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Systemische Transaktionsanalyse

Die Entscheidungen des einzelnen Individuums und die Bewegungen des Gesamtsystems Wirtschaft hängen zusammen, haben Rückwirkungen aufeinander und oft ist ihr Zusammenhang nicht vorhersehbar. Hier bewahrheitet sich der alte Spruch: »Prognosen sind vor allem schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.« Eine interessante Methodenkombination, um dieses Spannungsfeld zu betrachten, stellt die systemische Transaktionsanalyse dar. Sie verbindet den systemischen Ansatz mit der Transaktionsanalyse, die auf individuelle und überschaubare Beziehungskonstellationen gerichtet ist. Die Transaktionsanalyse stellt dabei eine Art Kernkonzept der Psychologie dar, weil sie die Verhaltensebene mit tiefenpsychologischer Betrachtung und humanistischem Menschenbild verbindet (Mohr 2008, 2010). Die Transaktionsanalyse besticht durch eine Orientierung am konkreten Verhalten der Menschen, ihren Transaktionen. Zudem hält sie kreative, optimal komplexitätsreduzierende Modelle für menschliche Reaktionen zur Verfügung und zeigt eine entwicklungsoptimistische Kultur. Mehr dazu in den Bücher zur Transaktionsanalyse (Mohr 2008, 2010). Ihr größter Vorteil besteht darin, dass ihre für die Mikroeinheit konzipierten Modelle sehr gut mit der systemischen und der Makroperspektive zu verbinden sind. Insofern habe ich eine Reihe von Einzelmodellen zur psychologischen Erklärung von Verhalten (Grundbedürfnisse, Denkbezugsrahmen, Ausblendung von Wirklichkeit, Rollen etc.) aus der Transaktionsanalyse bezogen. Das folgende Modell der Systemdynamiken zeigt ein Zusammenwirken aus systemischem Ansatz und Transaktionsanalyse.

Die Systemdynamiken

Der System- und Kreislaufcharakter der Wirtschaft lässt sich mit zehn Perspektiven in vier Feldern analysieren. Als Felder habe ich die Strukturen und Prozesse sowie das Gleichgewichtsstreben (Balancen) und die Pulsation an den äußeren und inneren Grenzlinien eines Systems angenommen. In diesen Feldern habe ich wiederum je zwei bis drei Dynamiken identifiziert. Diese zehn Systemdynamiken will ich jetzt auf das System Wirtschaft anwenden (siehe Abbildung 1).


Die erste Perspektive ist die der Aufmerksamkeit. Wirtschaftsfragen sind grundlegend komplex und alles ist miteinander verbunden, Mensch, Natur und Technik. Deshalb lenkt die Aufmerksamkeit hier das Denken und Handeln und fokussiert immer nur Teilaspekte, auch weil die Komplexität die Fähigkeit des menschlichen Gehirns übersteigt. Aber aus dieser Fokussierung werden häufig Schlüsse gezogen, die dann mehr oder weniger für das ganze System passen.


Die zweite Perspektive ist die der Rollen. Man muss sich klar machen, dass bestimmte Individuen verschiedene Rollen in einem System besetzen. Ein Beispiel ist die Rolle des Kapitaleigentümers, des Produzenten, des Konsumenten oder des regulierenden Staates. Bernd Schmid definiert die Rollen als zusammenhängende Muster mit bestimmtem Denken, Fühlen, Verhalten (Schmid 1994).

Darüber hinaus treten die Rollenträger in bestimmte Beziehungen zu anderen Rollenträgern. Die Art der Beziehung hängt wiederum maßgeblich von deren individuellen Eigenschaften ab. Das lässt sich leicht nachvollziehen. Wie sind etwa zwei zentrale Wirtschaftsbeziehungen, die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung und die Gläubiger-Schuldner-Beziehung definiert? In den Beziehungsdynamiken ist vor allem auch die Frage der Macht zu stellen. Welche Machtformen spielen eine Rolle? Spezifische Beziehungsmuster charakterisieren ein System. Aufmerksamkeit, Rollen und Beziehungen sind die drei Perspektiven, die die Struktur eines Systems beschreiben.

Im nächsten Schritt kann man die typischen Prozesse analysieren, die jedes Teilsystem wie auch die Wirtschaft als Ganzes charakterisieren: Das sind Kommunikations-, Problemlöse- und Erfolgsprozesse. Die Wichtigkeit von Kommunikation im persönlichen und beruflichen Leben ist jedem sofort einleuchtend. Wer hat keine Erfahrung mit Missverständnissen, Fehlern durch mangelnde Kommunikation oder der Erleichterung nach einem klärenden Gespräch? Wird die Kommunikation offen und fair geführt oder ist die Wirtschaftskommunikation charakterisiert durch subtile Werbebotschaft auf der einen und gerichtliche, juristisch spitzfindige Auseinandersetzung auf der anderen Seite?


Wie Probleme angegangen werden, ist ebenfalls ein charakteristisches Zeichen für ein System und es lohnt sich, diesen Prozess zu analysieren. Werden die Kosten des Wirtschaftens realistisch einbezogen oder – wie in vielen Großprojekten – wird ein Teil ausgeblendet? Dieses Phänomen der externen Kosten ist heute ein sehr zentrales bei vielen Projekten. Ein Prozess, auf dem selten der Reflexionsfokus liegt, ist der Erfolg. Was ist der Erfolg des Wirtschaftens, wie wird er herbeigeführt und wem kommt er zugute? Wird er überhaupt betrachtet, gefeiert, zelebriert oder ignoriert?

Nach Betrachtung der Systemstruktur und der Systemprozesse kommen noch vier typisch systemische Perspektiven hinzu. Befinden sich die verschiedenen Kraftfelder in einem System in einer Balance? Dies kann man sich beispielsweise am System zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ansehen. Mal kann einer Erfolge vorweisen, mal muss er Rückschläge eingestehen. Sie verhandeln so lange, bis für beide Systeme die Balance stimmt. Man kann für lebende Systeme eine Gleichgewichtstendenz annehmen, die aus ihrem Streben nach Selbsterhalt folgt (»Homöostaseprinzip«). Organisationssysteme, zu denen man eine auf Rechtsgrundlagen beruhende Wirtschaft zählen kann, können widerstreitende Impulse, Interessen- und Zielrichtungen unter einem Dach vereinen (Simon 2007).

Interessant ist auch zu beobachten, in wieweit sich gleichartige Prinzipien in verschiedenen Teilsystemen wiederholen. Dies nennt man Rekursivität. Wenn in einem Wirtschaftssystem gleichermaßen transparente wie an anderer Stelle korrupte Prinzipien gelten, ist die Rekursivität niedrig. Auch die relativ geringe Ausprägung demokratischer Prinzipien in der Wirtschaft im Gegensatz zur Macht des Geldes – beispielsweise bei gerichtlichen Auseinandersetzungen – ist eine Einschränkung von Rekursivität. Sind die Prinzipien in verschiedenen Teilsystemen eines Systems ähnlich, sind die Vorhersagbarkeit besser und die Transaktionskosten geringer. Stafford Beer hat diese Sichtweise in seiner »viable systems theory« zuerst beschrieben (Beer 1994). Ein Beispiel sind auch Steuergesetze. Sie können rein klientelbezogen, etwa bei der Mehrwertsteuersonderregelung durch die schwarz-gelbe Regierung für das Hotel- und Gaststättengewerbe in 2009, formuliert sein oder generell für alle gelten.


Und dann noch die Frage: Wie reagieren Wirtschaftssysteme an ihren äußeren Grenzlinien? Wie also koppeln Teilsysteme an andere an oder grenzen sich von ihnen ab? Für menschliche Arbeitskräfte gibt es Einwanderungsbedingungen, für Kapital hat man noch keine Auffanglager gegründet, so resümiert Fritz Simon in seiner »systemischen Wirtschaftstheorie«. Diese »Äußere Pulsation« ist ein Beispiel für Offenheit oder Geschlossenheit des Systems.

Die »Innere Pulsation« betrachtet, wie sich in einem System Subsysteme entsprechend den technologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen entwickeln. Beispielsweise ändert sich die Nahversorgung in vielen entwickelten Ländern. Kleine Lebensmittelläden in Fußwegnähe, die den täglichen Bedarf decken, verschwinden und es entstehen nur mit dem Auto erreichbare Einkaufszentren.

Die Pulsationen, das heißt die Dynamiken an den Grenzlinien von Systemen, sind im Zeitalter der Globalisierung für wirtschaftliche Systeme von hoher Bedeutung. Pulsation ist dann optimal, wenn angemessene Offenheit, Durchlässigkeit und kooperative Beziehungsgestaltung an äußeren und inneren Grenzlinien vorliegt. Nicht wünschenswert sind völlige Durchlässigkeit oder auch Abschottung gegen äußere Impulse.

Insgesamt gibt es in der Betrachtung von Systemen eine Sehnsucht der Menschen, das Komplexe möglichst zu vereinfachen. Nicht wenige wirtschaftstheoretische Ansätze erliegen aber auch gerade hier der Versuchung einfacher – oder zu einfacher – Lösungen. Manchmal wird aber erst durch die Erfassung der Komplexität die Wirklichkeit erfahrbar. Die systemische Perspektive ist eine frei gewählte Aufmerksamkeitsrichtung. Dieses Buch ist eine Einladung zu einer systemischen Sichtweise auf die Wirtschaft.

Fallbeispiel 2000–20XX: Wirtschaft am seidenen Faden

Die erste Anwendung der systemischen Wirtschaftsanalyse gilt der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008. Systemisch auf die Wirtschaft zu schauen, bedeutet ihre Dynamiken zu erkennen. Die grundlegende systemische Perspektive ist die Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt durch den Einfluss der Lobbyisten gab gerade diese Krise ein interessantes Beispiel für die Verschiebung der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist das wichtigste Steuerungsprinzip in Humansystemen.

Im Laufe der Finanzkrise ist es den Akteuren gelungen, die Aufmerksamkeit zu verschieben. Aus einer von den Banken verursachten Finanzkrise wurde immer mehr eine Staatsschuldenkrise. In einem schleichenden Prozess wurden der Staat und die Gemeinwesen, die unbeabsichtigt in die Retterrolle geraten waren, zur Krisenursache (»Staatsverschuldung«) erklärt. Aus dem Retter wurde das Opfer. Die Gläubiger und die Eigner der Finanzinstitute wurden nicht zur Kasse gebeten. Angefangen hatte allerdings alles mit dem Fehlverhalten der Banken. Die Staaten und überstaatlichen Institutionen kamen unfreiwillig in die Rolle eines mächtigen Wirtschaftsakteurs.

Seit 2008 hängt nun die Wirtschaft gefühlt am seidenen Faden. Sie erscheint wie in einem großen Feldforschungslabor mit immer neuen Ereignissen. Was früher undenkbar war, etwa ständiges Fluten der Geldmärkte mit großer Liquidität, wird weltweit entgegen der vorher herrschenden volkswirtschaftlichen Lehrmeinung dauerhaft praktiziert. Gleichzeitig ist Unsicherheit ein beherrschendes Thema. Drohende Zusammenbrüche von Wirtschaftsakteuren und skandalöse Rechtsvergehen (Libor-Absprachen, Bilanzfälschungen, Veruntreuung von Anlagegeldern) reihen sich im Rhythmus weniger Monate aneinander. Es waren Wirtschaftsszenarien, die bis dahin kaum jemand für möglich gehalten hatte: Eine der größten Banken der Welt, die Lehman Brothers Bank, geht Pleite und die Auswirkungen werden sofort überall auf der Welt spürbar. Sogar die deutschen Spargelder scheinen in Gefahr. Nur durch das beherzte Eingreifen von Bundeskanzlerin und Finanzminister und deren – allerdings uneinlösbares Versprechen – die Spareinlagen seien sicher, wird Schlimmeres vermieden. Die Lehman-Pleite löste einen Beinahe-Zusammenbruch des Bankensystems und damit des Wirtschaftssystems aus. So nah am Crash war man seit den dreißiger Jahren nicht mehr.

Die Volkswirtschaften reagierten mit der Verstaatlichung großer Teile ihrer Bankenindustrie. An dieser Stelle tauschten Staat und private Unternehmen ihre Rollen. Rollen sind die zweite systemische Dynamik und sind nach der Aufmerksamkeit eine grundlegende und wesentliche Perspektive in jedem System. In der Wirtschaft ist entscheidend, wer über wirtschaftliche Güter verfügt. Es geht um Fragen wie: Gibt es Privateigentum? Wie ist die Eigentümerrolle genau ausgestaltet (»Sozialverpflichtung des Eigentums«)? Im heute immer noch laufenden Feldexperiment »Bewältigung der Finanzkrise« trat der Staat plötzlich in die Eigentümerrolle wichtiger großer Banken wie der Commerzbank, nahm aber die Managementrolle nicht wahr. Die beließ man bei den Bankern. So entstand eine Vergesellschaftung des Risikos ohne wirkliche Übernahme der Verfügungsgewalt. Die Staaten fühlten sich aber verpflichtet, die Banken aufzufangen. TINA (»There Is No Alternative«) hieß das Aufmerksamkeitslenkungsprinzip. Die Banken wurden für die Aufrechterhaltung des gesamten Systems gleichermaßen als notwendig wie für unfähig erklärt. Sie waren unfähig, sich selbst zu heilen. Andererseits hieß es, sie seien »systemrelevant«. Der Begriff »systemrelevant« kam auf, weil man zu diesem Zeitpunkt Angst hatte, sich Wirtschaft anders vorzustellen.

Auch entgegen der bis kurz vorher herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehre des Neoliberalismus wurden riesige Konjunkturprogramme zur Rettung der Wirtschaft eingesetzt. Ein Beispiel war die »Abwrackprämie« für Autos eines bestimmten Alters. Der Staat unterstützte die Haushalte und Unternehmen in ihrer Rolle als Nachfrager im Wirtschaftskreislauf. Zudem kauften die Zentralbanken in ungeahntem Ausmaß eigene Staatsanleihen auf, um diesen Markt zu stabilisieren und Liquidität in die Wirtschaft zu pumpen. Früher hat man das »Geld drucken« genannt. Die Programme kosten sehr viel Geld und haben die Durchschnittsverschuldung in Europa von 70 auf 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) erhöht. Festzuhalten bleibt, dass der Staat in dieser Situation von seiner Rolle als Rahmengeber und Normengestalter zu einem aktiven Teilnehmer in der Finanzindustrie wurde.

Die systemische Analyse schaut auch auf die Beziehungen in einem System. Die Beziehungen zwischen den Entscheidern in Politik, Finanzwirtschaft, Realwirtschaft und der Öffentlichkeit schienen sich zu wandeln. Das Vertrauen, eine Grundlage für Beziehungen, ist in wirtschaftliche Institutionen deutlich geschwunden.

Insbesondere die Finanzwirtschaft stand in der bisherigen Form in Frage. Zudem gab es kaum Manager und Entscheider, von denen Aussagen zu hören waren, sie hätten falsch entschieden oder es täte ihnen irgendetwas leid. Man verfuhr im Sinne von Helmut Kohls Maxime, der einmal gesagt haben soll: Wir machen keine Fehler, aber es gibt manchmal Fehleinschätzungen. Eine offene Kommunikation über wesentliche Aspekte dieser Krise fand nicht statt. Im Gegenteil, als die Nervosität ein wenig zurückgegangen war, mahnten die Lobbyvertreter der Finanzwirtschaft sofort wieder vor Regulierungen und drohten oder ängstigten mit mangelnder Kreditversorgung der Wirtschaft. Die Beziehungen änderten sich erneut.

Dabei hatte die Finanzkrise einen interessanten Auslöser: Die amerikanischen Regierungen unter Bill Clinton und George W. Bush wollten den amerikanischen Traum vom Eigenheim allen Amerikanern ermöglichen, eine quasi kapitalistische Sozialpolitik. Dazu wurden Hypotheken steuerlich begünstigt, und im Jahr 2003 senkte die US-Notenbank ihren Leitzins auf ein Prozent. Damit wurden die Kredite spottbillig. Millionen amerikanischer Haushalte kauften sich ein Eigenheim auf Kredit und ohne Sicherheiten. Ihre einzige Sicherheit stellte die waghalsige Voraussage ständig steigender Immobilienpreise dar. Als die Hypothekenzinsen wieder stiegen, konnten viele Menschen ihre Kredite nicht mehr bedienen. Anstatt ihr Haus abzuzahlen, nahmen sie weitere Konsumkredite auf und verschuldeten sich noch mehr. Wer sein Haus verkaufen wollte, merkte aber bald, dass er mit dieser Idee nicht alleine war. Die Preise für Häuser gingen in den Keller. Die Immobilienblase war geplatzt.

Auf keiner Ebene und zu keinem Zeitpunkt hatte eine Kommunikation des Risikos zwischen Banken und Kunden oder zwischen Banken und Staat stattgefunden. Risiken und die Kommunikation darüber waren ausgeblendet worden. Zusätzlich gelang es den amerikanischen Banken, ihre Bilanzsumme mit neuen Produkten, sogenannten Derivaten, hochzutreiben. Die Bilanzsumme – also die Größe, Bedeutung und Macht – einer Bank addiert sich aus den vergebenen Krediten. Die Bilanzsumme der Deutschen Bank war mit 2,2 Billionen Euro nur etwas kleiner als das gesamte deutsche Bruttosozialprodukt mit 2,9 Billionen Euro (2013).

Die US-Banken hatten aus den Immobilien-Krediten neue Kreditpakete, die sogenannten Derivate, entwickelt, die sie weltweit an Investoren verkauften. Derivate sind nichts anderes als Wetten auf das Eintreten eines bestimmten Ereignisses. Ohne es genau zu wissen, spekulierten Kunden in Europa darauf, ob Kunden in Amerika ihre Kredite bedienen könnten. Das System bröckelte und brach zusammen, als massenhaft Kunden ihre Kredite wirklich nicht mehr bedienen konnten und die Halter der Derivate alle ihren Wetterlös haben wollten. Die Banken, die zuerst betroffen waren, fanden eine Problemlösung und meldeten Insolvenz an, stellten sich also unter staatlichen Schutz. In den USA nennt man das »Chapter 11«. Die amerikanische Regierung konnte die drei großen Banken der klingenden Namen (Bear Stearns, Fannie Mae, Freddie Mac) mit einigen Milliarden Dollar stützen. Als am 15. September 2008 die Bank Lehman Brothers Chapter 11 beantragte, verzichtete der konservative, marktliberal eingestellte US-Finanzminister und vormalige Goldman Sachs-Manager Henry Paulson auf staatliche Unterstützung und ließ die Bank pleitegehen. Viele erinnern sich, wie die Mitarbeiter von Lehman mit kleinen Kartons, aus denen Ordner oder Blumen ragten, das Finanzviertel räumten. Die psychologische Unsicherheit über die Werthaltigkeit und Zuverlässigkeit aller Banken wuchs immens. Das Bankensystem in der bisherigen Form verlor sein wichtigstes Kapital, das Vertrauen. Vertrauen ist eine rein psychologische Variable, im Bankensektor existierte es plötzlich nicht mehr. Und das Misstrauen hält bis heute an. Der unmittelbare finanzielle Schaden, der durch diese plötzliche Insolvenz der Bank Lehman Brothers hervorgerufen wurde, wird auf 50 bis 75 Milliarden US-Dollar geschätzt. »Peanuts«, würde manch ein Banker sagen.

Das Resultat, der Erfolg des Vorganges, war jedoch nachhaltig. Die Finanzkrise brachte Staaten an den Abgrund. Der psychologische, über das systemische Zusammenwirken erzeugte Schaden war gigantisch.

Mindestens ein wichtiger Teil der Wirtschaft, die Finanzindustrie, hat damit ihr Scheitern dokumentiert. Gier und »moral hazard«, wie man moralische Vergehen in der Wirtschaft nennt, haben entscheidend dazu beigetragen. Da man dieser Branche in den USA auch die Altersvorsorge der Menschen anvertraut hat, sind die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert. Die Fachleute halten seit 2008 den Atem an, dass bloß nichts Weiteres passiert. Die psychologischen Konsequenzen sind trotz Schnelllebigkeit des wirtschaftlichen Geschehens gravierend. Ob bei den Lehman Brothers die besonders »kriegerische« Sprache ihres Managements zu dem Desaster beigetragen hat? Der frühere CEO Richard Fuld sagte jedenfalls gerne Sätze wie »Wir werden die Konkurrenten vernichten«. Das eine solche Haltung nicht gerade zur solidarischen Rettung durch andere eingeladen hat, liegt auf der Hand. Mit Lehman »Sisters« wäre das jedenfalls nicht passiert.

Fest steht jedoch auch, dass ein aufgeblähter Finanzkapitalismus lange Zeit Wohlstand und Wachstum aufrecht erhalten hat. Aber letztlich fragile, psychologisch aufrecht erhaltende Kreisläufe charakterisierten die Wirtschaft. Hier kommt die systemische Perspektive der Balancen ins Spiel. Solange sich die aufgebauten Türme in Balance halten lassen, funktioniert das System, doch das psychologische Gleichgewicht kann zusammenbrechen, sobald ein Steinchen herausgezogen wird. In der Finanzkrise war dieses Steinchen die Pleite der Lehman Brothers. Und offenbar waren Finanzexperten weltweit von den Auswirkungen dieser Gleichgewichtsstörung überrascht. Das faktische und psychologische Einschreiten des Staates korrigierte das aus den Fugen geratene Gleichgewicht.

Folgerichtig wurde in Deutschland 2013 die Partei, die für die ungeregelte wirtschaftliche Aktivität stand und am meisten vor Staatseingriffen in die Wirtschaft gewarnt hatte, die FDP, aus dem Bundestag herausgewählt. Ihre wirtschaftspolitische oder besser gesagt wirtschaftsideologische Position war für die Menschen praktisch widerlegt.

Die Rekursivität, das Sich-Wiederholen ähnlicher Prinzipien, wird eigentlich in der Wirtschaftstheorie in vielen Modellen unterstellt. Das notwendige, durchgehende Prinzip in der Wirtschaftskrise war die Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs und seiner Geschwindigkeit. Die systemischen Interventionen zur Finanzkrise zielten bezüglich Rekursivität auf das Erhalten dieses wirtschaftlichen Kreislaufs und seiner Geschwindigkeit ab.

Die neoliberal denkende amerikanische Bush-Regierung war mit ihrer Entscheidung, Lehman Brothers nicht zu retten, allerdings dem Prinzip der freien Marktwirtschaft gefolgt. Wenn ein Unternehmen gescheitert ist, soll es vom Markt verschwinden. Die psychologischen Folgen dieser Intervention ließ viele dann sehr schnell umdenken. Nachdem die Wirtschaftspolitik von John Maynard Keynes, die gezielte Beeinflussung der Wirtschaft durch staatliche Nachfrage, seit den 1990ern »beerdigt« schien, stand sie innerhalb weniger Wochen in der ganzen Welt wieder auf.

An dieser Stelle wird auch klar, wie die Subsysteme (Unternehmen, Konsumenten, Staat, Außenwirtschaft) miteinander agieren. Der Staat greift in die Wirtschaft ein, ob er will oder nicht. Nach der Rettung der Banken waren in Deutschland Konjunkturprogramme in Milliardenhöhe, etwa für die Abwrackprämie möglich, um rein psychologisch Handlungsfähigkeit und Sicherheit zu suggerieren. Diese Innere Pulsation, das Zusammenwirken der Subsysteme, ist in Deutschland auf der Basis der föderalistisch geprägten breiten Wirtschaftsstruktur – ähnlich wie in anderen Bundesstaaten – recht gut gelungen, aber in einigen Nachbarländern (Großbritannien, Frankreich) nicht. Zentralistisch organisierte Länder scheinen zu wenig regionale Wirtschaftskräfte auszubilden.

Wirtschaftssysteme kannten bisher auch eine Äußere Pulsation, das Setzen einer äußeren Grenzlinie. Früher bildeten alle Ostblockstaaten einen eigenen Wirtschaftsraum. Das ist vorbei. Es gibt sie aber noch, die äußeren Grenzlinien. Mittlerweile existieren nur noch einige nicht in die Weltwirtschaft integrierte »Schurkenstaaten«, wie George W. Bush diese Länder bezeichnete. Jedoch der Ausschluss erscheint heute immer weniger möglich. Man kann weder Russland noch Griechenland aus der Weltwirtschaft ausschließen. Die herrschende Aufmerksamkeit der globalen Welt ist der Wettbewerb – eine Form des Kampfes – aller Nationen auf dem Weltmarkt.

Gleichzeitig sind die systemischen Verknüpfungen heute sehr viel deutlicher als früher. Die Vernetzung aller wichtigen Wirtschaftsnationen, denen Gremien wie die G8 und G20 institutionell Rechnung tragen, aber auch die Verbindung mit Schwellenländern, jenen, die unsere T-Shirts produzieren, mit Russland und dem Irak, die unser Öl liefern, und mit Afrika, wo Millionen von Menschen einen Weg nach Europa suchen, lassen das globale System deutlich werden. Tatsächlich leben wir in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeit. Darin, diese nicht in ausbeuterischen Beziehungen zu leben, besteht heute die große Herausforderung. In der Inklusion, dem Einschließen aller, liegt heute ein Quantensprung in der Wirtschaftsentwicklung. Zur Diskussion stehen allerdings die Spielregeln, die dabei verlangt werden.