Kitabı oku: «Das Netz der Freunde», sayfa 2
Schauen wir mal, dass ihr euch gut hier einlebt. Vera, du weißt, dass du mich jederzeit rufen kannst, wenn du mich brauchst?“
Mama ergreift die Hände von Lara. Irina sieht den Dank in ihren Augen. Lara meint es wirklich ehrlich, das spürt Irina, und Mama, die scheint das auch zu spüren. Dann nimmt Lara die Hand von Dimmy, Oma nimmt Irinas Hand und lacht. Leon organisiert einen Rollwagen für die vielen Taschen, holt sie am Gepäckband ab und sie gehen zusammen zum Taxi. Die sind hier fast weiß und nicht so schön gelb wie in Atlanta, aber auch sie fahren mit Solarstrom und Gas. Es ist inzwischen überall auf der Welt so.
Oma und Lara bringen die Familie zu ihrer neuen Wohnung, dann verabschieden sie sich. Abends werden sie sich wieder sehen. Oma hat sie zum essen eingeladen. Das weiß Irina schon. Wenn Oma zum Essen einlädt, dann wird mächtig was aufgefahren.
Als Irina, Dimmy, Vera und Leon endlich alleine in der Wohnung sind, bittet Leon alle zu sich.
„Wir sind gerade eben erst durch eine neue Tür getreten. Vor uns liegt eine ungewisse Zukunft. Nun nicht ganz. Wir haben viele Freunde hier. Wir haben unsere sicheren Jobs, aber vieles ist noch unsicher und neu. Wollt ihr erst mal in der Wohnung ankommen, ein bisschen Musik hören, ein bisschen nachdenken oder schlafen? Nachher fahren wir mit der U-Bahn und mit dem Bus ins Zentrum. Nein, wir springen nicht dorthin. Wir müssen uns erst einmal erden, bevor wir diese Kräfte nutzen. Erdung heißt, sich hier vertraut zu machen und diese Bindung dauerhaft zu knüpfen. Wir benutzen die Verkehrsmittel, die alle hier benutzen. Wir gehen zu Fuß. Wir fahren U-Bahn und Bus. Fahrräder haben wir hier nicht, und das Board kann Dimmy später im „Zentrum“ nutzen, aber nicht auf unseren ersten Touren durch Berlin. Das Zauberwort heißt Erdung.“
Sie sind aufgekratzt und Leon sieht, dass sie jetzt nicht schlafen werden, deshalb fängt er sein leichtes Gesumm an. Dimmy versucht sich anfangs dagegen zu wehren, aber gegen die Kraft von Leon kommt er nicht an. Irina weiß das schon und sie macht gar nicht erst den Versuch, sich zu sträuben. Sie schlafen auf der Wohnzimmercouch ein. Leon deckt sie zu und zieht sich mit Vera zurück.
Sie legen sich in das große Bett, angezogen, wie sie sind. Sie legen die Arme umeinander und Leon summe leicht, bis auch Vera und Leon in einen leichten Schlaf fallen.
Als Leon aufwacht, schläft Vera noch. Er verspürt Lust auf Vera und beginnt sie zu streicheln. Vera wacht davon auf und es ist das erste mal, wo sie in Deutschland zusammen kommen. Dann liegen sie keuchend nebeneinander und Veras Gesicht liegg an Leons unrasierter Wange. Es kratzt, aber es macht Vera heute nichts aus. Ach, was liebt sie diesen Mann.
Dann sieht Leon auf seine Uhr. „Wollen wir mal?“
„Ist schon Zeit“, fragt Vera und Leon nickt. „Wir müssen nicht hetzen, aber wir sollten die Kinder jetzt mal wecken.
Sie duschen alle, sie ziehen sich um, und machen sich auf den Weg. Es ist ein langes Stück Fahrt. Sie müssen mehrmals umsteigen, schließlich geht es im Bus weiter. „Zurück können wir springen“, meint Leon beruhigend, aber jetzt lernen wir erst mal ein Stück von Berlin kennen.“
Berlin ist um vieles größer als Atlanta. Irina weiß das schon, aber die Fahrt zeigt ihr, was Größe bedeutet. Atlanta hat grade mal 640.000 Einwohner, Berlin inzwischen fast sieben Millionen. Es war in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen.
Das „Zentrum“ kennt Irina bereits.
Sie laufen heute die Treppen hinauf, bis sie an diese Stahltür kommen, die das oberste Geschoß verschließt. Leon hat eine Codekarte und schließt die Tür damit auf.
Dann gibt es nur noch eine Treppe. Hier oben ist das Reich der Familie. Hier ist die Wohnung von Oma. Es gibt hier Gästewohnungen und Zimmer, die nur für die Familie reserviert sind.
Als sie dann durch die Tür von Oma Katharinas Wohnung kommen, hören sie schon Gelächter und Stimmen.
Sie sind nicht die Einzigen. Oma Katharina hat Gäste.
Als sie in die riesige Wohnküche kommen, staunt Irina nicht schlecht. Tante Helen ist da und ihr kleines Mädchen, Aysa mit ihren vier Kindern und mehreren Enkelkindern, Roman, Jochen, Lara, und ein paar Musiker, die sie schon kennt. Robert und auch Evi und Cindy. Dann sind da noch ein paar Freunde von Opa und Oma und auch Tante Conny, die Geigenvirtuosin. Auch Juanita. Ihre elfjährige Tochter Elvira und zwei weitere Kinder sind da, die Juanita jetzt von einem deutschen Filmproduzenten bekommen hat. Onkel Spek sitz da, und sogar Jens Faruk und Fatima. Irina kennt sie alle und doch wieder nicht.
Fatima ist eine der ganz Großen in der Musikbranche. Eine Legende. Ihr Sohn Jens Faruk hatte ihr nachgeeifert, aber er hatte sich irgendwann vom Gesang und Gitarre auf das Musikmanagement verlegt. Jens Faruk ist so etwas wie der Guru unter den Musikmanagern. Er tritt als Musiker (der er ja immer noch ist) selten öffentlich auf, obwohl er als Musiker ein Genie ist, aber er kennt die Gruppen fast alle. Nicht nur in Berlin. Auch in London, Amsterdam, Stockholm, Frankfurt und New York. Er managt Bands in den USA, in Frankreich, Australien und China, in Indien und - natürlich auch in Deutschland. Seine Firma hat allein in Berlin 180 Mitarbeiter, und es gibt Ableger in Bombay, New York, London, Lima, und sogar in Moskau. Viel mehr weiß Irina allerdings auch nicht, außer, dass Jens Faruk bei Videoproduktionen eng mit Irinas Tante Lara zusammenarbeitet, und die wiederum betreibt die bedeutendste Videoproduktion in Europa.
Die Küche ist wirklich riesig. Es duftet nach Braten und sie werden mit einem vielstimmigen Hallo begrüßt.
Dimmy ist baff. Alles hat er erwartet, aber das nicht. Er hat in den USA eine große Familie. Er kennt die große Familie in Peru. Das hier steht dem in nichts nach. Jetzt versteht er, warum Opa ihn eingesummt hatte. Das wird ein langer Abend werden.
Oma hat Pute gemacht. Es gibt diverse Gemüse und Sossen. Reis, Nudeln und Kartoffeln. Tante Aysa hatte sich um die Herstellung von frischen Säften gekümmert. Das ist es, was sie so besonders gut kann. Alle helfen irgendwie mit, und nach Eis und Kaffee gehen sie hinüber in das Wohnzimmer - eigentlich eine Lounge - und Evi fängt an zu singen. Sie wird bald begleitet von Robert, Cindy und Jens Faruk. Fatima beginnt zu tanzen und summt dazu. Die Kinder und Enkelkinder von Aysa tanzen mit. Es ist eine gewaltige Jamsession und ein Stück folgt dem nächsten.
Tante Helen zieht sich mehrfach zurück, um ihr Kind in Ruhe zu stillen. Sie ist bereits zum zweiten mal schwanger, aber es ist noch nicht viel zu sehen. Irina weiß schon, dass ihr leiblicher Vater Fred auch der Vater des ungeborenen Kindes von Helen ist. Sie hatte mit Opa darüber geredet und Opa hatte mit den Schultern gezuckt. „Das war der Wunsch von Helen. Sonja war einverstanden. Fred war einverstanden. Mehr muss uns nicht interessieren. Du wirst also noch einen Bruder bekommen.“
Ja, Irina hat viele leibliche Geschwister, aber sie weiß, dass alle diese Geschwister Kinder der Liebe sind. Alle diese verschiedenen „Frauen“ von Papa wissen voneinander. Sie hatten viele Jahre alle zusammen gelebt. Irina hatte das nie anders erlebt, als dass sie eine gemeinsame große Familie sind. Die andern Mütter waren auch für Vera wie eine Mutter. Als Mama dann fortgezogen war nach Detroit, um die Ausbildung der Mac Best Food Manager zu organisieren, hatte das an dem Zusammenhalt nichts geändert. Als Mama dann Papa verließ, um mit Opa Leon zusammenzuleben, hatte das auch nichts geändert an dieser wunderbaren großen Gemeinsamkeit.
Nun spürt Irina, dass sie hier in Berlin noch eine zweite Familie hat. Eine Familie aus vielen guten Freunden. Es ist ein schönes Gefühl.
Als sie müde werden, beschließt man, das Fest aufzulösen. Es hat viel schmutziges Geschirr gegeben. Leon schlägt vor, sie werden morgen helfen kommen.
Dann springt Leon mit Vera und seinen beiden Enkelkindern in ihre neue Wohnung. Irina und Dimmy sind inzwischen so müde, dass sie sofort einschlafen, und auch Vera und Leon ziehen sich zurück.
Am nächsten Morgen schlafen sie aus, dann springen sie zu Oma Katharina und helfen ihr beim Abwasch und beim Aufräumen.
Später gehen sie zu Aysa, nehmen einen Brunch und Leon schlägt vor, gemeinsam in den Stadtwald zu fahren. Unten im Sportshop mieten sie sich Elektroräder, sie nehmen den Linienbus mit dem Fahrradanhänger und verbringen den Nachmittag im Stadtwald. Es gibt da mehrere Ausflugsrestaurants. Sie essen schließlich etwas zu abend, bringen die Räder zurück und springen in die Wohnung. Irina und Dimmy sind müde. Die Zeitumstellung macht ihnen zu schaffen, und sie gehen gleich ins Bett. Leon und Vera haben den Abend für sich und genießen die Zeit mit sich alleine.
4.
Am nächsten Morgen wird Irina wach, weil es Sturm klingelt.
Sie schlüpft in den Bademantel und geht an die Tür. Sie trifft Opa Leon im Flur. Draußen steht ein Lieferant, den Aysa geschickt hat. Aysa, die eine ganze Reihe von türkischen Läden in Berlin befehligt. Sie lässt vier große Kartons bringen. Wasser, Säfte, Brot, Käse, Oliven, Butter, frische Hörnchen und türkisches Fladenbrot. Es gibt Kiwis, Orangen, Bananen, Äpfel und verschiedene Gemüsesorten, wie Tomate, Paprika und Gurke. Außerdem Kaffee und Tee.
Der Lieferant hilft, alles in die Küche zu tragen, dann verabschiedet er sich. Ein Brief liegt dabei, von Aysa und Lara. Es ist ein Willkommensgeschenk. Irina ist wirklich baff.
Leon lacht. „Dann wollen wir mal. Hilfst du mir?“
Sie kochen Kaffee. Sie decken den Tisch. Irina kann sich das nicht verkneifen und muß an den frischen Hörnchen knabbern. Croissants gibt es in den USA so gut wie nicht. Das ist wirklich eine Spezialität. Aysa hat noch etwas mitgeschickt: salzige Butter, Marmelade, handgemachtes Pflaumenmus und Honig.
„Pflaumenmus? Opa, was ist das?“
„Heb dir dein Hörnchen auf“, rät Leon. „Probier das, zusammen mit süßer Butter und Pflaumenmus. Dann weist du, was das ist.“
Dann gehen sie Dimmy und Mama wecken.
Es heißt, was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht, aber Irina konzentriert sich ganz auf das Pflaumenmus. Sie riecht erst daran. Es ist fest und fast schwarz. Es geht mit dem Messer schwer zu schneiden und es ist ziemlich schwierig das handgemachte und fest eingekochte Mus auf das weiche Hörnchen zu bringen, ohne es dabei zu zerbröseln, aber Irina läßt sich nicht entmutigen.
Dann macht sie die Augen zu und steckt das Hörnchen in den Mund. Sie beißt ab und kaut langsam. Der Geschmack des Hörnchens, der fettigen Butter und der süßen pflaumenartigen Masse vereinigen sich zu etwas völlig Neuem. Irina spürt, wie der Speichel in den Mundraum schießt. Der Geschmack und der Duft steigen ihr in die Nase, und die Geschmacksnerven von Zunge und Gaumen erfassen dieses Neue als Genuss.
Es ist etwas völlig anderes, als dieses Essen bei Oma. Diese Pute und dieses Gemüse. Es ist fein und doch kräftig. Irina sitzt da, mit geschlossenen Augen und vergißt die Welt um sich. So etwas hat sie wirklich noch nie gegessen. „Hmmm.“
Dimmy ist eher für was Kräftiges. Schwarzwaldschinken, Schimmelkäse und italienische Salami. Aysa hat ein Schwarzbrot mitgeschickt. Dimmy belegt jetzt Fladenbrot mit Schinken, einem Salatblatt und Gurkenscheiben, bestreicht das Schwarzbrot mit gesalzener Butter und legt die Scheibe noch obendrauf. „Whoaah“, meinte er. „Musst du mal probieren. Das ist voll Hammer.“
Leon lächelt. Er fasst nach Veras Hand. Das ist ein guter Anfang.
Später reden sie darüber, wie sie die nächsten zwei Wochen verbringen werden.
Leon ist erst mal für Urlaub. Bisschen Müggelsee, bisschen Musikzentrum, bisschen Ostsee, dort bei Tante Cindy und ihren Pferden in der Holsteinischen Schweiz, und auch mal Sachsen, Brandenburg, München, oder an die Elbe.
Langsam eingewöhnen, schlägt er vor.
Aus den 2 Wochen werden drei. Nun haben sie nur noch eine Woche bis zum Schulanfang und Leon sieht mit ihnen nach dem Haus in Brandenburg.
Er hatte in der Firma zwei Mitarbeiter beauftragt, sich um alles zu kümmern. Als sie jetzt dort nachsehen, ist innen fast alles fertig. Putz, Elektrik, Tapeten, die Böden. Die Fußleisten fehlen, und die Fliesen sind noch nicht ganz fertig verfugt. Die Türen haben noch keine Klinken und der Außenputz ist nicht dran. Der Garten und der Zaun fehlen auch noch.
Im Prinzip ist das Haus bezugsfertig. Die Firmen hatten wirklich schnell gearbeitet. Es gibt keinen Keller. Das hatte man sich gespart. Stattdessen gibt es eine starke Beton-Bodenplatte, die mit Stelen im Boden verankert ist. Sie ist gegen die Bodenkälte gedämmt und es gibt eine Fußbodenheizung. Die Solarpaneelen auf dem Dach sind noch nicht angeschlossen, aber sie haben schon heißes Wasser über die Erdwärmepumpe.
So nutzen sie die letzte Ferienwoche, um sich Möbel zu kaufen und die Wohnung einzurichten. In der kleinen Stadt gibt es außerdem noch eine kleine Wohnung, die ist für Mo Li, das frühere Kindermädchen von Irina und Dimmy. Vera und Leon hatten mit Mo Li gesprochen. Sie wird in einigen Tagen mit ihrer kleinen Schwester und ihrem Neffen hier ankommen und sie wird auch in Zukunft für die Kinder da sein.
Das finden Irina und Dimmy wirklich gut. Mo Li ist schon viele Jahre bei ihnen. Sie ist wie eine zweite Mutter für sie. Vera und Leon hatten sie überredet, von den USA hierher zu ziehen. Es hatte etwas Überredungskunst gekostet, denn die kleine Schwester von Mo Li und der Neffe müssen hier eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz bekommen. Dafür wird Leon sorgen. Er hat es versprochen.
Da Mo Li die Kinder liebt, hat sie sich schließlich bereit erklärt. Leon wird sie am Airport Berlin abholen.
Irina findet, das ist wirklich eine gute Lösung. Mo Li ist ein Stück Heimat. Sie ist nicht nur vertraut, Mo Li hat auch eiserne Regeln. Irina hat das zu schätzen gelernt. Mo Li ist herzenswarm, aber Vera hatte immer wieder und immer wieder mit Mo Li und den Kindern über die Notwendigkeit von festen Regeln gesprochen. „Das ist es, was uns Halt gibt“. Mo Li hatte immer dafür gesorgt, dass die von Vera gesetzten Regeln auch eingehalten werden.
Mo Li hatte auch im letzten Jahr mit ihnen zusammen in Atlanta gewohnt. Ihre kleine Schwester und ihr Neffe waren „Zuhause“ in Detroit geblieben und hatten ihre Ausbildung zu Ende gemacht. Sie waren von einer Nachbarin betreut worden und Vera hatte die Kosten dafür übernommen. Nein, wirklich, Mo Li gehört schon fast zur Familie.
5.
Irina ist Opa Leon dankbar, dass er ihnen dieses Stück Urlaub gegönnt hat. Dieses Möbelkaufen und Einrichten ist zwar spannend, aber es ist auch anstrengend. Schließlich müssen all ihre Sachen aus dem Container noch ins Haus gebracht werden, die sie mit Leon und Dimmy dorthin gebracht hat. >Dieses Einrichten, Auspacken und Einräumen ist nervig und in diesen Tagen liegt wirklich viel rum. Bei Dimmy sieht es aus wie nach der Schlacht im Teutoburger Wald und schließlich muß Mama ihrem Sohn helfen. Dimmy bringt das nicht alleine auf die Reihe.
Irina ist sich aber auch darüber im Klaren, dass sie in einer völlig privilegierten Situation ist. Opa ist hier der Chef dieser riesigen Firma. Sie haben genug Geld. Sie werden im eigenen Haus wohnen und sie haben diese übernatürlichen Kräfte. Außerdem sprechen sie fließend deutsch, englisch, spanisch und russisch. Wenn es Konflikte gibt, so hatten sie gelernt, die anderen einzusummen. Schließlich hatte es Opa bisher verstanden, sie hervorragend in dieses neue Land einzuführen und dann ist da auch noch diese riesige Familie aus Freunden, auf die sie im Notfall zurückgreifen können.
Irina sieht offen und mit Spannung in die Zukunft. Sie ist wirklich nicht das typische Immigrantenkind. Sie ist deutlich privilegiert. Das kann ihr helfen, es birgt aber auch die Gefahr des Neids und der Überheblichkeit. Dann denkt sie daran, was Oma Katharina immer von der Erdung spricht. Sie redet mit Dimmy und Dimmy sieht sie lange und schweigsam an. Dann nickt er zustimmend. Durch seine Aktivitäten mit dem Board und dem Bike hat er wirklich erstklassigen Zugang zu den Kids seiner Altersgruppe. Hier wird das sicher ähnlich sein, wie in den USA, aber er stimmt seiner Schwester zu. Integration heißt in erster Linie, dass man sich an die Bedingungen anpasst, ohne sich selbst zu verleugnen. Er hätte das nicht so formulieren können, aber ja, es steht deutlich vor seinem geistigen Auge und Irina liest seine Gedanken. Sie nickt. Schließlich haben sie ja noch Opa und Vera. Sie wissen, dass sie mit den beiden über alles reden können.
Als Mo Li kommt, bringt Leon die kleine Familie im Ort unter. Es ist eine kleine helle Wohnung. Leon hat während der Fahrt gesummt und er hat sich erzählen lassen. Er hat nach der Ausbildung und den Vorlieben der beiden „Kinder“ gefragt. Chan Lan (die schöne Orchidee) hat Interesse an Sozial-berufen. Irgendwas mit Krankenhaus, Kindern, genau weiß sie das nicht. Ji Long (der heldenhafte Drache) hat in einem Eisenwarenladen gearbeitet. Na so eine richtige Ausbildung war das nicht. Er hat mitgeholfen und alles mögliche dabei gelernt. Der Lohn war gering gewesen, und er war ziemlich oft schlecht behandelt worden.
Da die drei kein Wort deutsch sprechen, macht Leon den beiden „Kindern“ folgenden Vorschlag. „Ich könnte versuchen, Chan Lang an das hiesige Krankenhaus zu vermitteln, oder in den Kindergarten, aber Voraussetzung ist, dass sie erst mal deutsch lernt. Ji Long könnte ich in eine Autowerkstatt vermitteln, in den Elektronikmarkt, den wir hier im Ort haben, oder auch in unsere Fabrik. In jedem Fall müsst ihr hier aber noch eine Ausbildung haben, wenn ihr nicht als ungelernte Kräfte arbeiten wollt. Sonst gibt es nicht viel Geld zu verdienen. Das was ihr bisher gemacht habt, das wird hier nicht anerkannt.“
Er fährt fort: „Ich möchte euch einen Vorschlag machen. Wir haben an unserer Schule einen Bauernhof angegliedert. Es gibt dort Tiere und einen Gemüsegarten. Es gibt einen Tierarzt, der regelmäßig kommt und auch einen Hufschmied. Es gibt Werkzeuge, die ständig in Schuss gehalten werden müssen. Viele dieser Tätigkeiten könnt ihr durch Zusehen und Zuhören lernen. Es gibt auch einen Hofladen. Wir haben Sensen, die geschliffen werden müssen und Traktoren, die gewartet werden. Unser Bauer spricht ziemlich gut englisch und auch unsere Pferdepfleger sprechen das ziemlich gut. Wenn ihr also dort ein oder zwei Jahre mitarbeitet, dann lernt ihr deutsch. Vielleicht hat Ji Long dann Lust, Hufschmied zu werden oder Pferdepfleger. Vielleicht hat Chan Lan Lust im Laden zu bleiben oder dem Tierarzt zu helfen. Ihr bekommt ein kleines Gehalt und wenn ihr gut aufpasst, dann findet ihr schnell Anschluss und ihr findet einen Beruf, der euch Spaß macht. Anders als Detroit ist das hier eine sehr kleine und überschaubare Stadt. Ihr werdet hier schnell Freunde finden. Ich bin mir sicher. Was meint ihr dazu?“
Die „Kinder“ können das noch nicht entscheiden. Sie sind 17 und 19, hier ist alles fremd und von der Arbeit auf einer Farm, die gleichzeitig eine Schule ist, können sie sich nichts vorstellen. Sie müssen hier erst einmal ankommen, und Leon sieht Mo Li an. „Also gut. Dann machen wir das anders. In unserem Haus sind erst einmal viele Dinge zu erledigen. Die Kinder können dir ein paar Tage helfen. Vielleicht kann Ji Long die Fußleisten anbringen, einen Gartenzaun bauen, oder den rasen einsäen. Dann hast du ein wenig Zeit übrig und kannst dir mit den Kindern mal frei nehmen, um unsere Kleinstadt zu erkunden. Aber das wird nicht lange so gehen. Ihr braucht ein Ziel für die Zukunft. Lasst uns in ein paar Tagen noch mal darüber reden. Bis dahin werdet ihr Gelegenheit haben, unser Hofgut einmal kennenzulernen.“
6.
Irina weiß noch nicht, dass sie ein Mutant ist. Sie weiß nichts von Artemis. Sie weiß noch nichts von der Aufgabe, die ihrer Familie in dieser Welt noch zukommen wird. Ihre Kräfte sind noch nicht gut ausgebildet, und von dem Umfang der Kräfte, die Tante Chénoa zur Verfügung stehen, ist Irina weit entfernt, aber sie hatte im letzten Jahr viel dazugelernt. Sie verlässt sich voll auf ihren Großvater Leon, ihren eigenen Instinkt und ihr Aussehen. Sie wird das hier in Deutschland schon packen. Sie ist sich sicher. Schließlich wird ihr auch die Position ihres Großvaters in Wittenberge helfen. Die Schule gehört immerhin der Stiftung.
Irina gehört zur Elite. Sie hatte das bisher nur nie so empfunden, und jeder Gedanke, daraus einen Nutzen zu ziehen, um sich persönlich zu bereichern und zu erhöhen, liegt ihr fremd. Irina hat die Gene des Artemis. Sie ist Teil des Clans, und so etwas wie eine soziale Fürsorge ist ihr angeboren. Sie ist schließlich nicht nur ein menschliches Wesen, sie ist auch eine Cantara. Sie weiß das nur nicht. Sie ist unter einer ständigen Anleitung durch das Volk der Cantara, das sich in den letzten Jahrzehnten auf dieser Welt tausendfach vermehrt hat, und auch in ihrem Kopf sitzt. Völlig unsichtbar für die menschliche Gattung.
Irina wird nicht alleine sein, wenn sie sich hier integrieren muss. Sie wird die Hilfe der Cantara haben.
Die Cantara sind sich sicher, nicht alle Konflikte für Irina und Dimmy leicht lösbar zu machen. Wenn man für eine bestimmte Aufgabe vorherbestimmt ist, so wie Irina oder Dimmy, dann muss man lernen, die Mechanismen zu entdecken, die den Lauf der Welt bestimmen. Im Kleinen, wie im Großen, oder anders formuliert, Irina und Dimmy müssen konfliktfähig werden, und sie müssen lernen, wie beide Kontrahenten eines Konflikts stolz und gestärkt hervorgehen, aber doch so, dass Irina und Dimmy ihren Willen letztendlich durchsetzen, zum Wohl aller.
Das ist manchmal eine Gratwanderung, denn was ist letztlich das Wohl aller?
Für die Cantara ist dies nicht diskutabel. Sie wollen ihrer Weltanschauung auf diesem Globus Geltung verschaffen, und der Clan der Auserwählten ist ein Instrument auf diesem Weg.
Soviel weiß Irina immerhin: Sie hat ihre Kräfte erhalten, weil ihre Familie auf dieser Welt eine Aufgabe hat. Aber dieses Wissen ist noch diffus. Sie glaubt, die Kräfte von ihrem Vater geerbt zu haben, und Opa Leon ist nur der Verstärker eben jener Grundfähigkeiten.
Mehr muss Irina zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht wissen. Sie ist eine Lernende.