden hält.

Engstirniges Labern hat bis jetzt noch nichts geändert, kein Klugscheißer hat jemals Systeme verändert.

Und merkt euch eins:

Wollen wir gewinnen, gibt’s keine Wahl,

Männer und Frauen seid radikal!

Seid radikal! Lebt radikal! Radikal!

Am 21.10.1992 wurde Silvio Meier in Berlin von Neonazis ermordet. Die Diskussionen über die Legitimation von Gewalt als Verteidigungsstrategie wurden nach diesem Mord bedeutend weniger. In vielen Teilen Deutschlands und besonders auch in Halle (Saale) gab es viele Reaktionen, Wandsprühereien und auch Racheaktionen. Silvio war hier bekannt und beliebt, da der gebürtige Quedlinburger in den 80er Jahren oft zu Besuch war. (Siehe auch das Kapitel „Krieg in den Städten“ und im Buch Untergrund war Strategie. Punk in der DDR: Zwischen Rebellion und Repression das Kapitel „Die-Käng-Guru-Sekte. In Erinnerung an Silvio Meier“.) Aber auch hier ging das Leben weiter.

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