Kitabı oku: «Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB», sayfa 2
Während die Theorie vor 1780 die meisten Rechtsbereiche, wie gezeigt, als Privatrecht klassifizierte, könnte man mit Blick auf die Rechtspraxis und mit einem modernen Privatrechtsbegriff also eher von einer Herrschaft des Öffentlichen Rechts sprechen. Privatrecht wurde jedenfalls nicht als Freiheitsraum des Individuums auch gegen den Staat gedeutet. Die „individuelle Glückseligkeit“ blieb in nichtabsolutistischen Staatszwecklehren Ziel des Herrschers, aber nicht ein Recht der Untertanen. Wenn dennoch die Theorie nicht von einer Herrschaft des Öffentlichen Rechts sprach, lag dies daran, dass der Begriff, wie gezeigt, auf den Staat, nicht auf sonstige Obrigkeiten bezogen war. Und der moderne Staat übernahm erst sehr langsam die Steuerungshoheit über die Gesellschaft. Die meisten Eingriffe in das, was wir heute Privatrecht nennen, gingen bis in das 18. Jahrhundert nicht von einem „Staat“ mit Gewaltmonopol aus, sondern von sog. intermediären Gewalten, die neben dem Staat Recht setzten. Weder dem politisch schwachen Reich noch den politisch viel stärkeren Territorien (Preußen, Österreich, Bayern etc.) war es gelungen, die vielen rechtlichen Freiheiten ganz zu beseitigen, die seit dem Mittelalter das rechtliche Leben der Menschen prägten. Überall gab es lang gewachsene rechtliche Autonomie. Städte, Dörfer, kirchliche Gemeinden, Universitäten, Kaufmannsgilden, Zünfte der Handwerker gaben sich eigenes Recht. Das Gesinde gehörte zum Herrschaftsverband des Gutsbesitzers. Noch immer existierte vereinzelt die Privatvollstreckung durch Gewalt (Fehde). In Wirklichkeit waren bis in das 18. Jahrhundert weder der Kaiser noch die Herrscher in den Territorien Eigentümer ihres Landes, wie es das Märchenbild vom König, der die Hälfte seines Reiches an den Drachentöter schenkt, so gerne erzählt.
Literatur: Tilman Repgen, Die Sicherung der Mietzinsforderungen des Wohnungsvermieters im mittelalterlichen Hamburgischen Stadtrecht, in: Albrecht Cordes (Hg.), Hansisches und hansestädtisches Recht (Hansische Studien XVII), Trier 2008, S. 141 ff.; Jan Schröder, Privatrecht und öffentliches Recht. Zur Entwicklung der modernen Rechtssystematik in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Rechtswissenschaft in der Neuzeit, Tübingen 2010, S. 313 ff.; Pio Caroni, „Privatrecht“: Eine sozialhistorische Einführung, Basel 1999, S. 101 ff.; Andrea Iseli, Gute Polizey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009; Hans-Peter Haferkamp, Art. Heiliges Römisches Reich, in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. 1, Tübingen 2009, S. 822 ff.; Arndt Kiehnle, Art. Privatautonomie, in: HRG, 2. Aufl. 28. Lieferung, Berlin 2021, Sp. 789 f.
2.1.3 Privatrecht als Ausdruck der Trennung von Staat und Gesellschaft
Die Trennung des Rechts in Privatrecht und Öffentliches Recht war ein Thema des beginnenden 19. Jahrhunderts. Die Jahre zwischen 1780 und 1810 waren die Aufbruchszeit in die uns heute vertraute Welt. Man spricht von der Sattelzeit (Reinhart Koselleck). Das philosophische und politische Denken und damit auch viele Begriffe änderten sich schnell, und das galt auch für die Begriffe des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts. Die alten, vom Staat unabhängigen Rechtswelten verschwanden. Seit 1781 wurde im deutschen Sprachraum schrittweise die Leibeigenschaft abgeschafft und durch die Bauernbefreiungen seit 1789 brach die Grundherrschaft zusammen. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Jahr 1806 begann das langsame Absterben des Lehenswesens. Die sog. intermediären Gewalten wie Gilden, Zünfte, Universitäten, zuletzt auch freie Reichsstädte verloren im Verlauf des 19. Jahrhunderts weite Teile ihrer rechtlichen Autonomie. An ihre Stelle trat, in einem regional sehr unterschiedlichen Entwicklungsprozess, der Staat. Kant sprach 1797 als einer der Ersten dem Staat ein Gewaltmonopol zu.5 Er definierte das Recht bekanntlich als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann“.6 Da ohne ein solches „allgemeines Gesetz der Freiheit“ kein Schutz vor Gewalt bestand, rutschten alle staatlichen Zwangsrechte, also Strafrecht, Prozessrecht und Vollstreckungsrecht, vom Naturzustand (= Privatrecht) in den gesellschaftsvertraglich-rechtlichen Zustand, mithin ins staatliche Öffentliche Recht. Damit war der Bestand des Öffentlichen Rechts in wenigen Jahren gewaltig gewachsen und nun erst bürgerte es sich ein, die Rechtsordnung in zwei Massen zu zerteilen: Öffentliches Recht als Staatsrecht, staatliche Zwangsrechte und den gesamten Rechtsschutz, und Privatrecht als die verbleibenden Rechte der Individuen unter sich. Da nun auch der gesamte Bereich der „guten Policey“ dem Öffentlichen Recht unterfiel, war Privatrecht sozusagen nur der kümmerliche Rest, den der Staat den Individuen zur Selbstverwaltung zuwies. Der Philosoph Gottlieb Fichte resümierte 1812: „Außer dem Staate ist kein Recht“.7
Man muss diese Vorbedingung kennen, um zu verstehen, worum noch die Verfasser des BGB kämpften: einen bürgerlichen Freiheitsraum „ohne Staat“. Ausgangspunkt war der Aufstieg des Bürgertums. Die Zentralisierung der rechtlichen Macht in den Händen des Herrschers schuf den „Bürger“ als Bezeichnung für die Einwohner des Landes. „Bürger“ war zunächst der Bewohner der Burg gewesen, dann der mittelalterlichen Stadt. Er wurde vom Stand der Bauern und des Adels abgegrenzt. Nun wurde aus dem Untertanen unter verschiedenen Obrigkeiten der Staatsbürger. Herrscher und Bürger bildeten das personale Gerüst des Staates. Es war eine Kernforderung der europäischen Aufklärung, dass diesem Bürgertum die „unveräußerlichen“ Freiheitsrechte vom Staat anerkannt werden müssten. Jean-Jacques Rousseau hatte dem Bürger eine doppelte Rolle zugesprochen: Er war Staatsbürger (Citoyen) und als solcher dem Staat unterworfen. Er war aber auch ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft (Bourgeois) und als solcher zu gesellschaftlicher Selbstorganisation berufen. Diese Trennung zwischen Staat und Gesellschaft tauchte um etwa 1780 überall auch im deutschen Naturrechtsdiskurs auf. Einflussreich war hier erneut Immanuel Kant, indem er den Gesellschaftsvertrag nicht als Unterwerfungsvertrag unter den Herrscher deutete, sondern als Instrument für den Schutz der Freiheitsrechte der Bürger. Der Staat hatte damit die Aufgabe, die Freiheit seiner Bürger zu schützen und zu gewährleisten. Mit der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft entstand um 1800 die heutige Terminologie: Öffentliches Recht als Verhältnis des Bürgers als Citoyen zum Staat, Privatrecht als Verhältnis des Bürgers als Bourgeois zum Bürger. Erstmals war damit die Idee präsent, dass es Bereiche für eine Selbstorganisation der Gesellschaft geben müsse. 1862 beschrieb Ferdinand Lassalle, ein sehr bürgerlich lebender Sozialist, dieses Konzept polemisch als „Nachtwächterstaat“. Der Nachtwächter der frühneuzeitlichen Stadt hatte die Aufgabe, die Bürger vor Gefahr zu schützen, vor Kriminalität, Angriffen auf die Stadt oder vor in den oft aus Holz gebauten Städten besonders gefährlichem Feuer. Nach Lassalle beschränkte sich die Aufgabe des Staates in dieser von ihm kritisierten liberalen Perspektive solchermaßen darauf, die persönliche Freiheit des Einzelnen und dessen Eigentum zu schützen. Das Bild ist überspitzt. Der Staat hat im liberalen Modell nicht nur die Aufgabe, Freiheit freizusetzen, sondern auch, sie zu organisieren. Es geht um die Abgrenzung von Freiheitssphären, und das bedeutet, dass die Freiheit des einen in der Freiheit des anderen seine Grenze findet. Freiheit war also nie „individualistisch“, also schrankenlos gedacht, sondern diente als Mittel zur effizienten und gerechten Selbstorganisation einer Gesellschaft in bestimmten, staatlich definierten Bereichen. Schutzziel war die möglichst weitgehende Freiheit aller, nicht einfach die Freiheit des Einzelnen.
Die Trennung der Sichtachsen in Öffentliches Recht und Privatrecht stand zugleich für einen Kompromiss, der Deutschland von anderen Nationen unterschied: Der Versuch, über Verfassungen mit Grundrechten auch politische Teilhabe zu erreichen, stockte. Auch wenn es langsam zu einem Prozess der Konstitutionalisierung kam und das Volk nach und nach Teilhaberechte und Parlamente bekam, setzten sich auch im Deutschen Reich nach 1871 die alten Herrschaftsstrukturen weiter fort. Bis 1918 wurden die wichtigsten Regierungsämter vom Militär und vom Adel besetzt. Der Kaiser und sein Reichskanzler behielten, trotz der Entscheidungsrechte des Reichstags, eine politische Schlüsselposition. Eine Verfassung mit Grundrechten kam nach dem Scheitern der Revolution 1849 im Deutschen Reich (anders als zuvor in einigen Territorien) nicht zustande. Als Citoyen blieb der Bürger bis zum Ende des Ersten Weltkrieges weitgehend Untertan.
Privatrecht war daher primär persönlicher und ökonomischer, nicht politischer Freiheitsraum. Hier herrschte das Individuum als Person und wirkte mit an der Gesellschaft der frei-gleichen Rechtssubjekte. Das war staatlich gewünscht, weil die Freisetzung der gesellschaftlichen Selbstorganisation als wirtschaftlich leistungsfähiger eingestuft wurde als eine Staatswirtschaft. Im Zentrum des Privatrechtsgedankens standen also das Schuld- und Sachenrecht, mithin der Markt. Privatrecht gerierte sich im jungen Kaiserreich konsequent als weitgehend unpolitische, innergesellschaftlich-ökonomische Sphäre. Offensichtlich politische Bereiche wie das Familienrecht waren schon im 19. Jahrhundert Randgebiete des Privatrechts. Die Politik mit ihren Eingriffs- und Verteilungsfragen wurde dem Öffentlichen Recht zugewiesen. Das BGB war tief von diesem Trennungsdenken geprägt, wie noch genauer zu zeigen sein wird.
1871 verschob sich die Perspektive dabei ganz entscheidend. Mit dem Nationalstaat trat erstmals ein echter Herrscher über das Recht auf den Plan. Im Deutschen Bund hatten nur wenige Territorien das Privatrecht wirklich durchgreifender Steuerung unterwerfen können. Die oft überterritoriale Vertragspraxis hatte gleichermaßen viel „privates Recht“ verschafft, wie die Justiz, die seit der Jahrhundertmitte versuchte, ein eigenes nationales Privatrecht auf die Grundlage des „heutigen römischen Rechts“ in die territorialen Rechte hineinzuinterpretieren.8 Mit dem Nationalstaat war es nun erstmals denkbar, das Privatrecht staatlich hinwegzuregulieren. Dies erklärt, warum die Gesetzesverfasser nun so dezidiert für einen privatrechtlichen Freiheitsraum plädierten.
Wie scharf die Grenzen gezogen wurden, signalisierten 1896 Reichstagsdebatten um die Frage, ob – wie es gemeinrechtlicher und französischer Tradition entsprach – der spätere § 138 Abs. 1 BGB neben den guten Sitten auch die „öffentliche Ordnung“, den ordre public interne, als Schranke der Vertragsfreiheit enthalten solle. Dies wurde abgelehnt, weil nur so „die Möglichkeit eines Hereinziehens politischer und polizeilicher Erwägungen in privatrechtliche Entscheidungen vermieden“9 werde. Eingriffe in das Privatrecht sollten nur auf dem vorhersehbar gesetzlichen Wege, also über Verbotsgesetze des § 134 BGB erfolgen, aber nicht über unbestimmte Rechtsbegriffe und richterliche Interpretation. Stattdessen waren die „guten Sitten“ eine klassische innergesellschaftlich definierte Grenze der Handlungsmacht: Verhaltensstandards, die durch Übung und allgemeine Akzeptanz entstanden, nicht durch staatliche Festsetzung.
Entscheidende Hebel des Privatrechts waren der Vertrag und das Eigentum. Zu beiden legten die BGB-Verfasser und auch das spätere Gesetz Bekenntnisse ab. Franz von Kübel, Redaktor des Vorentwurfs zum Schuldrecht, formulierte 1882:10
„Der die Rechtsordnung zur Anerkennung der rechtsgestaltenden Kraft der Willenserklärung bestimmende Grund beruht in der Erkenntnis der Notwendigkeit der Autonomie der Person im Privatrecht und der Vertragsfreiheit insbesondere im Verkehrsrecht und hat demgemäß die juristische Willenserklärung zu ihrem praktischen Zwecke, der Person die Möglichkeit zu gewähren, innerhalb gewisser Grenzen die von ihr gewollten Rechtsfolgen durch die Erklärung des Willens herbeizuführen, insbesondere also auch durch Vertrag sich beliebig zu verpflichten.“
In den Motiven hieß es dann 1888:
„Vermöge des Prinzips der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht der Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne absolute Gesetzesvorschriften entgegenstehen.“11
In den Grenzen des zwingenden Rechts waren Verträge frei. Ganz ähnlich formuliert § 903 BGB 1900 für das Eigentum:
Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.
Das Recht des Eigentümers, mit der Sache „nach Belieben“ zu verfahren, findet hier eine doppelte Grenze: Die „Rechte Dritter“ benennen die Selbstverständlichkeit, dass Freiheiten immer mit den Freiheiten anderer koordiniert werden müssen; ein typisches Modell der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Das „Gesetz“ als Grenze belässt dem Staat die Regelungshoheit, verlangt freilich, dass Eingriffe in die bürgerliche Freiheit nicht willkürlich durch die Exekutive oder Judikative erfolgen dürfen, sondern die Hürde eines formellen Gesetzes nehmen müssen, was dem Bürger Rechtssicherheit bieten soll. Privatrecht ist insofern ökonomisches Prinzip, es konstituiert einen Markt, an dem alle teilnehmen dürfen. Öffentliches Recht ist als Eingriffsrecht an die Hürde des ex ante geschaffenen, mithin vorhersehbaren Gesetzes gebunden. Der damit konstituierte Freiheitsraum war dem Individuum zur freien Verfügung überwiesen.
Auch dies darf nicht überspitzt verstanden werden, wie es das heutige Bild des „Neoliberalismus“ gerne tut. Freiheit war im 19. Jahrhundert als Freiraum gegenüber dem Staat, nicht als schrankenloser Egoismus gegenüber dem Mitmenschen gedacht (v. Kübel: „innerhalb gewisser Grenzen“). Rücksichtnahmepflichten waren damit, je nach Freiheitsmodell mehr oder weniger weitreichend, fast durchweg verbunden. Nicht falsch darf auch das durchscheinende Pathos der gleichen Freiheit aller verstanden werden. Schon ein rudimentärer Blick auf die soziale Wirklichkeit um 1900 zeigt, dass sich hinter dieser ökonomisch-sozialen Mobilisierung der Selbstorganisationskräfte der Gesellschaft handfeste Interessen verbargen. Die in § 1 BGB statuierte freie und gleiche Rechtsfähigkeit traf auf sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Für den Adel war die Gewährung eines freien und gleichen Privatrechts mit dem Verlust von Privilegien verbunden, was sich besonders sichtbar etwa dann zeigte, wenn nun Bürgerliche Adelssitze erwarben, was zuvor meist ausgeschlossen gewesen war. Mit der Gewerbefreiheit verlor das Handwerk das Recht, seine Märkte abzuschotten. Auch hier waren Freiheitsverluste die Folge des Privatrechts. Die in sozial prekären Verhältnissen lebende Arbeiterschaft zählte ebenfalls zu den Verlierern dieses Privatrechts. Mit der Vertragsfreiheit fielen staatliche Schutzvorschriften weg und die überlegene Marktmacht der Arbeitgeber führte zu diktierten Arbeitsbedingungen und Ausbeutung. Zugleich besaßen die „besitzlosen Volksklassen“ weder Vermögen noch Eigentum, die das Eintrittsgeld waren, um in der liberalen Privatrechtswelt sein Glück zu machen. Damit versteckte sich hinter der Vision eines freien und gleichen Privatrechts ein bürgerliches Recht, das vor allem dem Aufstieg des Bürgertums zulasten des Adels diente. Dem BGB fehlte um 1900 noch die dazu passende Gesellschaft.
Gleichwohl zeigt ein Vergleich mit heute, wie stark das BGB von 1900 ein liberales Projekt war. Von einem Privatrecht, wie man es um 1900 konzipierte, kann inzwischen keine Rede mehr sein. Michael Stolleis hat die Rechtsentwicklung im 20. Jahrhundert als einen „Siegeszug des Öffentlichen Rechts“ beschrieben. Der „Interventionsstaat“, der in die Freiheit seiner Bürger steuernd eingreift, hat immer größere Felder, die das BGB 1900 noch als Freiheitsräume dachte, durch zwingendes Recht der Privatautonomie entzogen. Dabei stand meist der Schutz des Schwächeren im Zentrum. Rechtsgebiete wie Arbeitsrecht, Mietrecht oder Verbraucherschutz bieten dem Arbeitgeber, dem Vermieter und dem Unternehmer in vielen Fragen bestenfalls Abschlussfreiheit, keine Inhaltsfreiheit mehr. Schon früh und in jüngster Zeit wieder zunehmend nimmt der Staat Verträge und Eigentum aber auch für staatliche Ziele in die Pflicht. Das zeigen etwa die aktuellen Diskussionen um Umweltschutz und Inklusion als Teil des Privatrechts. Man hat versucht, dies als staatliche „Regulierung“ als Grenzgebiete des Privatrechts zu halten. Im Kern geht es hier aber um Verteilungsfragen und dies ist eine grundsätzlich öffentlich-rechtliche Perspektive. Der moderne Sozialstaat nimmt also das Glück seiner Bürger wieder stärker in die Hand.
Doch ist dies nur eine Seite der Entwicklung. Nicht zufällig haben sich die Interessen der Privatrechtswissenschaft parallel zur Globalisierung auf das Wirtschaftsrecht verlagert. Hier entwickelt sich zunehmend ein neues, supranationales Privatrecht, das sich dem Staat entzieht, sozusagen Privatrecht ohne Staat. Die Vertragspraxis internationaler Unternehmen und das schwer regulierbare Internet sind Bereiche, in denen die Privatautonomie Freiräume gewinnt, die weit über das hinausreichen, was im 19. Jahrhundert erträumt wurde.
Die Fächergrenzen verschwimmen also, und das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Privatrechtsbegriff weiterhin im Wandel ist. Das BGB, dem wir uns nun zuwenden, ist ein Produkt dieses Privatrechtsbegriffs des 19. Jahrhunderts. Dies zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass man das Privatrecht eigenständig kodifizierte anstatt, wie es etwa noch das Preußische Allgemeine Landrecht 1794 vorgeführt hatte, ein Gesamtgesetzbuch für alle Rechtsbereiche anzustreben. Auch die Idee der Privatrechtskodifikation ist eng verknüpft mit der Trennung von Staat und Gesellschaft.
Literatur: Sten Gagnér, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel „Öffentliches Recht und Privatrecht“ im kanonistischen Bereich, 1967, Wiederabdruck in: Joachim Rückert, Michael Stolleis u. Maximiliane Kriechbaum (Hgg.), Sten Gagnér. Abhandlungen zur Europäischen Rechtsgeschichte, Goldbach 2004, S. 121 ff.; Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 135 ff.; Dieter Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland, in: ders. (Hg.), Recht und Staat der Bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 84 ff.; Konrad Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, Karlsruhe 1988; Michael Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1989, S. 129 ff.; ders., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1800–1914, München 1992, S. 51 f.; ders., Auferstanden aus der Wende: Die bürgerliche Gesellschaft und ihr Recht?, in: RJ 1992, S. 502 ff.; ders., Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der Entstehung des modernen Staates, in: Wolfgang Hoffmann-Riehm u. Eberhard Schmidt-Aßmann (Hgg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnung, Baden-Baden 1996, S. 41 ff.; HKK/Joachim Rückert, Vor § 1, Bd. I, Tübingen 2003, S. 72 ff.; Hans Schulte Nölke, Die späte Aussöhnung mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Wandlungen im Verhältnis der Deutschen zu ihrer Zivilrechtskodifikation, in: Das deutsche Zivilrecht 100 Jahre nach Verkündung des BGB. Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1996, Stuttgart u. a. 1996, S. 11 f.; Sibylle Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2001; Joachim Rückert, Art. Privatrecht, in: Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2006, Sp. 1851 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Der ordre public interne in der Rechtsprechung zum Rheinischen Recht, in: Barbara Dölemeyer, Heinz Mohnhaupt u. Allessandro Somma (Hgg.), Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs, Frankfurt a. M. 2006, S. 105 ff.; ders., The Science of Private Law and the State in Nineteenth Century Germany, in: Nils Jansen u. Ralf Michaels (Hgg.), Beyond the State. Rethinking Private Law, Tübingen 2008, S. 245 ff.; Christian Bumke u. Anne Röthel, Auf der Suche nach einem Recht des privaten Rechts, in: dies. (Hgg.), Privates Recht, Tübingen 2012, S. 1 ff.; Oliver Lepsius, Der Privatrechtsdiskurs der Moderne aus Sicht des öffentlichen Rechts, in: Michael Grünberger u. Nils Jansen (Hgg.), Privatrechtstheorie heute, Tübingen 2017, S. 82 ff.; Tilman Repgen, Art. Privatrecht, in: Staatslexikon, Bd. 4, 8. Aufl. Freiburg 2020, Sp. 1027 ff.
2.2 Kodifikation
Das BGB ist eine Kodifikation. Was bedeutet das?
Das Wort Kodifikation (codification) stammt von einem berühmten Engländer: Jeremy Bentham, Philosoph und engagierter Vorkämpfer für Reformen des Rechts. Bentham arbeitete seit 1782 in einer Reihe von Schriften seine Idee einer Kodifikation als „a complete body of law“ aus.12 In Kodifikationen solle das gesamte Recht einer Nation einheitlich und lückenlos in Gesetzesform gegossen werden. Die Richter seien streng an dieses Gesetz zu binden. Sie dürften sich weder auf vermeintliches Gewohnheitsrecht noch auf frühere richterliche Entscheidungen, ja nicht einmal auf wissenschaftliche Kommentare zu dem Gesetz in ihren Entscheidungen stützen. Um dies zu ermöglichen, solle das Gesetz auf klaren Prinzipien beruhen und widerspruchsfrei sowie präzise formuliert sein. Bleibe dem Richter ein Zweifel über den Willen des Gesetzgebers, so müsse er den Gesetzgeber um Aufklärung ersuchen.
Bentham formulierte eine Idee, die sich, wenn auch meist weniger radikal, bei vielen zeitgenössischen Autoren findet. Seit dem 16. Jahrhundert war immer wieder die Vorstellung aufgetaucht, man müsse ein einheitliches Gesetzbuch an die Stelle der vielen bisherigen, oft unklar konkurrierenden Rechtsquellen setzen, die das Leben der Menschen sehr uneinheitlich regelten.
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts arbeitete man in einigen Teilen Europas an solchen Gesetzbüchern. 1751 waren in Bayern bereits eine Kodifikation des Strafrechts, 1753 des Prozessrechts und, mit dem bis 1900 geltenden Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, 1756 eine erste Kodifikation des Zivilrechts erschienen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts liefen in den nun in vielen Ländern erarbeiteten Privatrechtskodifikationen zwei große Entwicklungen ineinander. Einerseits waren diese Kodifikationen Ausdruck des staatlichen Rechtsetzungsmonopols. Der Souverän steuerte die Grenzen der bürgerlichen Freiheit durch zwingendes Recht. Dieser letztlich absolutistischen Vorstellung, den Staat als Eigentum des Monarchen zu verstehen („l’etat c’est moi“), trat zunehmend die aufklärerische Idee entgegen, dass genau diese Gesetzeszentrierung nicht nur Freiheit, sondern auch Bindung des Monarchen sei. Eine Kodifikation schreibe fest, was gelte, und biete dem Bürger so Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit für sein Handeln. Mit dem in der zeitgenössischen Philosophie herausgearbeiteten Unterschied zwischen Recht und Moral konnte der Staat von seinen Bürgern nur die „äußere“ Legalität ihres Handelns erzwingen, nicht weitergehend eine „innere“ moralische Überzeugung oder Einstellung. Das Individuum als Teil der Gesellschaft sollte sich auch ethisch frei entwickeln können. Alles, was das Gesetz nicht verbot, wurde nun zum Freiheitsraum des Bürgers erklärt, im Zweifel für die Freiheit (in dubio pro libertate). Andererseits gewährten Privatrechtskodifikationen Privatautonomie, also Freiheit zur rechtlichen Selbstorganisation. Die Bindung des Richters an das Gesetz hatte also eine speziell privatrechtliche Pointe: Der Freiheitsraum des Bürgers wird gesetzlich festgesetzt, und der Richter schützt diesen Freiheitsraum, indem er das Gesetz anwendet. Kodifikationen wurden so gleichermaßen zum Machtinstrument des Staates wie der Bürger. Sie waren Teil des bereits dargestellten Privatrechtskonzepts.
In dieser Geschichte war das BGB von 1900 eine im europäischen Vergleich eher späte Zivilrechtskodifikation. Nach den bayerischen Kodifikationen waren 1794 das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, 1806 in Frankreich der Code civil, 1811 in Österreich das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und 1865 das Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen bereits Kodifikationen entstanden. Hinzu kam eine Vielzahl von Entwürfen in anderen Ländern und Territorien, die nicht umgesetzt wurden.
Als man seit einem entsprechenden Votum des Deutschen Juristentages 1860 begann, konkreter über ein einheitliches Bürgerliches Gesetzbuch zu diskutieren, befand man sich also schon in einer seit langem laufenden Debatte über die Funktion, den Inhalt, den Aufbau und die sprachliche Technik einer Kodifikation. Nun stand zunächst die Frage der Gesetzgebungskompetenz im Zentrum, weil insbesondere die kleineren Staaten fürchteten, den Interessen Preußens unterworfen zu werden. Die Frage der nationalen Kodifikation war für Zeitgenossen mit dieser Angst kleinerer Staaten, ihre Eigenständigkeit aufzugeben, verknüpft. Von Anfang an war die Idee der Kodifikation damit von der Frage der Rechtseinheit her gedacht worden. Sie wurde nur von wenigen auch mit einem sozialpolitischen Reformprojekt verknüpft. Dieser Linie folgte auch der Auftrag an die Kodifikatoren des BGB. 1873 setzte man eine sog. Vorkommission ein, die „über Plan und Methode“ der Ausarbeitung eines Entwurfs für das BGB beriet. Sie setzte den Gesetzesverfassern mit Übereinstimmung des Bundesrates zwei Aufgaben:
Die BGB-Kommission sollte unter Berücksichtigung aller in Deutschland geltenden Zivilrechtsordnungen und eines gewissen Vorrangs des ius commune13 das Recht vereinheitlichen. Sie sollte dabei „auf richtige Formgebung und Anordnung die höchstmögliche Sorgfalt“14 verwenden.
Die Erste Kommission zur Ausarbeitung eines Bürgerlichen Gesetzbuches bekam kein politisches Reformprogramm diktiert. Es ging nicht um die Vision eines politisch neuen Privatrechts der Zukunft, sondern um die Vereinheitlichung des Status quo. Der politische Auftrag lautete: Rechtsvereinheitlichung, nicht Reform.
Literatur: Werner Schubert (Hg.), Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB – Einführung, Biographien, Materialien, Berlin u. a. 1978, S. 27 ff.; Rainer Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts. Die Begründung einer Entscheidung des BGB-Gesetzgebers im Kontext sozialer, ökonomischer und philosophischer Zeitströmungen, Ebelsbach 1981; Michael John, Politics and the Law in Late Ninetheenth-Century Germany. The Origins oft the Civil Code, Oxford 1989; Pio Caroni, Gesetz und Gesetzbuch, Basel 2003; Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikation, Tübingen 2004; Pio Caroni, Art. Kodifikation, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart 2007, S. 855 ff.; Stephan Meder, Gottlieb Planck und die Kunst der Gesetzgebung, Baden-Baden 2010; Tilman Repgen, Das Gutachten der Vorkommission für ein Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. April 1874, erscheint in: Peter Oestmann u. Thomas Pierson (Hgg.), Lieblingsquellen. Festschrift für Joachim Rückert zum 75. Geburtstag, 2021.
2.2.1 Rechtseinheit
Rechtseinheit war kein kleines Ziel für das BGB. Ein „Deutsches Zivilrecht“ hatte es auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nie gegeben. Das damals geltende Recht in den heute als „Zivilrecht“ bezeichneten Rechtsteilen war, oberflächlich betrachtet, ein Flickenteppich städtischer oder territorialer Gesetze und Verordnungen, bestimmter Gewohnheiten des Handels, daneben aber auch regionaler Gewohnheiten der Bevölkerung und lang eingespielter Rechtsprechung der Gerichte (sog. usus fori). Sogar Texte von Professoren hatten gesetzesgleiches Ansehen gehabt, besonders wenn man von einer herrschenden Meinung sprechen zu können glaubte (sog. communis opinio doctorum). Was weitgehend gefehlt hatte, waren Gesetze des Reiches, die das Leben der Untertanen nennenswert prägten. Die deutschen Kaiser in der Neuzeit hatten nie eine ähnlich starke Zentralmacht etablieren können wie die Könige von England, Spanien oder Frankreich. Die meisten Gesetze waren also von einzelnen Territorien, häufiger noch von kleineren Einheiten, insbesondere den Städten mit oft unterschiedlichem Privatrecht, ausgegangen.
Obwohl zwei Jahre zuvor die Gründung des Deutsches Reiches erreicht worden war, war 1873 die Rechtseinheit noch immer nicht geglückt. Nachdem 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation untergegangen war, hatte es bis 1871 gar keinen nationalen Zivilgesetzgeber mehr gegeben. Im Deutschen Bund (1815–1866) existierten 39 Territorien, die alle über ihr Zivilrecht entscheiden konnten. Noch 1896, also kurz vor dem Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900, gab es daher große unterschiedliche Rechtsgebiete. So lebten etwa 21.000.000 Menschen nach preußischem Recht, etwa 14.000.000 nach „Gemeinem“, also römisch-kanonischem Recht,15 etwa 8.000.000 nach französischem Recht, etwa 5.000.000 nach sächsischem Recht. Daneben existierten Kleinstgebiete, so galt für etwa 50.000 Menschen dänischem bzw. jütländischem Recht und für 9000 friesischem Recht. Auch dies bedeutete jedoch keineswegs, dass in einem Territorium ein einheitliches Zivilrecht anwendbar war. Im Alten Recht hatte gegolten: Stadtrecht bricht Landrecht bricht (All-)Gemeines Recht. Der kleinste Rechtskreis ging allen größeren vor. Nur in einzelnen Gebieten verdrängten auch später Kodifikationen die älteren Rechte ganz. Es ergab sich für den Richter häufig die schwierige Vorfrage, welches Recht überhaupt einschlägig war. So galt es etwa in Mainz, in schwierigen Zuständigkeitsabgrenzungen festzustellen, ob der französische Code civil oder doch Mainzer Landrecht, Solmser Landrecht, Pfälzer Landrecht oder das österreichische ABGB anwendbar waren. Wie schwierig es sein konnte, überhaupt das maßgebliche Recht zu ermitteln, zeigt eine Aufstellung für das Amtsgericht Erlangen.16 Dort war zusammengetragen, welche Häuser in bestimmten Dörfern um Erlangen herum nach welchem Recht zu behandeln waren. Dabei galten für die nahe Erlangen liegende kleine Ortschaft Hüttendorf (1810 etwa 250 Einwohner), die nicht nach Straßen, sondern nur nach Hausnummern organisiert war: Hausnummer 13, 14, 15: Ansbacher, subsidiär preußisches Recht; Hausnummer 18–22, 30, 35, 36, 42: Nürnberger Recht als Gewohnheitsrecht, besonders in Erbfällen; alle anderen Hausnummern: Bayreuther, subsidiär Preußisches Recht. Nachbarn lebten also Haus an Haus nach unterschiedlichem Recht.