Kitabı oku: «Systemische Wirtschaftsanalyse», sayfa 2

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Armut ist kein Rechenspiel

Der niederländische Ökonom Peter Lanjouw beschäftigt sich im Auftrag der Weltbank mit Armut und Ungleichheit in der Welt. Er hält eine Erhöhung der Armutsgrenze für nötig. Wer 1,75 Dollar oder weniger pro Tag zur Verfügung hat, soll als arm gelten. Bisher liegt die Grenze bei 1,25 Dollar pro Tag. Dies sei nicht mehr zeitgemäß, glaubt Lanjouw, weil lediglich die Veränderungen in der Berechnung der Kaufkraftparität, der so genannten PPP (Purchasing Power Parity) statistisch zu einer Halbierung der Anzahl der Armen in der Welt geführt habe. In einigen großen Schwellenländern ist die Anzahl der Menschen mit weniger als 1,25 Dollar zur täglichen Verfügung von 20 Prozent auf neun Prozent gesunken. In Indien allein ist die Zahl von 393 Millionen auf 100 Millionen Menschen gesunken. Ist aber wirklich die Armut in diesen Ländern kleiner geworden?

Die britischen Ökonomen Christopher Deeming und Bina Guhaju haben sich mit dem kleinen pazifischen Inselstaat Vanuatu beschäftigt. Dort leben 250.000 Menschen. Ein Fünftel bekommt überhaupt keinen Lohn. Der Rest lebt von Land- und Seewirtschaft. Bei einem zugerechneten Einkommen von einem Dollar pro Tag sind 5,4 Prozent der Kinder arm. Fragt man allerdings, inwiefern die Kinder ausreichend mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Obdach versorgt sind, gelten 17 Prozent der Kinder als arm (Deeming/ Guhaju, zit. nach Kaufmann: »Armut als Variable«, Frankfurter Rundschau, 18.4.2014). Insofern sagt ein Durchschnitt für den Einzelnen nicht viel aus. Solche Kennziffern sind aber für volkswirtschaftliche Einschätzungen oft ausschlaggebend und – wie man an diesen Beispielen sehen kann – leiten sie in die Irre.

Vom Überleben zum Gemeinwohl

Die Zwecke des Wirtschaftens korrespondieren mit einer Grundtendenz, die für Systeme generell gilt, nämlich dem Überlebenswillen. Diese wesentliche Grundlage des Lebens und Wirtschaftens ist auch den meisten wirtschaftstheoretischen Konzepten immanent. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Überlebensprinzip im Sinne von Mehr an Materiellem heute für viele Menschen in den reichen Ländern wirklich noch eine erforderliche Maxime ist. Oder ist diese Orientierung lediglich ein Relikt der Vergangenheit? Psychologisch gesehen werden solche »mentalen Ladenhüter« oft unreflektiert beibehalten. Der Gedanke »Es ist nicht genug da«, beherrscht die Menschen seit Generationen, unabhängig davon, ob dies tatsächlich Realität ist. Dahinter steckt eine evolutionsgeschichtlich erlebte und damit im kollektiven Unbewussten der Menschen, wie C. G. Jung es nannte, vorhandene Reaktion. Der Wettbewerb um eine marginale Verbesserung auf schon hohem Niveau wird innerlich als Existenzbedrohung erlebt. Zieht man die Aufmerksamkeitsebenen des systemischen Modells heran, befindet man sich auf der transgenerationalen Ebene (siehe Kapitel »Aufmerksamkeit«) (Mohr 2014).

Politisch kann man das in der Wirtschaft herrschende sogenannte Knappheitsparadigma als Ideologie bezeichnen. Marxisten deuten es als den ständigen Zwang des Kapitals, sich selbst zu vermehren. Allerdings war – und manchmal gilt das sicher auch heute noch – das Knappheitserleben zunächst durchaus etwas Positives. Not macht erfinderisch, vermeldet ein Sprichwort. In der Psychologie spricht die Transaktionsanalytikerin Fanita English von einem Überlebenstrieb, den Menschen zuerst und meist mit archaischen Reaktionen bedienen, ehe sie vom Gestaltungstrieb geleitet werden (English 2004), der sicher ganz andere Lösungen produzieren kann. In lebensbedrohlichen Situationen schalten Menschen auf den »survival mode« (Überlebensmodus) (Brom 2014). Erlebte Knappheit scheint in den Menschen sehr tief verankert zu sein, weshalb man von einem Paradigma sprechen kann. So muss es heute bei der Knappheit nicht immer um Materielles gehen. Oft ist aber eine vermeintliche, »gefühlte« Knappheit ausschlaggebend, um so zu reagieren, als ginge es ums Überleben.

Dies soll nicht bedeuten, dass alle im Wohlstand leben, aber das Knappheitsempfinden hält von der Bereitschaft zu gerechter Verteilung ab. In der Verhaltensökonomie vielfach nachgewiesen ist der sogenannte Besitztumseffekt (Endowment-Effect). Er besagt, dass niemand einen einmal erreichten Besitz, egal auf welchem Niveau, wieder aufgegeben will. Der Besitztumseffekt bedeutet, dass es uns Angst macht, wenn wir etwas verlieren. Studien in der Verhaltensökonomie haben gezeigt: Die emotionale Reaktion zum Verlust von 1000 Euro ist bedeutend stärker als die zum Gewinn von 1000 Euro. Entsprechend leiden betuchtere Leute unter diesem Effekt sogar relativ mehr als arme. Der Besitztumseffekt wirkt rein psychologisch, unabhängig vom tatsächlichen Vermögen. Das gelebte Knappheitsparadigma des »Es ist nie genug« ist eher ein Gewohnheitsmuster als eine reale Erfahrung, geschweige denn eine Notwendigkeit. Aber auch in einer Wohlstandsgesellschaft wird der Besitztumseffekt nun zum Thema, wenn etwa aufgrund der Klimaveränderungen notwendige Einschränkungen auf die Menschen zukommen.

Als Fazit lässt sich zum Knappheitserleben sagen, dass über seine Wirkung mehr Bewusstheit entstehen und dass es relativiert werden muss. Es gilt, wirkliche Knappheit von psychologisch verursachter zu unterscheiden.

Ein weiterer Aspekt kommt noch hinzu: Ökonomie verbinden die meisten Menschen auch mit Finanzgrößen wie Gewinn und Rendite. Schaut man in die europäischen Verfassungen, so ist der eigentliche Zweck des Wirtschaftens aber nicht der Gewinn. Der Österreicher Christian Felber weist darauf hin (Felber 2009), dass in diesen grundsätzlichen Regelwerken der Menschen durchaus von einem anderen Ziel des Wirtschaftens die Rede ist, nämlich vom Gemeinwohl. Finanzielle Kriterien und Gewinnorientierung sind nur die Mittel. In der Verfassung des Freistaates Bayern, Art 151,1 steht beispielsweise: »Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.«

In der Realität sind viele Entscheider allerdings im Knappheitsparadigma gefangen. Sie huldigen einer angeblich notwendigen Wachstumsideologie. Diese trägt dann heute oft sportliche Züge, die auf der finanziellen Ebene in Wettläufen zu EBIT, EBITDA, Gewinn je Aktie und Return of Investment gipfeln. Eine ganze Industrie von Analysten, Maklern und mit diesen verbundenen Medien unterstützt diese Denkweise.

Das Ende der Entwicklung?

Existiert Wirtschaften auch jenseits des Kapitalismus? Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat schon 1992 mit The end of history die bestehende als die endgültige Gesellschaft ausgerufen (Fukuyama 1992). Ernest Mandel dagegen läutete schon in der 1970ern den »Spätkapitalismus« ein (Mandel 1973). Er wollte damit sagen, dass an der Theorie des historischen Materialismus von Marx und Engels, nach der der Kapitalismus notwendigerweise von etwas anderem, nämlich dem Sozialismus abgelöst werde, doch etwas dran sei. Mittlerweile ist zumindest der real existierende Sozialismus untergegangen und wir müssten uns im Spät-Spätkapitalismus befinden. Es gab aber schon vor und immer neben der jeweils aktuellen Form des Kapitalismus ein Wirtschaften neben dem Wirtschaften. Man kann auch aus der Geschichte lernen, dass sich darüber hinausgehende, neue Aspekte des Wirtschaftens entwickeln können. Entsprechend kommt die Kritik an Francis Fukuyama etwa von Slavoj Zizek (Living in the end times, Zizek 2011), dem slowenischen Psychoanalytiker und sogar ehemaligen Präsidentschaftskandidaten in seinem Land: Wirtschaften muss nicht einseitig durch die bisherigen, im Moment wesentlich kapitalistisch geprägten Mechanismen bestimmt sein. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass es das auch gar nicht ist. Nachdem Anfang der 1990er-Jahre die real existierende Planwirtschaft aufgegeben wurde und seit 2008 der Finanzkapitalismus vorerst zu Ende war, könnte sich der Aufmerksamkeitsfokus eigentlich neu orientieren und sich eine neue Wirtschaftsform etablieren.

Alternative Bezugsrahmen wie die solidarische Ökonomie, die Gemeinwohlökonomie (Felber 2010), die feministische Ökonomie (Biesecker et al. 2000) oder auch die Überflusskritik (Paesch 2011) und die Gemeingütertheorie (Ostrom 2011) zeigen neue Töne. Der österreichische Attac-Mitbegründer Christian Felber zeigt mit seinem gemeinwohlökonomischen Konzept die Breite der Wirtschaftsziele auf und wird im Folgenden an verschiedenen Stellen eine Rolle spielen. Die Bremer Wirtschaftsprofessorin Adelheid Biesecker betont den Fürsorgeaspekt, der für Menschen und Natur am Anfang der ökonomischen Überlegungen stehen sollte. Fürsorge wird traditionell als eher weibliches Prinzip gesehen, ist aber gerade als Ergänzung zum Herkömmlichen – den oft noch aus militärisch-männlichen Kulturen hervorgegangen Ideen des Wirtschaftens – sehr wertvoll. Es geht darum, aus der Ökonomie nicht alles das auszugrenzen, was in der Vorsorge und im Sozialen liegt, aber für die Gesellschaft so entscheidend ist. Biesecker kritisiert die ökonomisch einseitige Orientierung auf unendliche, eigentlich nicht zu befriedigende Bedarfe. Sie spricht – das als kleine Kritik an ihrem interessanten und sympathischen Ansatz – von Bedürfnissen, was allerdings nicht ganz korrekt ist. Bedürfnisse sind als psychologische Größe mit dem Menschen eng verbunden, aber oft nicht wirklich bewusst. Bedarf ist die wirtschaftliche Größe, das was nach außen gezeigt und geäußert wird: was man meint, was das Bedürfnis sei.

Der Volkswirtschaftler Niko Paesch zeigt deutlich auf, wie endlich die momentane Ressourcenlage auf der Welt ist. Mit dem Soziologen Harald Welzer zusammen stellt er die Fraktion derjenigen dar, die Konzepte für die Realität der Naturressourcen und den Umgang damit präsentieren. Die Konzentration auf Wesentliches und Notwendiges wird eine zentrale Aufgabe der Zukunft sein. Die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom beschreibt den Weg aus der »Tragödie der Gemeingüter«. Sie stellte fest, dass Gemeingüter verkommen, weil niemand die Verantwortung dafür übernimmt. Es gilt die Möglichkeiten zu nutzen, damit keine Ressourcenfriedhöfe entstehen. Dabei kann es um Autos, technische Geräte, Land und vieles mehr gehen. Dinge, die nur herumstehen und nur selten und wenn, dann ausschließlich von ihrem Eigentümer genutzt werden, obwohl sie der Allgemeinheit viel besser nutzen könnten. Die angesprochenen Alternativen versuchen die Wirtschaftsakteure anders zu orientieren. Es wäre gut, die Grundlagen des Wirtschaftens zu betrachten, um darin die spezifisch kapitalistische Variante zu erkennen und abzugrenzen. Zunächst ist es sinnvoll, die systemische Herausforderung zu beschreiben, um danach zu der Frage zu kommen: Welche Aufmerksamkeit ist angebracht, um die Welt voranzubringen?

Systemisch: Verbundenheit, Kontext, relative Wirklichkeit

Der mongolische Kriegsfürst Altay Kahn stellte im sechzehnten Jahrhundert für die Chinesen eine so gewaltige Bedrohung dar, dass sie seinetwegen die große Mingmauer bauten. Als Kahn nach der Eroberung Pekings vor den Toren der verbotenen Stadt stand und alle mit einem Sturm des Kaiserpalastes rechneten, überreichte er stattdessen eine Anfrage, ob die Chinesen sein Volk als Handelspartner akzeptieren würden.

Die kleine Geschichte zeigt: Handel und Wirtschaftskontakte sind erstrebenswerter weil nachhaltiger als der bloße Sieg. Und Überraschungen gehören zum Wirtschaftssystem dazu. Seit Altay Kahn ist eine Menge Zeit verstrichen, und im Laufe der Jahrtausende sind immer wieder Kriege aus verletztem Stolz geführt worden oder um eine vermeintliche Überlegenheit einer Nation zu verteidigen. Selten wurden Kriege aus der Not heraus geführt, es sei denn es waren Aufstände innerhalb von Staaten. Gerade das zwanzigste Jahrhundert hat hier Lehren erteilt. Regionen, die lange selbst keine Kriege innerhalb ihres Landes erlebt haben (USA, Schweiz) scheinen eher langfristig gedeihliche Bedingungen zu bieten. Die Wirtschaft als Treiber für Wohlstand hat mehr und mehr die Oberhand gewonnen. Doch auch Wirtschaftskrisen können die Welt an den Abgrund führen. Das zeigte uns die Weltwirtschaftskrise in den 20er-Jahren oder die Finanzkrise von 2008.

Das System von Wirtschaft und Politik ist als Ganzes zu sehen, und es lohnt sich, es aus einer systemischen Perspektive zu betrachten. Die systemische Perspektive wurde ursprünglich für die Therapie von Familiensystemen entwickelt. Mittlerweile wird sie auch auf viele andere Systeme, Organisationen, Gesellschaften, Wirtschaft, angewandt. Systemisch die Welt zu betrachten, bedeutet drei Fakten zu berücksichtigen. Erstens sind die Handelnden in der Welt immer in einer Beziehung miteinander verbunden. Individuelle Unabhängigkeit ist eine Illusion.

Kein Mensch und kein System ist wirklich unabhängig.

Wir sind verbunden und vernetzt miteinander. Wenn wir darüber nachdenken, wieso wir so leben können, wie wir leben, wer unsere Nahrung produziert, für unser Dach über dem Kopf oder unsere Sicherheit sorgt, wird das unmittelbar klar. Manchmal ist es auch erst durch genaue Analyse erkennbar, wie vielfältig unsere Existenz von anderen Lebewesen in der Natur und deren Zuarbeit abhängig ist. Gerade die ständige Betonung der angeblich erstrebenswerten Individualität, beispielsweise durch die Werbung, ist ein deutlicher Hinweis auf die eigentlich vorhandene wechselseitige Abhängigkeit. Bei genauerer Betrachtung hat gerade die Wirtschaft durch ihre Institutionen Handel und Arbeitsteilung friedliche Alternativen entwickelt, die – auf faire Weise gelebt – der systemischen Verbundenheit der Menschen Rechnung tragen. Die Form des Zusammenwirkens, die sogenannte Interaktion zwischen den Elementen eines Systems, ist wichtiger als ihre vermeintlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten. Der zweite Aspekt heißt:

Alle Phänomene sind auf dem Hintergrund eines Kontextes zu sehen.

Themen sind nicht in sich zeitlos und übergreifend zu betrachten, sondern immer auf dem Hintergrund eines bestimmten Kontextes. Der macht auch überraschende Entscheidungen möglich. Die Gunst der Stunde ist für manche wirtschaftspolitische Wendungen notwendig. So schlimm das Ereignis auch war: Ohne den Atomunfall im japanischen Fukushima im Jahr 2011 wäre die deutsche Entscheidung zum Atomausstieg nicht zustande gekommen. Es braucht einen Kontext, ein bestimmtes wahrgenommenes – man könnte auch sagen konstruiertes – Zusammentreffen von Variablen, um etwas möglich zu machen.

Keine Hungersnöte in Demokratien

Zwei Beispiele zeigen die Relevanz der Kontextgestaltung. Der indischamerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, der sich mit dem brennenden Thema der Armut in der Welt beschäftigt hat, betont dazu die Wichtigkeit der Demokratie. Er stellt fest, dass es in demokratischen Gesellschaften, so arm sie auch sein mögen, nie eine Hungersnot gegeben habe. Demokratie konstruiere auf Lösungen orientierte Wirklichkeiten (Sen 2010). Gerade bei wirtschaftlichen Prozessen ist eine Neigung vorhanden, demokratische Errungenschaften zugunsten von vermeintlich ökonomisch notwendigen Aspekten infrage zu stellen.

In den 1990ern wurden manche Entscheidungen durch die föderale Struktur in Deutschland verlangsamt. Manche Ökonomen bezeichneten Deutschland damals als »German Patient«. Plötzlich, nach der Wirtschaftskrise 2008 ist diese Kritik völlig verstummt. Es wurde deutlich, dass gerade die durch die föderale Struktur begünstigte, auf vielen Füßen stehende, mittelständische Wirtschaft ein wichtiger Anti-Krisen-Faktor ist. Der gesellschaftliche Kontext ist, wie beide Beispiele zeigen, nicht von der Wirtschaft zu trennen.


Besonders gravierend ist der dritte Aspekt des Systemischen:

Jedes einzelne Teilsystem strebt danach, seine bisherige Struktur und Weltsicht zu erhalten und immer weiter zu erschaffen.

Lebewesen entwickeln eigene Steuerungsformen, die für sie selbst systemerhaltend sind. Auch wir Menschen konstruieren uns die Welt so, dass sie für uns passt. Schon unser Körper, unsere Hirnphysiologie und insbesondere unsere Sinnesorgane, die auch die Informationsgrundlage für Denken, Einstellungen und Gefühle bilden, sind auf den Selbsterhalt ausgelegt. Echte Veränderung bedeutet auf diesem Hintergrund auch eine echte Herausforderung. Die beiden Systemforscher Humberto Maturana und Francisco Varela haben diese Eigenbezogenheit jedes Systems in seiner evolutionär gewachsenen Struktur besonders betont. Eingriffe von außen in ein System sind nur unter besonderen Bedingungen möglich: »Es gibt keine instruktive Interaktion.« Man kann ein Humansystem – etwa einen Menschen oder eine Gruppe – nicht einfach per Instruktion zu etwas anderem bewegen, das nicht seinem ursprünglichen Programm entspricht. Es sei denn, man koppelt dies sehr genau an seine Struktur an. Dieses Pacing (Mitgehen mit dem anderen) ist die Voraussetzung für Leading, also irgendeine Form von Führung. Dies stellen alle »Reformer« immer wieder fest. Auch viele Projekte der Entwicklungspolitik mussten hier Lehrgeld bezahlen, weil sie die Strukturmechanismen eines fremden Systems nicht verstanden und nicht passend ankoppeln konnten.

Die strukturerhaltende Funktion zeigt beispielsweise auch der schon erwähnte Besitztumseffekt. Man kann ein System zu nichts zwingen, man kann es zwar vernichten, aber zu nichts zwingen. Mit dieser Feststellung Maturanas und Varelas wird die Selbstbezogenheit von Systemen noch deutlicher (Maturana/Varela 1987):

Systemisch intervenieren bedeutet, aus der aktuellen Situation heraus unter Kenntnis des Bisherigen Veränderungen einzuleiten.

Systemisch bedeutet in diesem Sinne auch, pragmatisch vorzugehen. Max Weber hat die Tendenz zur Rationalität, aber auch zur Bürokratisierung beschrieben. Unter den »Großen Vier« – Marx, Nietzsche, Freud, Weber – ist er vielleicht der systemischste, weil er keine Heilslehre entwickelt hat, keine neue Gesellschaft wollte, keinen neuen Menschen entwickelte, keine Befreiung vom Trieb erstrebte, sondern Einzelhypothesen für die Entwicklung aufstellte.

Klein und groß, Mikro und Makro, individuell und systemisch

Für die Wirtschaft gibt es ein wesentliches systemisches Spannungsfeld, das zwischen der Mikro- und der Makroperspektive. Die Mikroperspektive beschäftigt sich mit dem Handeln des einzelnen Wirtschaftssubjekts, also des privaten Haushaltes, des Unternehmens oder eines Staatsorgans. Die Makroperspektive beschäftigt sich mit dem Zusammenwirken des ganzen Systems. Diese Perspektive korrespondiert interessanterweise mit der Polarität der individuellen und der systemischen Sichtweise.

Die systemische Perspektive, also die Makroebene einzunehmen ist für uns Menschen schwer zu begreifen. Darauf wies schon der bekannte systemische Theoretiker Matthias Varga von Kibéd hin (Varga v. Kibed o. J.). Menschen sind im systemischen Denken wenig geübt, da es ein Abstrahieren und ein Lösen vom kurzfristigen Erleben erfordert. Es liegt Menschen normalerweise näher, vom Einzelnen auf das Ganze zu schließen. Wenn ich wenig Geld habe, muss ich sparen. Das gilt für eine Familie und ein Unternehmen. Für eine gesamte Volkswirtschaft gilt dies aber nicht unbedingt. Wie die Wirtschaftshistorie mehrfach gezeigt hat, kann dies fatale Folgen haben, wie beispielsweise die restriktive Wirtschaftspolitik in Deutschland in den 1920er-/30er-Jahren, die oft mit dem Namen des Reichskanzlers Heinrich Brüning in Verbindung gebracht wird. Unterbleibt die ergänzende Nachfrage des Staates, werden dem gesamten Wirtschaftskreislauf Mittel entzogen. Wenn der Staat notwendige Investitionen unterlässt, müssen Unternehmen ihre Mitarbeiter entlassen, die dann wiederum kein Geld zum Konsumieren haben. Die Schraube dreht nach unten, die Situation spitzt sich zu. Seitdem gilt, dass ein Staat in einer Krisensituation investieren muss, auch wenn es paradox klingt. Man muss wie in einer Vogelperspektive einen Abstand zu den Dingen gewinnen, um besser sehen zu können. Die Makroebene, als deutlich systemische Ebene der Wirtschaft, braucht eine eigene Perspektive.