Kitabı oku: «Die Erfindung der Rassen», sayfa 3

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2. KAPITEL
MENSCHENARTEN

Worin nachgewiesen wird, dass es nur eine einzige lebende menschliche Spezies gibt, wir aber Bekanntschaft mit verschiedenen ausgestorbenen Menschenarten machen

Stimmt es eigentlich, dass wir alle zu ein und derselben Menschenart gehören? Heute sind wir da sicher, aber so war es nicht immer. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gab es auch die These, dass wir uns auf verschiedene Spezies aufteilen, nach den sogenannten polygenetischen Theorien. In diesem Kontext entstand die Bezeichnung »Buschmänner«: Die europäischen Kolonisten in Südafrika unterschieden »Männer« – richtige Menschen – von »Buschmännern«, die ihnen zufolge einer eigenen Spezies angehörten. Dahinter steckte eine Überlegung – wenn wir das denn eine Überlegung nennen wollen –, die auf einer Reihe von Analogien fußte. So, wie die Beobachtung der Natur zu dem Schluss führte, dass der Mensch allen anderen Kreaturen überlegen ist, so führte die Beobachtung der Menschheit für die Weißen, die die Überlegung anstellten, zu dem Schluss, dass es eine unbestreitbare Überlegenheit der Weißen über alle anderen gibt. Von hier zu der Vorstellung, dass unterschiedlichen Rassen unterschiedliche Grade der Unterlegenheit gegenüber den Weißen entsprechen, ist es nur ein kleiner Schritt.

Der nächste Schritt ist dann die Idee, dass Rassen, die besonders wertlos sind, keine Rassen, sondern ganz andere Arten sind, die von Anfang an fix und fertig so geschaffen waren, wie wir sie kennen. Demnach hat der Mensch nicht nur keinerlei Verwandtschaft mit dem Affen, sondern der weiße Mensch ist auch nicht mit dem schwarzen Menschen verwandt.

Die Menschheit von oben betrachtet

Es ist eine Frage der Perspektive. Festzustellen, ob zwei Individuen derselben Spezies angehören, ist leicht, und hätten sie es unter Beweis stellen wollen, wäre dies auch den Verteidigern des Polygenismus* leichtgefallen. Zwei Fliegen gehören zur selben Art, wenn sie bei Kreuzung Fliegen hervorbringen, die sich ihrerseits reproduzieren können. Pferd und Esel gehören dagegen unterschiedlichen Arten an, weil aus ihrer Kreuzung nur reproduktionsunfähige Nachkommen entstehen, Maultiere und Maulesel. Was Menschen betrifft, war es eigentlich nicht nötig, das entscheidende Experiment anzustellen, nämlich zu beobachten, dass aus ihrer Verbindung fruchtbare Kinder hervorgingen. Das erste Schiff mit afrikanischen Sklaven erreichte Nordamerika im Jahr 1619, und die Zeugung von Nachkommen gemischten Bluts aus der Verbindung von Sklavinnen und Herren (und seltener von Sklaven und Herrinnen) muss bereits wenig später begonnen haben, denn wie sonst hätte es schon 1776, in der Epoche der Amerikanischen Revolution, eine Diskussion darüber gegeben, welche Rechte den zahlreichen Menschen zugebilligt werden sollten, die nicht mit Sicherheit als Schwarze oder Weiße eingeordnet werden konnten.

Am Ende wurde beschlossen, das Problem mit Gesetzen zu lösen, die die Kinder aus gemischten Verbindungen der unterlegenen Rasse zuordneten und jeden als »schwarz« definierten, der nur einen Tropfen schwarzen Bluts hatte (»one-drop rule«): »Die Kreuzung eines Weißen mit einem Indianer ist ein Indianer; die Kreuzung eines Weißen mit einem Neger ist ein Neger; die Kreuzung eines Weißen mit einem Inder ist ein Inder; und die Kreuzung einer der drei europäischen Rassen mit einem Juden ist ein Jude.« Doch das ist eine andere Geschichte.

Hier geht es erst einmal darum, dass es während zweier Jahrhunderte, des achtzehnten und des neunzehnten, für viele Wissenschaftler, die sich mit der Vielfalt der Menschheit beschäftigten, noch bevor sie sich der Tragweite ihres Themas bewusst waren, ein kategorischer Imperativ war, keinen Vorwand dafür zu liefern, dass sich jemand erhob, der unten zu bleiben hatte. Von der Vermischung der Rassen wurden Folgen befürchtet, die von bloßer Verrohung bis zur gründlichen Degeneration der menschlichen Spezies reichten. Auch ein Verteidiger des Monogenismus, also des gemeinsamen Ursprungs der Menschheit, wie Arthur de Gobineau, notierte bei seinem Projekt, die Naturgesetze zu bestimmen, die in der Gesellschaft herrschen, die Bevölkerung Asiens und Afrikas sei eine »recht traurige Ansammlung, mit deren Hässlichkeit wir uns abfinden müssen«, während die Europäer die Vorbilder der Venus, des Apoll und des Herkules Farnese waren. Unsere klassische Schönheit dürfe nicht von wissenschaftlichen Theorien und dergleichen Geschwätz infrage gestellt werden.

Doch das Experiment der Rassenkreuzung wurde fortgesetzt: nicht im Labor, sondern in den Metropolen der Welt, wo Menschen verschiedenster Herkunft aufeinandertrafen, gemischte Familien bildeten und sich problemlos fortpflanzten. Mehr noch: In einer sehr sorgfältigen Studie zu den Ehen in Hawaii, wo Polynesier mit Europäern und Menschen aus China, Japan und manchen anderen Herkunftsländern zusammenleben, hat sich herausgestellt, dass es bei den Kindern »gemischtrassiger« Herkunft keineswegs einen Rückgang, sondern sogar eine leichte Zunahme der Fruchtbarkeit gab. Wir sind also eine einzige Spezies, da gibt es keinen Zweifel. Dennoch verschwanden die polygenetischen Vorstellungen nicht so schnell. Als sich die Wissenschaft von den biologischen Eigenschaften des Menschen, der biologischen Anthropologie, schon längst ausgetüftelter statistischer Methoden bediente, war das polygenetische Denken in den Vereinigten Staaten noch immer stark. Hier hatte sich die evolutionstheoretische Idee einer Verwandtschaft zwischen Menschen und Affen immer noch leichter durchgesetzt als der Gedanke, dass die Menschen, gleich ob weiß oder schwarz, einfach nur Menschen sind. Manche Leute sahen das so: In Afrika gibt es Schimpansen und Gorillas, also sind die Afrikaner mit Schimpansen und Gorillas verwandt; in Asien gibt es Orang-Utans, also sind die Asiaten Verwandte der Orang-Utans; in Europa … nein, in Europa gibt es keine Menschenaffen. Was daraus folgt: Offenbar gibt es für Europäer keine solche Verwandtschaft. Die anderen stammen vom Affen ab, wir nicht.

Abbildung 1 ist eine berühmte Illustration aus einem amerikanischen polygenetischen Text von 1868, Indigenous Races of the Earth von Nott und Gliddon. Links sehen wir die Köpfe des Apoll vom Belvedere, eines Schwarzen und eines Schimpansen, rechts daneben die entsprechenden Schädel, von denen der erste als »griechisch« etikettiert wird. Dass das Haupt des Apoll vom Belvedere ein Schädelskelett enthält, ist erstaunlich; leider haben die Urheber der Zeichnung nicht erklärt, wie sie – ohne es zu röntgen – zu ihrer Entdeckung gelangt sind. Ihnen geht es aber um etwas anderes, nämlich zu zeigen, dass der Schwarze und der Schimpanse einander mehr ähneln als beide dem Apoll, und nicht etwa aus dem einleuchtenden Grund, das erstere beide Lebewesen sind und der andere eine Statue, sondern wegen der Ähnlichkeit ihrer Schädelknochen. Um diesen Schluss noch weiter nahezulegen, haben Nott und Gliddon die Schädelform der beiden etwas verändert und den des Schwarzen nach hinten gedreht, damit der Kiefer optisch weiter vortrat. Kein menschlicher Schädel hat jemals eine solche Form gehabt.

Die Abbildung, von der wir sprechen, ist ein bekanntes Beispiel für Pseudowissenschaft, doch es ist gut, diese obskuren Darstellungen nicht zu vergessen. Wir alle, der Schreiber dieser Zeilen inbegriffen, tragen mit uns unser Päckchen von alten Vorstellungen und Vorurteilen, die unser Urteil verzerren können, vor allem, wenn wir sie uns nicht bewusst machen.

Nott und Gliddon waren zwei Schwindler, aber das heißt nicht, dass die Alternativen zum Polygenismus viel aufgeklärter gewesen wären. In der Bibel heißt es, dass alle Menschen von Adam und Eva abstammen, und das war ein Problem für die Vertreter des Polygenismus. Sie versuchten, es zu lösen, indem sie sich vorstellten, es habe mehrere Adams gegeben, doch das führte nicht sehr weit und brachte sie in Konflikt mit strengeren Auslegungen der Bibel. Aber auch die Anhänger der alternativen Hypothese, des Monogenismus, hatten eine harte Nuss zu knacken: Irgendwie mussten sie erklären, wie es gekommen war, dass von denselben Stammeltern – Adam und Eva – Rassen abstammten, die soviel minderwertiger waren als die weiße. Das Problem wurde gewöhnlich mit der Annahme gelöst, dass die Menschheit degeneriert sei, besonders die Schwarzen, doch auch, in nicht geringem Maße, die Gelben. Blumenbach, auf den wir noch zurückkommen werden, vermutete eine zweiseitige Degeneration, deren Extreme die Afrikaner und die Mongolen darstellten, mit den wundersamerweise nicht betroffenen Europäern in der Mitte. Die Ursache dieser Generation wurde im Klima gesucht, was am Ende auch einen vorsichtigen Optimismus rechtfertigte: Stephen Jay Gould berichtet davon, wie Samuel Stanhope Smith, Präsident dessen, was dermaleinst die Princeton University werden sollte, prophezeite, die Schwarzen würden, dem harten Klima von New Jersey ausgesetzt, früher oder später weiß werden.

Abbildung 1 Eine Illustration aus J.C. Nott und G.R. Gliddon, Indigenous Races of the Earth, Philadelphia 1868

Was uns die Fossilien sagen

Immerhin, wenigstens hierüber bestehen heute keine Zweifel mehr, gibt es auf Terra nur eine einzige Menschenart. Aber das ist nicht immer schon so gewesen. Fossile Funde berichten uns von einer Vielfalt ausgestorbener Menschenarten. Wir sind so daran gewöhnt, zur einzigen Menschenspezies zu gehören, dass wir darüber nicht länger nachdenken – doch dass es so gekommen ist, ist die Ausnahme in der Evolutionsgeschichte, und nicht die Regel. Es gibt gute Gründe zu der Annahme, dass vor etwa 50 Millionen Jahren immerhin vier oder fünf unterschiedliche Menschenarten unterwegs waren.

Doch der Reihe nach: Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass der Begriff der Spezies zwangsläufig vage wird, wenn wir von unvollständigen Fossilien sprechen, die zudem über das riesige Gebiet des alten Kontinents, was hier Afrika und Eurasien bedeutet, verstreut sind und einen Zeitraum von einigen Millionen Jahren umfassen. In vielen Fällen stehen den Paläontologen nur winzige Knochenreste, zuweilen nur einzelne Zähne, zur Verfügung. Deshalb sind die Bezeichnungen für diese Funde einigermaßen willkürlich und können sich auch (was in der Tat öfter geschieht) bei der Entdeckung neuer Fossilien ändern. Und nicht immer ist es einfach zu sagen, ob ein neuer Fund eine neue Spezies darstellt oder eher die Variante einer bekannten Art. Einige Bestimmungen sind jedoch weithin akzeptiert; ich habe sie in Tabelle 1 zusammengestellt.


Tabelle 1 Die wichtigsten als Fossilien dokumentierten Menschenarten. Weitere Arten werden vermutet, und die Daten sind aufgrund der unklaren Definition der Arten und der Zuordnung einzelner Fossilien zu verschiedenen Arten nicht immer eindeutig. Besonders schwierig ist die Einordnung des Neandertalers: Wenn wir ihn als Homo neanderthalensis bezeichnen, bedeutet das, dass wir ihn als eine eigene Art betrachten; wenn wir ihn aber Homo sapiens neanderthalensis nennen, heißt das, dass wir in ihm eine Unterart des Homo sapiens sehen; in diesem Falle wären wir selbst Homo sapiens sapiens. Ich habe wegen ihrer Kürze die erstere Bezeichnung gewählt, fühle mich aber nicht berufen zu sagen, welche der beiden Thesen richtig ist.

Die ältesten Fossilien, die wir irgendwie in unsere Genealogie einordnen können und die zu verschiedenen Arten von Australopithecus gehören, darunter die berühmte Lucy, finden sich konzentriert in einem Gürtel, der parallel zur Ostküste Afrikas verläuft, von Äthiopien bis Südafrika. Diese Fossilien gehören zu schwanzlosen Wesen, die sich auf den hinteren Gliedmaßen fortbewegten und deren Gebiss bereits menschliche Eigenschaften aufwies. Sie lebten vor etwa 4 bis 2 Millionen Jahren. Ich erspare meinen Lesern hier die komplizierte und für mich zu keinem Ergebnis führende Diskussion darüber, was ein menschliches Wesen ist und für welchen Zeitpunkt man diesen Begriff zuerst benutzen kann. Da gibt es unterschiedliche Definitionen.

Je nach Geschmack können wir anfangen, von Menschen zu reden, sobald der Schwanz verschwindet, oder wenn aus den Skeletten ersichtlich ist, dass wir es endgültig aufgegeben haben, auf allen Vieren zu laufen, oder von dem Zeitpunkt an, als sich bei den Skeletten bearbeitete Steine befinden, oder wann wir offenkundig in der Lage waren, das Feuer zu bewahren und zu entzünden. Für andere wiederum ist es die Sprache, die die Grenze zwischen Menschen und Nicht-Menschen bezeichnet: ein ziemlich schlechtes Kriterium, scheint mir, weil wir einfach nicht feststellen können, ob und wie unsere fernen Vorfahren gesprochen haben. Kurz, wir verfügen nicht über die notwendigen Daten, um eine Theorie gegenüber anderen zu bevorzugen.

Jedenfalls stammen selbst die ältesten Reste, die übereinstimmend der Gattung zu geordnet werden, der wir angehören, der Gattung Homo, sämtlich aus Afrika und lassen sich auf einen Zeitraum von vor etwa 1,5 bis 2 Millionen Jahren datieren. Der älteste Vertreter der Gattung Homo, Homo habilis, ist in Ostafrika nachgewiesen, für die Zeit von kurz vor 2 Millionen Jahren bis etwa 1,5 Millionen Jahren. Wenn wir einem Homo habilis zufällig heute begegneten, fänden wir es in vielfacher Hinsicht schwer, in ihm einen Menschen zu erkennen. Er war etwa 1,30 m groß, wog wahrscheinlich unter 40 Kilo, hatte ein sehr breites Gesicht und eine sehr niedrige Stirn, ein im Verhältnis zu uns viel breiteres Becken und schmale Schultern. Doch Homo habilis machte etwas, das kein Schimpanse kann.

Schimpansen haben begrenzte geistige Fähigkeiten: Sie sind nicht in der Lage, ihre Aktivitäten so weitgehend zu planen, dass sie Werkzeuge benutzen, um Werkzeuge herzustellen. In Experimenten hat man ihnen eine Banane angeboten, die immer höher über ihnen aufgehängt wurde. Wenn sie die Banane nicht mehr mit Sprüngen erreichen können, auf dem Boden aber ein Stock liegt, nehmen die Schimpansen den Stock und schlagen damit gegen die Banane, bis sie hinunterfällt. Und wenn es keinen Stock gibt, sondern nur einen starken Ast, an dem noch zu viel Laub ist, um ihn so, wie er ist, zu gebrauchen, begreifen die Schimpansen, dass sie den Ast von seinen Zweigen säubern müssen, damit sie ihn benutzen können, um gegen die Banane zu schlagen. Dann wird es aber schwieriger: Im folgenden Experiment sind die Zweige zu groß, als dass sie mit den Händen abgebrochen werden könnten, doch auf dem Boden liegt ein Stein, den die Schimpansen zu Hilfe nehmen könnten. Und siehe da: Das ist für sie zu kompliziert. Der Stein ist gut sichtbar, doch die Affen begreifen nicht, wie sie ihn benutzen könnten. Im besten Falle nehmen sie ihn auf dem Höhepunkt ihrer Frustration, nachdem sie vergeblich versucht haben, die Zweige mit den Händen abzureißen, und werfen damit auf die Banane. Ihr Denken reicht nicht weit genug; offenbar ist es zu kompliziert für sie, ein Werkzeug (einen handhabbaren Stock) mithilfe eines anderen Werkzeugs (dem Stein) herzustellen.

Homo habilis dagegen stellte steinerne Schneiden her, indem er mit anderen Steinen gegen Steine schlug. Es gibt nur wenige Fossilien von Homo habilis, weshalb wir glauben, dass diese Menschengruppe nicht weit verbreitet war. Vor Kurzem hat man allerdings in Georgien, im Kaukasus, die Reste von ähnlichen Kreaturen gefunden, ebenso von kleinem Körperwuchs und auf vor 1,8 Millionen Jahren datierbar. In Tabelle 1 ist dieser Mensch als Homo georgicus aufgeführt. Also gab es schon in einem sehr frühen Stadium der Menschheitsgeschichte, als wir noch sehr klein waren und unser Gehirn nur ein geringes Volumen besaß, einige, die sich bereits weit von der afrikanischen Urheimat entfernt hatten. Doch es sind erst die Erben von Homo habilis, die als Erste die halbe Welt besiedelt haben.

Vor etwa 2 Millionen Jahren wird es auf der Erde kühler und trockener. Im Norden Afrikas entstehen Wüsten, und die Wälder der von Homo bewohnten Zonen gehen zurück. In den Regionen am Rand der Wälder wurden die Überreste von Homo ergas- ter gefunden und damit die ältesten Skelette, die denen moderner Menschen gleichen. Das Becken von Homo ergaster ist kleiner geworden, was ihm erlaubt, leichter auf zwei Beinen zu laufen. Diese Veränderung hat zwei wichtige Folgen: Einerseits dehnen sich die Lungen nach oben aus, wodurch die Schultern breiter werden und der Brustkorb seine moderne Form annimmt. Andererseits erschwert ein so enges Becken die Geburt, und dies wird noch schwieriger dadurch, dass ergaster nicht nur größer ist als seine Vorgänger, sondern auch einen verhältnismäßig größeren Schädel hat. Diese Problematik hatte etwas zur Folge, das die Evolution des Menschen besonders stark beeinflusst haben muss. Kleine Schimpansen werden mit einem gut ausgebildeten Schädel geboren, in dem sich bereits ein entwickeltes Gehirn befindet. Weibliche ergaster dagegen bringen unreife Junge zur Welt, die nicht ohne den Schutz ihrer Eltern überleben könnten. Von nun an bildet sich ein dauerhaftes Verhältnis zwischen Kindern und Eltern heraus. Es entstehen emotionale Bindungen, die die Gruppe stärken und den Austausch großer Mengen von Informationen erlauben. Das Gebären unfertigen Nachwuchses, das ein Nachteil hätte sein können im Verhältnis zu anderen Spezies, deren Junge praktisch schon von Geburt an selbstständig sind, erweist sich als großartiger Faktor der Evolution, weil es enge familiäre Bindungen erzwingt und so die Grundlagen schafft für die intensive Weitergabe kultureller Errungenschaften, die typisch ist für unsere Spezies.

Die Phase, in der die modernen anatomischen Charakteristiken des Menschen zuerst auftreten, ist recht komplex, und nicht alle Paläontologen sind sich darüber einig, welche Schädel welcher Spezies zuzuordnen sind. Vor allem sind die Grenzen zwischen Homo ergaster, wie wir ihn genannt haben, und Homo erectus fließend, sodass manchen Experten zufolge ergaster die afrikanische Varietät von erectus und keine eigene Art ist. (In Tabelle 1 ist festgehalten, dass in der Tat viele anatomische Besonderheiten beider sich überschneiden.) Wir wollen hier nicht weiter ins Detail gehen: So wie viele Paläontologen werden wir als Homo erectus nur die in Asien, insbesondere auf Java und in China, gefundenen Individuen bezeichnen (die auch als Java- oder Peking-Mensch bekannt sind). Was uns hier interessiert, ist die Tatsache, dass sich vor nur geringfügig weniger als 2 Millionen Jahren eine Menschenart bereits bis nach Ostasien ausgebreitet hat. Homo erectus oder einem seiner Vorfahren hat man die erste große Ausbreitung der Menschheit zugeschrieben. Wir wissen nur wenig darüber, wie die Urmenschen, die Afrika verlassen haben, das schafften, denn nicht überall auf dem Weg von Äthiopien zum Kaukasus und nach China hat man Gebeine gefunden. Ian Tattersall glaubt, erectus habe sich kaum von Homo ergaster unterschieden. Vielleicht hat er Afrika nicht nur über den Sinai und Palästina verlassen, sondern ist auch direkt vom Horn von Afrika nach Arabien gewandert, da beide Landschaften damals noch nicht vom Meer getrennt waren. Die Technologien, über die erectus verfügte, waren nicht besonders ausgefeilt, aber es ist erwiesen, dass er das Feuer bewahren und möglicherweise auch entzünden konnte.

Und Europa? Die ältesten hier gefundenen Fossilien werden auf vor etwa 800 000 Jahren datiert. Sie werden als Homo antecessor klassifiziert, ähneln Homo ergaster, kommen aus Spanien und stellen vermutlich eine aus Nordafrika stammende Gruppe dar, die in der Gegend von Gibraltar übergesetzt, doch ausgestorben ist, ohne sich weiter auf der iberischen Halbinsel auszubreiten. Wenn dem so ist, waren andere die ersten wahren Europäer: Diejenigen, die seit etwa 780 000 Jahren Fossilien in Griechenland, Frankreich, Deutschland und England hinterlassen haben, auch in Ceprano bei Rom. Sie waren über den Vorderen Orient aus Afrika gekommen und hatten einiges (manche Forscher sagen: viel) mit dem asiatischen erectus gemein und werden als Homo heidelbergensis klassifiziert. Diese Menschengruppen oder eine davon sind die Vorfahren eines der bekanntesten Urmenschen: des Neandertalers*.

Viel ist über die Neandertaler geschrieben worden, nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von Schriftstellern, die sie mal als gewalttätige Horden dargestellt haben, mal als sanfte und friedfertige Wesen, die sich nicht gegen ihre aggressiveren Widersacher zu verteidigen wussten – uns zum Beispiel. Sicher ist, dass die Neandertaler bis vor 30 000 oder 40 000 Jahren in Europa und Westasien die typischen Vertreter der Gattung Homo waren, bis sie nach der Ankunft anatomisch moderner Menschen in Europa ziemlich plötzlich verschwanden. In den etwa 300 000 Jahren ihrer Existenz unterlag das Klima in Europa und Westasien einem periodischen Wechsel: Eiszeiten, während derer sich die Eiskappen der Pole ausbreiteten und die Temperaturen sanken, um in den Zwischeneiszeiten wieder zu steigen. Im Verhältnis zu ihren schlankeren Vorfahren, den heidelbergensis, verfügten die Neandertaler über eine robustere Natur, die an kaltes Klima gut angepasst war, dank kurzer Beine und breiter Nasen. Sie hatten auch eine große Hirnschale, die Platz bot für ebenso große Gehirne wie der moderne Menschenschädel, manchmal sogar für etwas größere. Welche Gedanken diese Gehirne beherbergten und wie sie sich die Welt vorstellten, ist schwer zu sagen. Einige Jahre lang dachten die Anthropologen, dass Neandertaler nicht hätten sprechen können, doch diese Vorstellung ist widerlegt worden durch die genauere Untersuchung ihres Zungenbeins, eines Knochens, durch dessen Öffnung man auf die Form des Kehlkopfs schließen kann, und das sich nicht von unserem unterscheidet. Noch nicht wirklich geklärt ist die Frage, ob die Neandertaler ihre Toten beisetzten. Bei einigen Skeletten hat man Muschelschalen und Blütenpollen gefunden, was an eine Art Totenkult denken lässt: Grabbeigaben von Blumen oder als wertvoll betrachteten Objekten. Doch es ist in vielen Fällen schwer zu sagen, ob ein Leichnam wirklich begraben wurde oder ob sich nicht ganz einfach Gestein und Abfälle über ihm angehäuft haben.

Manche Forscher sind der Ansicht, dass es solche entwickelteren kulturellen Zeugnisse nur bei Neandertaler-Populationen gegeben habe, die bereits in Kontakt mit Gruppen jener anatomisch moderner Menschen standen, die in Europa als Cro-Magnon-Menschen* bezeichnet werden, nach dem Ort in Frankreich, wo zuerst ihre Gebeine identifiziert worden sind. Diese Vermutung gilt jedoch als weitgehend widerlegt.

Wer Italien für die Heimat von Eleganz und Stil hält, wird sich nicht wundern zu lesen, dass die italienischen Neandertaler ihren Körper schmückten: An Fossilien von Vögeln, die man in der Grotte von Fumane im Veneto gefunden hat, hat man Spuren beobachtet, die darauf hinweisen, dass Federn absichtsvoll entfernt wurden. Auch hat man in einer Reihe von Neandertaler-Fundorten Pigmentspuren gefunden. Und dann kam im Februar 2018 die Nachricht, dass die ältesten bildlichen Darstellungen nicht von uns, sondern von Neandertaler-Künstlern stammen. Es handelt sich um treppenförmige Zeichen, das Negativprofil einer Hand, Ansammlungen kleiner Kreise und andere schwer entzifferbare geometrische Figuren, die man in der Grotte von La Pasiega in Spanien gefunden hat. Man nimmt an, dass sie vor 64 000 Jahren gemalt worden sind, also zu einer Zeit, als es hier noch keine Menschen wie uns gab. An dieser Datierung – solche Datierungen sind immer schwierig und können irrtümlich sein – sind allerdings Zweifel laut geworden; wir werden sehen.

Wie dem auch sei, es gibt zunehmend Anhaltspunkte dafür, dass die Neandertaler, die Ernst Haeckel im 19. Jahrhundert noch Homo stupidus, also »dummer Mensch« nennen wollte, sehr wohl zu symbolischen Handlungen in der Lage waren und demnach über komplexes Denken verfügten. Vielleicht bedeutet das nicht, dass sie dieselben intellektuellen Fähigkeiten hatten wie wir (was vor allem, weitgehend ungehört, ein Paläontologe verkündet, der die Ehre der Neandertaler hochhält, nämlich João Zilhão vom ICREA-Institut in Barcelona), doch mit Sicherheit befreit sie das von dem schlechten Ruf, den sie lange hatten. Alles in allem ist es wahrscheinlich, dass die Neandertaler auch Dinge von den Cro-Magnon abgeguckt haben, aber es wäre irrig, alles komplexere Verhalten, dessen Spuren wir in den Neandertaler-Fundorten finden, auf diese Kontakte zurückzuführen. Gesichert ist, dass die anatomisch modernen Menschen vor etwa 45 000 Jahren in Europa ankommen und dass sie über den Vorderen Orient hierher gelangt sind. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit gibt es nur noch sie, während die Neandertaler verschwinden. Anatomisch moderne Menschen haben sich schnell über die ganze Welt verbreitet: Für Ostasien ist ihre Anwesenheit seit 65 000 Jahren bezeugt, für Australien seit 45 000 Jahren, für Nord- und Südamerika ein wenig später und als Letztes für die Inseln Ozeaniens. Wir werden darauf noch zurückkommen.

Die Fossilien erzählen uns also, dass verschiedene Menschenarten aufeinander gefolgt sind, dass sich im Laufe der Zeit das Gehirnvolumen vergrößert hat und parallel dazu sich ihre intellektuellen Fähigkeiten erweitert haben, wie auch ihre Werkzeuge bezeugen, die immer raffinierter werden, während die soziale Organisation immer komplexer wird. Doch die Evolution der Menschheit folgt keiner geraden Linie. Es hat verschiedene Auswanderungswellen aus Afrika gegeben, und es gibt Fossilien von Menschenarten, die sich in mancherlei Hinsicht von uns unterscheiden und sich fast überall in der Alten Welt finden – Menschenarten, die sich entwickelt haben und dann anscheinend ohne Nachfahren verschwunden sind. Wir haben kein erschöpfendes Bild von all dem und werden es vielleicht auch nie haben, denn die Funde, die uns zur Verfügung stehen, sind zu wenige, auch wenn mit der Zeit immer neue auftauchen. Jedenfalls können wir diesen komplizierten Prozess nur in seinen großen Linien rekonstruieren. Doch es steht fest, dass die Erde vor etwa 100 000 Jahren von untereinander unterschiedlichen Menschenarten besiedelt war. In Afrika und im Vorderen Orient finden sich Skelette wie unsere, die wir unserer Art, Homo sapiens, zuordnen können. In Europa und Teilen Westasiens lebten Neandertaler, in Asien der Homo erectus. Vor 18 000 Jahren gab es – das ist erst kürzlich entdeckt worden – auf der Insel Flores in Indonesien Menschen von kleiner Statur, die Flores-Menschen oder Homo floresiensis genannt werden. Die jüngste Entdeckung stammt aus Sibirien, aus der Denisova-Grotte, in der auch Gebeine von Neandertalern gefunden wurden. Im trocken-kalten Klima Sibiriens bleibt DNA vergleichsweise lange erhalten: So hat man aus einem winzigen Knochenfragment vom dritten Glied eines kleinen Fingers ausgezeichnet erhaltene DNA erhalten. Dadurch konnte festgestellt werden, dass dieser Finger weder einer von uns (die DNA sagt uns auch, dass es sich um den Finger einer Frau handelte) noch einer Neandertalerin gehörte. Der Denisova-Mensch* ist die älteste Menschenart, die nicht aufgrund ihrer Anatomie, sondern genetisch bestimmt worden ist. (Es ist auch schwer vorstellbar, wie dies anatomisch anhand eines Handknöchelchens und vielleicht einiger Zähne möglich gewesen wäre.) Manche glauben, dass es sich bei den Denisova-Menschen um eine westliche Gruppe von Homo erectus handelt. Dies lässt sich derzeit jedoch nicht erhärten, da wir vom Denisova-Menschen zwar die DNA, aber kein Skelett haben, während wir von Homo erectus einigermaßen komplette Skelette besitzen, aber keine DNA, weil die sich in dem warmen Klima, in dem er lebte, nicht erhalten hat.

Wenn wir ernsthaft darüber nachdenken, hat die Evolution uns eine ganze Reihe moralischer Probleme erspart: Es wäre nämlich nicht einfach zu entscheiden, ob eine uns ähnliche aber doch von uns unterschiedene Menschenart dieselben Rechte haben sollte wie wir oder ob für sie nur die Bestimmungen des Tierschutzes gelten sollten. Heute dagegen kann niemand ehrlicherweise einen von uns für den Angehörigen einer anderen Art halten. Das Problem heute besteht darin zu verstehen, wie verschieden wir untereinander sind und was diese Unterschiede bedeuten. Diese Frage ist so alt wie die Menschheit, wie wir im folgenden Kapitel erfahren werden.

Der Satz in Anführungszeichen, der die »one-drop rule« kommentiert, stammt aus: M. Grant, Passing of the Great Race or The Racial Basis of European History, Neuauflage Manchester 1970. Dies ist ein Text von 1916, in dem es um Vorkehrungen gegen die drohende Auslöschung der weißen Amerikaner durch die Einwanderung geht. Es ist bemerkenswert, dass dieselbe Sorge genau ein Jahrhundert später Italien und Deutschland und das übrige Europa umtreibt. Aber das ist wohl der Lauf der Welt.

Über die Vorurteile, deren Produzenten und Opfer zugleich wir alle sind, lesen wir bei C. Fine, A Mind of its Own: How your Brain Distorts and Deceives, Thriplow 2006.

Die deutsche Übersetzung von Arthur de Gobineaus zuerst zwischen 1853 und 1855 auf Französisch erschienenen Buchs Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen ist 1912 in Stuttgart erschienen.

The Mismeasure of Man (New York 1981) von Stephen Jay Gould, ist auf Deutsch unter dem Titel Der falsch vermessene Mensch, Basel u. a. 1983, erschienen. Ich habe die Anekdote über Samuel Stanhope Smith auf S. 39 der amerikanischen Ausgabe gefunden.

Die Studie über die Fruchtbarkeit der hawaiianischen Ehen findet sich in: C.S. Chung, M.P. Mi, N.E. Morton, Genetics of Interracial Crosses in Hawaii, 1967.

Für einige Anekdoten habe ich mich bei einem Artikel von Brent Staples bedient: »Why race isn’t as black and white as we think«, der am 31. Oktober 2005 in der New York Times erschienen ist.