Kitabı oku: «Das Netz der Freunde», sayfa 4

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Im Bereich Video ist Dimmy interessiert. Er hat eine recht gute Handkamera, und er hat sich bei seiner Tante Lara einiges abgeguckt, aber er ist nicht wirklich gut. Er gliedert sich ein und er lernt. Diese Videowerkstatt ist wirklich klasse. Sie gehen oft zu den Musikern. Sie drehen kleine Videos. Sie gehen auch in die Stadt, interviewen Passanten oder gehen zu den Tieren. Es gibt so ein paar kleine Schweinchen, die bauen Minikameras mit Drahtlosübertragung in die Mädchentoiletten, aber das findet Dimmy - ehrlich - nicht so gut, obwohl er am Anfang gegrinst hatte.

Er bekam das nur am Rande mit. Er sagte nichts dazu, aber gut fand er das nicht. Diese Verletzung der Privatsphäre war mit dem Ehrenkodex seiner Familie nicht vereinbar. Er spricht jetzt mit Leon darüber, und Leon nickt bloss. „ich werde das abstellen.“

Tatsächlich bauen die Kids nach einigen Tagen ihre Kameras ab und lassen das sein. Dimmy hat sie beobachtet. Er versteht das nicht. Als er Leon darauf anspricht, meint der bloss, manchmal ist es gut, von Chénoa zu lernen. So wie du deine Jungs in der Halfpipe eingesummt hast, so habe ich die Videokids eingesummt. Keine Angst. Sie haben mich nicht gesehen. Auch wenn ich mich in eine Fliege verwandle, kann ich summen. Diese Kids werden das nicht wieder tun. Wir werden ihnen in ein paar Wochen vielleicht anbieten, ob sie solche Filme mit richtigen Nutten drehen wollen. Mit Mädchen, die bezahlt werden, mit Profis. Dann werden wir weitersehen.“

Dimmy sieht seinen Großvater staunend an. „Sowas befürwortest du?“ Leon zuckt mit den Achseln. Die Jungs denken manchmal an nichts anderes als an wilden Sex. Warum sollten wir ihnen ein solches Ventil nicht gönnen? Sowas hat es schon seit Tausenden von Jahren gegeben.“ „Opa“, mahnt Dimmy streng, aber auch ein wenig lüstern, „ist das nicht ziemlich verwerflich?“

Leon schüttelt den Kopf. „Diese Berufe wird es immer geben. Die Umstände sind nicht gut, wie die Mädchen in diese Berufe kommen und die Gesellschaft ist heuchlerisch, wenn sie das nicht offen anspricht. Wir fördern weiß Gott nicht die Prostitution, aber wegdiskutieren können wir das Problem auch nicht. Mit 14 denkt man nun mal an kaum was anderes als an Sex. So ist das eben. Man muss sich damit auseinandersetzen. Junge und Mädchen sind da etwas verschieden, aber im Endeffekt denken beide an Liebe - auch wenn das in diesem Alter ziemlich verschieden ist, was sich Junge und Mädchen darunter vorstellen.“

Doch dann wischt Leon mit der Hand durch Luft. „Sollten wir innerhalb unserer Schule aber lieber doch nicht machen. Wir werden sonst angreifbar. Also lassen wir das mal lieber.“

Das will Dimmy nun doch genauer wissen und Leon spricht an diesem Tag lange mit Dimmy, über Moral, über die Entwicklung des menschlichen Körpers und über Lust, Hormone, Harmonie, Achtung und auch über Verantwortung, die eine Schule nunmal hat, weil sie Teil der Öffentlichkeit ist, und sich gegenüber den Eltern auch ständig legitimieren muss.

6.

Irina hat zunächst ganz ähnliche Probleme, wie Dimmy. Ihr Knackpunkt ist das Lesen und schreiben in deutscher Sprache. Sie muss richtig büffeln. Sie kann perfekt sprechen, aber die Schriftsprache ist ihr nur im englischen und im spanischen vertraut. In ihrer früheren Schule war spanisch ihr Wahlfach gewesen. Deutsch hatte es dort nicht gegeben.

Sie geht von Anfang an regelmäßig nachmittags in diese Lerngruppe. Sie trifft dort verschiedene andere Schüler, die alle dasselbe Problem haben, und auch Carmen und ihr Bruder sind dort.

Sie erlaubt sich jetzt diesen Trick, den ihr Leon gezeigt hat. Sie summt. Sie spürt, wie sich ihre Sinne schärfen und ihre Aufmerksamkeit verbessert wird. Sie spürt, wie sich das geschriebene Wort auf einmal öffnet und verständlich wird.

Sie verändert bald dieses Gesumm. Ihr ganzer Körper ist nur noch eine einzige leise Vibration. Dann spürt sie, dass die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarin langsam zunimmt. Irina beobachtet Carmen. Irina blickt um sich, und beginnt ihre Vibrationen leise zu steigern.

Sie spürt, dass die Schüler auf den beiden Sitzbänken vor und hinter ihr langsam einen geraderen Rücken bekommen, sie hören besser zu. Irina nimmt mit Dimmy Kontakt auf, der in der in einer anderen Lerngruppe sitzt und sie beginnen ihre Energie zusammenzuschließen.

Irina lernt, ihre ganze Lerngruppe in einen Zustand der Erregung zu versetzen. Es ist, als wäre ein gordischer Knoten geplatzt. Der Lehrer staunt nur. Das hat er noch nie erlebt. Die Schüler machen auf einmal Fortschritte, die für ihn nur mit dem Begriff Quantensprung erklärbar sind. Warum das so ist, das versteht er nicht.

Er bespricht sich mit seinen Kollegen und er hört, dass das in der Lerngruppe von Dimmy genauso ist. Erst dieses zähe Ringen um Erfolge, dann dieser Übergang und dann war so etwas wie ein Ruck durch die Gruppe gegangen. An ihm hatte es nicht gelegen, er ist sich sicher. Das hatte es nämlich in dieser Intensität noch nie vorher gegeben, und seine Methode ist dieselbe geblieben.

Durch den Austausch ihrer Energie, hatten Irina und Dimmy gelernt, ihr Gesumm völlig lautlos zu gestalten. Sie selbst werden dabei zu einer Art reiner Energie. Ihre Körper vibriert leicht, wie wenn sie unter Strom stehen. Die Körperhaare sind aufgerichtet. Sie breiten ein Energiefeld um sich.

Sie spüren allerdings auch, dass sie das ziemlich ermüdet. Lange können sie das nicht durchhalten. Nicht mehrere Stunden am Tag.

So dosieren sie ihren Energiestrom, um auch hinterher wach zu bleiben und sie beschließen, mit Leon zu reden. Es muss doch möglich sein, diese Energie besser zu dosieren.

Leon nickt. Das ist eine lange Übung. Eure Tante Chénoa hat viele Jahre damit verbracht. Ich kann euch nur den Rat geben, dass ihr die Hilfe im Tunnel sucht. „Im Tunnel“, fragen Dimmy und Irina? „Ja. Versinkt ganz in euch. Geht in den Tunnel. Ihr werdet dort eine Antwort finden.” Dann hilft er ihnen bei ihren ersten Versuchen.

Sie gehen in diesen Tunnel. Dann ist da plötzlich diese Stimme. Nein nicht wirklich eine Stimme. Mehr das Gefühl einer Stimme, oder vielleicht auch eine Art Vision, die ihnen den Weg aufzeichnet. Whow.

Die Botschaft ist klar. “Ihr habt die Anlagen. Ihr müsst aber schon selbst nach Lösungen suchen und eure Kraft bündeln und trainieren. Viele eurer Geschwister haben weit größere Kräfte als ihr. Schließt euch kurz und übt. Konzentriert euch ganz darauf, ein Energiefeld aufzubauen, zu halten, die Energie langsam zu steigern, aber ohne dass ihr schlapp-macht. Dosiert diese Energie. Ihr werdet dann Stück für Stück besser werden.“ Dann verblasse diese Vision wieder.

Leon nickt. „So ist es immer. Das ist wie bei einer Sphinx. Wie eine jener altertümlichen Wahrsagerinnen, die immer in Rätseln geantwortet haben. Es liegt an uns, dann nach einer Lösung zu suchen. Diese Stimme setzt nur einen Impuls. Macht was draus.“

Irina und Dimmy schlucken. Dann schließen sie sich kurz. Sie legen die Hände zusammen. Sie erzeugen eine Energiekugel aus sprühenden Funken und sie ziehen sich ganz in sich selbst zurück. Sie denken zusammen nach.

Dann, wenn sie ihre Energie offen zeigen dürfen, dann gelingt ihnen viel mehr. Das schwierige ist, sich in diesen unsichtbaren Energieströmen zu üben. Sie sind sich plötzlich sicher, dass sie die Hilfe der Familie brauchen.

Jedenfalls waren die ersten zwei Monate für Dimmy und Irina richtig harte Wochen. Die vielen neuen Kurse und Schüler. Irina und Dimmy waren weit entfernt davon, das Geschehen zu kontrollieren. Nur in kleinen Einheiten, so wie auf der Halfpipe oder in diesem Deutschkurs, da gelang es ihnen und so langsam fanden sie auch weitere Freunde.

7.

Zwei Wochen vor den Herbstferien spricht Leon mit Irina. „Also. Hast du dir das jetzt überlegt? Das mit deinem Geburtstag?“ „Ach ich weiß nicht“, meint sie, „langsam lebe ich mich hier ein. Es gefällt mir ganz gut hier. Mit dem Stoff, da muss ich noch richtig büffeln. Es ist eben doch alles anders. Ich will den Anschluss gewinnen. Ich habe deinen Rat auch noch nicht wirklich umsetzen können. Ansatzweise ja, aber mehr auch nicht.“

Dann macht sie eine lange Pause. „Da ist noch was. Ich sehe, dass Mama jeden Tag deutsch lernt. Ich sehe, dass sie mit dir jeden Tag in die Fabrik geht. Ich sehe auch, dass Mama viel nachdenkt. Also. Wegfahren, das wäre jetzt sicher nicht so gut. Wir sind jetzt hier in Wittenberge, aber angekommen sind wir noch lange nicht.“

„Pooh“, meint Leon. „Irina. Du machst dir ja echt Gedanken...“ und dann ergänzt er... „sollen wir mal so ein Partyzelt im Garten aufschlagen? Sollen wir mal noch ein paar Fahrräder organisieren und sollen wir mal unsere Freunde hierher einladen? Für zwei oder drei Tage? Mal ein bisschen radeln, mal schwarze Elster, oder mal die Lutherstadt Wittenberg besuchen? Klingt ja fast wie Wittenberge, ist aber ganz anders. Ich hab gehört, dass es da entlang der Elbe wunderbare Naturschutzgebiete gibt. Richtig romantisch. Ist ja nicht so weit. Was meinst du? Du kannst mit deinen Geschwistern ein bisschen schwätzen und üben. Denk dran, auch in der Familie kann man sich erden.“

Irina denkt lange nach, dann senkt sie langsam den Kopf. „Du hast mal gesagt, dass wir Kinder uns untereinander viel mehr sehen sollten. Du hast auch mal gesagt, dass für dich die Kinder die Zukunft sind…, du hast recht. Ich hab hier jetzt den Kopf voll, aber ich bin ein Teil unserer Familie. Dein Rat geht mir auch nicht aus dem Kopf. Laden wir auch Oma und Frederik dazu ein?“ Leon nickt. „Ich kann mich kurzschließen und alle einladen. Dann sehen wir, wer alles kommt. Noch etwas. Vera und ich, wir wollen heiraten. Ist dir das recht?“

„Mama und du??? Aber... ja natürlich ist mir das recht. Ich weiß doch, dass ihr euch liebt. Aber..., Fred..., wird er dann nicht furchtbar enttäuscht sein? Und was ist mit Oma Katharina und mit Oma Mila?“ Leon lächelt. „Da gibt es keine Probleme. Ihr seid jetzt schon wie Kinder für mich, und ich habe Vera einmal versprochen, dass ich mich um sie kümmere. Das war kein hohles Geplapper. Ich liebe deine Mutter und wenn du einverstanden bist, dann werde ich euch adoptieren. Aber mit Dimmy muss ich das auch noch besprechen.“

„Dimmy? Der hat sicher nichts dagegen. Der hat doch erstmals wieder das Gefühl einen richtigen Vater zu haben.“ „Trotzdem“, meint Leon, „fragen muss ich ihn.“

Auch Dimmy ist einverstanden. Mehr noch. Er ist hocherfreut. Es gibt ihm das Gefühl von Sicherheit. So als wenn Leon dann nie mehr weggehen wird und ihn nie im Stich lassen wird.

„Gut“, meint Leon, „dann werde ich unsere Familie mal einladen. Wo die alle wohnen werden, ist mir allerdings ein Rätsel, aber bei Lara und Katharina ist viel Platz. Wir hier sorgen für Essen und das Rahmenprogramm.“

8.

Genau genommen ist das Leon sehr recht. Hier ist viel zu tun. Im Werk läuft zwar alles rund, aber es gibt immer diese täglichen Probleme. Er hatte sie lange delegiert. Er muss hier wieder eine Linie reinbringen. Dann sind da die ganzen Restaurants, überall in Europa. Er muss sich dringend wieder um das Personal kümmern, ähnlich, wie in den USA. Er braucht Beobachter, mehrere Supervisor, Schulungen. Er hat sich gedacht, dass Vera das in ihre kompetenten Hände nehmen könnte, aber Vera muss erst einmal in die Strukturen des Werkes und in die Sprache eingearbeitet werden. Alles ist hier anders.

Vera lernt jeden Tag deutsch. Sie absolviert auch eine Art Intensivpraktikum. Sie geht von Abteilung zu Abteilung, beobachtet, stelllt Fragen und hilft mit. Allein diese ganzen Formalitäten sind komplex. Frachtbriefe, Lieferscheine, Zollpapiere, die Überwachung von Lieferungen, Verhandlungen mit Lieferanten, Einkauf von Gewürzen, die Kontrolle der einzelnen Restaurants, all das. Ja, wenn Vera durch den Raum gehen könnte, so wie ihre Kinder, dann wäre alles viel einfacher, aber dieses hin- und herfahren zwischen verschiedenen Locations, das würde Vera völlig überfordern. Da musste eine Lösung her. Leon kann sie mit dem Einkaufsleiter nach Hamburg schicken, sicher, er kann sie bei Verhandlungen zu den Gemüselieferanten mitschicken, er kann sie aber nicht nach Freiburg, Paris, Edinburgh, Wien, Madrid und andere Städte schicken, alles im 2-Stunden-Takt, so wie er das macht, dank seiner Kraft, durch den Raum zu gehen. Das geht bei Vera nun mal nicht.

Sie würden eine Lösung brauchen, wie in den USA.

Vorerst arbeitet Vera immer wieder mit der Personalabteilung zusammen. Außerdem ist da noch Katharina, die schon seit ewigen Zeiten die Promotionaktivitäten in Europa managt, und die (als Mitglied der Geschäftsleitung) auch Mac Best Food vorsteht. Auch mit Katharina muss Vera lernen zusammenzuarbeiten.

Manchmal springt Leon mittags mit Vera einfach vom Werk in seine kleine Wohnung auf dem Werksgelände, wo es immer einen vollen Kühlschrank gibt, dann machen Sie Liebe. Sie brauchen das. In diesen Momenten fällt alles von ihnen ab. Dann können sie alles ansprechen.

Abends sind die Kinder da. Sie müssen sich um sie kümmern und am Morgen - das haben sie beibehalten - da gibt es dieses Familienfrühstück. Nur am Wochenende lassen sie das manchmal nach hinten gleiten und sie treffen sich dann erst um neun oder um zehn. Manchmal muss Leon an den Wochenenden später noch weg. Dann gibt es Treffen mit Chénoa, Paco, Fred, oder irgendwelchen Politikern und Geschäftsleuten. Zu gemeinsamen Fahrradausflügen waren sie bisher noch nicht gekommen. Diese Eingewöhnung betrifft alle. Sicher. Leon ist hier der Chef, aber er hatte sich fast 18 Monate nicht sehr intensiv um die Besonderheiten der europäischen Angelegenheiten kümmern können. Das ist ein lange Zeit, es war viel Arbeit aufgelaufen, und seine Präsenz ist gefordert.

Irina ist an diesen Wochenenden schon unterwegs, bevor Leon und Vera aufstehen. Sie nimmt das mit den Tieren und dem Hof sehr ernst. Sie hat schnell gemerkt, dass viele Mädchen ganz auf die Betreuung der Pferde stehen, aber an den Wochenenden, da schlafen sie auch gerne mal aus. Irina ist das recht. Sie genießt diese Samstag-und Sonntagmorgen in den Ställen und Ihre Freundin Carmen, die ist da genauso.

Der Bauer hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, mit den Hühnern aufzustehen. „Und wann ist das“, hatte Irina gefragt und der Bauer hatte geschmunzelt. „Wenn die Sonne aufgeht, werden auch die Hühner wach. Musst du mal morgens um drei kommen. Das ist hier wirklich ein Erlebnis.“ „Pffft“, hatte Irina gemacht. Das ist mir etwas zu früh.“ Der Bauer hatte gelacht. „Es gibt ein paar Schüler, die machen das, kommen hier für zwei Stunden her, füttern die Hühner, sammeln Eier ein, sehen nach den Ziegen und Hunden und gehen dann noch mal schlafen.“

Irina findet das sehr beeindruckend. Sie steht oft schon um halbsechs am Morgen auf. Sie findet es auch immer aufregend, samstags oder sonntags früh durch die kleine Stadt zu fahren. Das Licht und die Geräusche sind dann ganz anders, als zu anderen Tageszeiten. Der Backladen duftet nach frischen Brot und Morgenkaffee. Der Gemüsehändler lädt seine Steigen auf die Auslagen vor dem Laden, mit Orangen, Zitronen, Kiwis, Mangos und vielen andern Dingen, die es im Hofladen nicht gibt. Die ersten verschlafenen Morgenbummler kriechen aus ihren Häusern und blinzeln in die Sonne. Es ist irgendwie alles so friedlich. Auf dem Rückweg fährt sie regelmäßig beim Bäcker vorbei. So etwas hatte es in den USA nicht gegeben. Irina liebt das.

Wenn Irina im Stall fertig ist, bringt sie Brötchen, frische Blumen, oder frisch gepflückte Tomaten mit, manchmal Möhren oder einen Salat. Manchmal Hörnchen oder frischen Blechkuchen. Sie hat vorn und hinten einen großen Einkaufskorb auf dem Rad, wo sie alles hineinpacken kann. Sie fährt gern Fahrrad. Es gehört hier einfach zum Leben. Alle machen das.

Irina ist wirklich schon mehr integriert als Vera. Vielleicht auch, weil Freundschaften in diesem Alter viel leichter geschlossen werden. Das klappt bei Irina gut, und sie hat sich wirklich Ziele gesetzt. Sie will hier etwas lernen. Sie hat verstanden, dass diese Schule und diese kleine Stadt ihr einzigartige Möglichkeiten bieten. Ihre Schulen in den USA waren wirklich gut gewesen, aber das ganze Umfeld war anders. Sie hat das Gefühl, dass in dieser kleinen Stadt alles harmonisch aufeinander abgestimmt ist, wie bei einem Uhrwerk.

Diese Vielfalt an Möglichkeiten war am Anfang verwirrend, aber sie spürt überall bei den Kids diese Bereitschaft, etwas lernen zu wollen. Dass es da sogar Kids gibt, die morgens um drei auf dem Hof erschienen, dann noch einmal ins Bett gehen, um dann pünktlich um acht im Unterricht zu sitzen, das findet Irina obercool.

9.

Leon schließt sich also mit all seinen Kindern kurz und sie wollen wirklich alle zu Irinas Geburtstag kommen. Sie werden nicht alle drei Tage da sein können, aber doch, eigentlich werden sie alle kommen.

Es ist in Leons Familie nicht üblich, an den Geburtstagen oder den Festen etwas zu schenken. Ja, man tut das, wenn der andere einen Wunsch hat. Man tut das, um den andern mal zu überraschen, aber Leon weiß, dass Irina hier gerade dabei ist, glücklich zu werden. Sicher. In der Schule gibt es auch den einen oder anderen Ärger. Es gibt Pflichten. Sie muss ihre Linie finden. Wo gibt es so was nicht. Was sich Irina wirklich wünscht, das ist wieder eine richtige Familie. Sie praktizieren das schon, aber etwas fehlt noch.

Das Grundstück ist groß. Die Firma hatte es mal gekauft, um Erweiterungsgrundstücke für den Ausbau des Werks zu haben. Leon lässt jetzt kurzerhand mehrere stabile Partyzelte aufbauen, mehrere Grills aufstellen und er lässt sich zwei Lastwagen voller Topfpflanzen bringen. Lauter Herbstblumen. Astern, Anemonen, Lilien, Chrysanthemen und allerlei Staudengewächse. Er hatte mit dem Friedhofsgärtner und einem Blumengroßhändler gesprochen. Ein Teil ist geborgt, die andern Blumen wurden gekauft. Leon will es bunt und fröhlich. Die Zelte werden innen mit bunten Tüchern ausgeschlagen und sie hängen Lampions in den Garten. Mo Li und ihre „Kinder“ sind dabei eine große Hilfe.

Der Fahrradhändler wird Leihräder stellen. Vera hatte Irina einen Tag vor dem großen Fest gebeten, ob Irina sie durch den Tunnel der Raumdurchquerung mit nach Berlin nimmt. Sie hätte gehört, dass eine Freundin von Katharina ein Modeatelier hätte. Dann könnten sie sich ein wenig einkleiden. „Bitte“, hatte Vera gebettelt, „tu mir den Gefallen, hol mich ab und begleite mich zu Katharina und ihrer Freundin, ich möchte mich für deinen Geburtstag schön machen.“

Irina vermutet, dass das nicht alles ist. Sie seufzt springt mit Mama zu Oma Katharina.

Sie lernt nicht nur Martina kennen, die Mutter von Helen, sondern auch ihre Partnerin Elfi. Tja, Elfi - Mann ist die eine Wucht. Elfi hat wirklich eine Wahnsinnskollektion. Junge und frische Mode. Bunte eng anliegende Hosen, manche in Stretch, manche in Kord oder Leinen, weite Pullover, T-shirts mit gewagten Ausschnitten, Kleider und total durchgestylte bunt bedruckte Shorts und Sportklamotten.

„Mama...“ Irina ist wirklich baff. Vera staffiert sie aus. „Alles für mich?“ „Wirklich alles für mich?“

Elfi hat auch Hosenanzüge. Schlabberklamotten und Arbeitshosen, ihre eigene Jeansmarke und... Irina ist wirklich perplex.

Vieles wird sie vielleicht nie anziehen. Sie ist gern in Arbeitsklamotten. Im Stall zieht man an, was praktisch ist, aber warum nicht ein bisschen Schau und Chick?

Irina bleibt auf dem Teppich. Sie will ein paar praktische Sachen, ein paar Tücher und etwas buntes für die wenigen passenden Gelegenheiten. Sie wächst ja immer noch etwas.

Dann geht sie mit Mama zu Martina und Mama läßt sich dort einkleiden. Später sitzen sie auf dem Kuhdamm und essen zu abend, dann springen sie zurück. „Aber nicht gucken“, bittet Mama.

Aha, denkt sich Irina. Also doch eine Überraschung.

Am nächsten Morgen ist sie schon früh wach. Sie ist aufgeregt. Sie sieht aus dem Fenster und es ist alles wie sonst.

Sie steht auf und schleicht auf die Treppe. Sie schaut dort aus dem Fenster und es verschlägt ihr die Sprache. Das ist Mamas Geheimnis. Sie sieht die Zelte und die Beete von Blumen, die Lampions und all das. Alles ist in einen leichten Morgennebel gehüllt, das Licht der Sonne erhellt gerademal den Horizont. Aber es ist zu ahnen, was Papa da hingezaubert hat. Alles für sie. Sie wäre am liebsten gleich zu Mama und Papa gelaufen und hätte sie umarmt. Aber sie verkneift sich den Impuls. Mamas Schlafzimmer ist tabu.

Sie weiß nicht, dass Leon schon längst unterwegs ist.

Sie hört hinter sich eine Tür. Es ist Mama. „Nicht lunzen“, meint sie. „Komm, lass uns mal ein bisschen schön machen. Sie schickt Irina unter die Dusche, dann beginnt sie mit Irina ein Pflegeprogramm. Haare kämmen, etwas Lidschatten, etwas Wimperntusche. „Mama. Woher kannst du das?“ Es ist bei ihnen sonst nicht üblich. Mama ist eine natürliche Schönheit. Sie braucht solche Hilfsmittel nicht, aber ein bisschen betonen... warum nicht?

„Ok. Jetzt die Anziehsachen.“ Vera läßt sie etwas von diesen bunten Sachen anziehen. Nicht das eleganteste, aber praktisch und kleidsam.

Inzwischen ist Dimmy wach, und er lunzt durch die Türspalte. „Whow. Was für geile Weiber.“ Irina wirft eine Haarbürste nach ihm und Dimmy schlüpft lachend hinter die Tür und zieht sich dann selbst an.

Sie sind kaum fertig, da hört Irina Hufgetrappel und ein Wiehern.

„Also komm“, meint Vera. Sie gehen hinunter, Dimmy schließt sich an, und sie treten aus dem Haus.

Draussen stehen fast zwei Dutzend Pferde. Leon ist da, Fred und Sonja sind da. Ihre Freundinnen aus der Schule und die Kinder von Sonja waren gekommen. Oma Katharina, Lara, Helen und sogar Conny sind da. Sie haben alle etwas Festliches an. Sie haben Kerzen dabei. Sie steigen jetzt ab, sie binden die Pferde an und zünden die Kerzen an. Dann beginnen sie zu singen. Conny hat ihre Geige dabei und sie spielt dazu.

Irina lehnt sich an Mama. Sie hat Tränen in den Augen. Ach ist das wunderbar.

Dann gehen sie alle hinein. Irgendwie verschwinden sie fast alle in der Küche, um beladen wieder hinaus zu kommen. Kaffee, Müsli, Quarkspeisen, Cornflakes, Brötchen, Käse…, Papa musste schon sehr früh aufgestanden sein.

Im Nu ist der große Tisch ausgezogen und gedeckt. Sie nehmen Platz und fangen an.

Irina freut sich besonders, dass ihre Freunde und Mitschüler Carmen und Claudio, Pauline, Elfi, Pit und Sascha da sind.

Irina ist glücklich.

Im Laufe des Vormittags kommen immer mehr. Onkel Paco und Zehra, Tatjana und Anastasia, sogar Chénoa kommt mit Oma Mila und sie bringen alle ihre Kinder mit. Es wird richtig voll.

Carmen zieht irgendwann einmal Irina zur Seite, „und das sind alles Verwandte von dir?“ Irina nickt. „Ein kleiner Teil meiner Verwandtschaft, ja.“ „Puuuh“, meinte Carmen, „und du kennst all ihre Namen?“ Irina lacht, „na, aber hör mal. Ich hab allein vierzehn Geschwister, Wär doch schlimm, wenn man da nicht jeden kennt.“ „Puuuh“, meinte Carmen, die auch eine große Verwandtschaft hat. In Spanien ist das normal, aber hier? Sie merkt schnell, dass hier wirklich jeder jeden kennt und die Freunde aus der Schule werden einfach in die große Familie aufgenommen.

Die Pferde waren schon wieder weggebracht worden. Irgendjemand hatte das organisiert. Am Nachmittag schwingt sich ein Teil auf die Räder und radelt ein bisschen in den Wald, Luft schnappen. Als sie zurückkommen, ist die Gruppe noch mal angewachsen. Onkel Nakoma ist mit seinen Kindern gekommen und sie haben eine peruanische Musikgruppe dabei.

Nein, sie hatten sie nicht aus Peru mitgebracht, die Gruppe gastiert gerade in Deutschland. Katharina hatte sie für den Abend gebucht und sie waren im Bus gekommen, in Landestracht und mit all ihren Instrumenten.

Der Abend wird immer fröhlicher. Die Laternen brennen. Es ist eine angenehme Herbstnacht, sie haben sich Decken geholt und es gibt heiße Getränke. Kakao, Kinderpunsch, Zitrone und heißen Holundersaft.

Um elf beschließen sie, das Fest zu beenden. Die Feuchtigkeit der Herbstnacht zieht an, und es wird frisch. Morgen ist auch noch ein Tag. Carmen und die Freunde werden mit Mamas Bus nach Hause gebracht. Die Musiker werden ins Hotel gefahren, Oma Mila bleibt da. Der Rest der Familie springt komplett nach Berlin. Im Musikzentrum ist Platz für alle.

Irina ist müde, aber sie bittet Oma Mila, ob sie bei ihr im Gästezimmer schlafen darf. Sie kuschelt sich bei Oma Mila ein und bittet sie, ihr etwas zu erzählen. Das kann Oma Mila gut. Sie ist die perfekte Geschichtenerzählerin und Irina schläft bald ein.

In den nächsten beiden Tagen ist die Familie unter sich. Sie schwätzen. Die Kinder üben ihre Kräfte. Sie besuchen zusammen die Lutherstadt Wittenberg und diese Naturschutzgebiete in den Elbauen. Sie verwandeln sich in Reiher und fliegen mit den anderen Reihern über die Elblandschaft.

Nur ganz früh am Morgen, da geht Irina immer in den Stall, um die Pferde zu versorgen. Das ist ihr wichtig und sie wird dabei von ihren Geschwistern begleitet.

Endlich ist wieder so etwas wie ein ganz enger familiärer Zusammenhalt zu spüren, den Irina aus ihrer frühesten Kindheit in Erinnerung hat. Nicht nur das laute und kunterbunte, sondern auch das, was die Familie ausmacht, wenn sie sich alleine wähnt. Die gemeinsame Kraft.

Irina atmet tief ein. Ja, das hat ihr wirklich gefehlt.

In diesen 3 Tagen nimmt Irina ihre Tante Chenoa mal beiseite. “Tante, sagt sie. Kannst du mir helfen, damit mich die Energieströme nicht zu sehr auslaugen?”

Chénoa lächelt. Dann nimmt sie die Hände von Irina. “Versuch mal ganz in dich zu versinken. Verlasse die Welt um dich, aber höre mir trotzdem zu.” Dann spricht sie weiter, ohne die Lippen zu bewegen. Nur Irina kann das hören. “Gut, gut. Und jetzt versuche, in dich selbst hineinzukriechen. Ich helfe dir dabei. Siehst die Nervenstränge? Siehst du die Synapsen? Jetzt geh in deinen Kopf. Siehst du die Verbindung aus Gehirn und Nerven? So, und jetzt spanne ein leichtes Feld von Energie auf. Versuche einmal, die Gräser um dich herum alle nach Norden zu legen, in einem Umkreis von einem Meter. Anstrengend? Jetzt versuche den Radius zu erweitern. Mache 2 Meter daraus, dann fünf. Halte dein Energiefeld.” Sie nickt innerlich. “Gut so. Ich sehe, dass dich bald das müde machen wird. Jetzt versuche mal, dich ganz von deiner Energie abzukoppeln. Lass das Energiefeld stehen, ziehe dich als Person zurück. Öffne die Augen, nimm deine Umwelt wieder wahr.”

Chenoa hilft Irina bei diesem schweren Schritt. “Hast du begriffen? Hast du den chemischen Prozess gesehen, der da gerade in deinem Gehirn passiert ist? So, und jetzt siehst du, wie dein Energiefeld einfach stehenbleibt. Wie von selbst. Du kannst dich aber stets einklinken und die Energie verstärken. Wechsele jetzt mal auf 8 Meter, dann zurück auf drei. Ja gut so. Spürst du die Wärme? Spürst du, dass dich diese Energie plötzlich selbst wärmt? Es ist, wie ein Perpetuum Mobile. Du entfachst Energie, und die Energie kommt zu dir zurück. Siehst du, was ich meine? Siehst du, wie dein Gehirn plötzlich mit Sauerstoff versorgt wird. Im Pflanzenreich würde man jetzt sagen, dass da Chlorophyll aufgebaut wird, um Sonnenenergie einzufangen.”

Irina ist sprachlos. “Ja, ich spüre das. Es ist, wie eine Glut. Wie eine Neugeburt. So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt.”

“Gut. Jetzt bewege dich mal. Geh auf dem Rasen herum. Du siehst, wie das Energiefeld mit dir geht. Du bist immer das Zentrum der Energie. Diese Beeinflussung kannst du auch mit Menschen machen, oder mit verschiedenen anderen Gegenständen. Du kannst sie bewegen, ohne sie selbst zu berühren.”

Sie greift in die Tasche, und wirft Irina einen Schlüsselbund hin. “So. Hebe ihn auf mit deiner Energie, so dass er schwebt. schicke ihn jetzt zu mir zurück.”

Chenoa greift nach den Schlüssel, der auf sie zukommt, bricht ihn aus Irinas Energiefeld und steckt ihn ein. “Begriffen?”

Irina atmet tief ein.

“Heute habe ich dir geholfen, aber du wirst das auch alleine schaffen. Am Anfang noch etwas unbeholfen, aber mit Übung wirst du sehr gut werden. Ich sehe deine Anlagen. Du kannst das.”

Irina schaltet ihr Energiefeld ab, und umarmt Chénoa. “Tante. Du hast mir heute das schönste Geburtstagsgeschenk von allen gemacht. Danke.”

Sie spürt die Wärme und die Energie Chenoas, die wie ein Impuls in ihren Körper eindringt. Sie spürt die Kraft, die da plötzlich in ihr wächst. Whow. Sie atmet den Duft Chenoas, der schon immer unvergleichlich gewesen ist. Erfrischend ist er jetzt. Fast wie eine Lotusblüte, aber da sind noch viel mehr Gerüche. Flieder, Veilchen, eine Spur von Thymian. Der Duft steigt in Irinas Kopf und bleibt dort in der Erinnerung haften. Sie verknüpft diesen Duft jetzt mit dem chemischen Prozess der Loslösung von Ihrem Energiefeld, und es macht plötzlich klick. Irina hat begriffen, und sie wird diesen Prozess jetzt steuern können. Wann und wo sie das will. Sie ist ich sicher.

In diesen drei Tagen teilt Leon seiner Familie auch mit, dass er Vera heiraten wird. Irina ist stolz und froh. Sie sieht, dass Katharina und Mila schon Bescheid wissen. Sie sind einverstanden. Fred nicht nur zustimmend mit dem Kopf und wünscht den beiden Glück. Er hat Sonja inzwischen geheiratet und er ist jetzt ganz monogam. Es war wieder so etwas wie eine Ordnung in die Familie gekommen.

10.

Als Irina am nächsten Tag wieder in den Stall geht, wartet Carmen schon auf sie. Sie versorgen die Pferde und die Hühner. Sie gehen in den Gemüsegarten und schauen nach Chan Lan und Ji Long.

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