Kitabı oku: «Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB», sayfa 3
In einigen Bereichen, insbesondere im Familien- und Erbrecht, führte die Rechtszersplitterung zu äußerst unterschiedlichen Lebensbedingungen. So schätzte man um 1900 etwa 200 unterschiedliche Güterrechtsordnungen. Die vermögensrechtliche Position der Ehegatten konnte daher von Dorf zu Dorf, ja sogar innerhalb eines Dorfes variieren. Nähert man sich dem nun anstehenden Verfahren der Rechtsvereinheitlichung aus dieser Perspektive, so scheint die Aufgabe kaum zu bewältigen gewesen zu sein: Wie sollte man so viele unterschiedliche Regelungen zu einer zusammenführen?
Familienrecht war, neben Teilen des Erbrechts, jedoch ein Extrem. In den meisten Bereichen existierten derart große Unterschiede nicht. Die vielen territorialen Rechte hatten sich oft gegenseitig beeinflusst, und sie waren ihrerseits von rechtlichen Vorstellungen durchzogen, die sich seit dem Mittelalter in ganz Europa ausgebreitet hatten. Mit dem sog. Gemeinen Recht (Ius Commune) existierte ein wissenschaftlich, von den Universitäten geprägtes gemeinsames Rechtsgespräch über das vom kirchlichen (kanonischen) Recht beeinflusste rezipierte Römische Recht, das jedoch, wie gezeigt, nur galt, wenn keine andere Regelung des territorial oder örtlichen Rechts existierte. Gleichwohl breiteten sich die dort entwickelten Lehren an den Gerichten, in der Vertragspraxis und in territorialer Gesetzgebung aus. Auch hier blieben aber deutsche Besonderheiten der Gegenwart stets im Blick. Gemeines Recht arbeitete nicht an einer Wiederkehr der Antike. Insbesondere in der Gerichtspraxis wurden nur solche antiken Sätze übernommen, die der Gegenwart angemessene Lösungen boten. Oft genug bedeutete das auch, dass man einen solchen Satz zwar übernahm, aber ganz anders verstand als die antiken Römer. Zwischen diesem Gemeinen Recht und den territorialen und regionalen Rechten fand zudem ein beständiger Austausch statt. Es existierten Literaturgattungen, die das Gemeine Recht mit den sonstigen Rechten verglichen und auch gemeinsam verarbeiteten. Seit dem 17. Jahrhundert erklärte die Differentienliteratur den Juristen die unterschiedlichen Lösungswege. Im 18. Jahrhundert traten ihr die sog. Institutionenlehrbücher an die Seite, die ebenfalls „deutsches“ und „römisches“ Recht zusammendachten. Im 19. Jahrhundert näherten sich die Lehr- und Handbücher zum „Deutschen Privatrecht“ dem nichtrömischen und die Lehrbücher des „heutigen römischen Rechts“ dem römischen Anteil des praktizierten Privatrechts. Immer wurde versucht, übergreifende Lösungen herauszuarbeiten. Rechtspluralismus war also ein ständiges Rechtsgespräch, kein getrenntes Dasein. Vieles war bereits einheitlicher, als es äußerlich schien. Die Rechtseinheit durch Gesetzgebung hatte demzufolge eine Vorgeschichte. Als die Arbeiten zum BGB begannen, lief bereits lange ein Prozess der Rechtsvereinheitlichung, der zunächst durch eine einheitliche Rechtswissenschaft, später immer stärker durch eine einheitliche Rechtsprechung vorangetrieben wurde. Hier bildete sich eine Rechtskultur aus, die Deutschland bis heute prägt. Es lohnt also ein genauerer Blick.
Literatur: Klaus Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ius Commune III, 1970, S. 69 ff.; Diethelm Klippel (Hg.), Deutsche Rechts- und Gerichtskarte, Goldbach 1996; Claudia Schöler, Deutsche Rechtseinheit, Köln 2004; Gero Dolezalek, Differentienliteratur, in: HRG Bd. I, 2. Aufl. Berlin 2008, Sp. 1059 f.; Peter Oestmann, Rechtsvielfalt, in: Nils Jansen u. Peter Oestmann (Hgg.), Gewohnheit. Gebot. Gesetz, Tübingen 2011, S. 99 ff.
2.2.1.1 Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft
2.2.1.1.1 Rechtsreform durch Ausbildungsreform: Savignys Reformmodell von 1808
Deutschlands wohl überhaupt berühmtester Jurist, Friedrich Carl von Savigny, hatte 1808 darüber nachgedacht, wie man ein nationales Recht denken könne, obwohl es keinen dies tragendes Reich wie das 1806 untergegangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation mehr gab. Er fand die Lösung in der Vorstellung, dass die Deutschen, durch eine gemeinsame Sprache und Kultur verbunden, auch ohne Staat ein Volk, eine Nation seien. Und als ein solches Volk hätten sie ein gemeinsames Bewusstsein vom Recht. Die Idee war bestechend. Wenn solch ein gemeinsames Rechtsbewusstsein existierte – dem Savignys Anhänger Georg Friedrich Puchta 1826 den Namen „Volksgeist“ gab –, dann verstieß ein Territorialstaat, der anders entschied, gegen das eben doch nationale Rechtsgefühl seiner Bürger. Dieses Rechtsgefühl schuf eine nationale Einheit, die eines Staates gar nicht bedurfte, um ein gemeinsames Zivilrecht zu haben. Wie konnte man sich das konkret vorstellen?
Idealerweise konnte man sich eine Identität zwischen dem Rechtsbewusstsein und dem Recht denken. Dann besaß eine Nation ihr eigenes Recht. Für Deutschland sei, so Savigny, nun kennzeichnend, dass es ein solches eigenes Recht, das seinem Rechtsbewusstsein entspreche, nicht besitze. Es gab also eine Kluft zwischen dem einheitlichen Rechtsbewusstsein und dem tatsächlich geltenden Recht. Deutschland habe nur fremdes Recht. Es bestehe im Wesentlichen aus der Kombination zweier „ursprünglicher oder nationaler“, also „unmittelbar in einem Volke“ entstandener Rechte, des Römischen und des Germanischen, „dessen Ursprung im Mittelalter zu suchen ist“. Da das Germanische „nicht blos in Deutschland, sondern in allen germanischen Staaten sich entwickelt und ausgebildet hat“, galt, dass wir „kein eigenes, ursprüngliches Recht besitzen“.17 Die beiden Rechte, die Savigny so umschrieb, waren sehr unterschiedlich. Das Germanische Recht, von dem er sprach, war auch in den nordischen Ländern, aber auch in England und Teilen Frankreichs entwickelt worden. Es war stark von Gewohnheiten geprägt, durch unstudierte Schöffen in Laiengerichten ausgesprochen und erst spät verschriftlicht worden. Es hatte in Deutschland Einzug gehalten vor allem über das Gewohnheitsrecht der ländlichen Bevölkerung und das Recht der Städte. Demgegenüber stand das Römische Recht, dessen Kenner Savigny war. Es war maßgeblich durch eine Schicht von Rechtsspezialisten in der Antike gebildet und seit dem Mittealter neu interpretiert worden. Das Römische Recht war in seiner Wirkung auf Deutschland untrennbar verbunden mit dem Aufstieg einer europäischen Universitätsausbildung, die – von Oberitalien ausgehend – Juristen produziert hatte, die seit dem 15. Jahrhundert zunehmend in der Rechtspraxis Fuß fassten. Sie entwickelten als Notare Vertragsformulare, die es erlaubten, früher oft nur mündlich getroffene Vereinbarungen sicher und beweisbar zu speichern. Sie berieten Klienten, denen sie durchdachte Lösungen aus dem großen römischen Rechtsvorrat anboten, die den vorher üblichen oft überlegen waren. Sie fungierten als Rechtsberater (Syndici) der Städte und verschriftlichten die dortigen Rechtsgewohnheiten, was sie oft dazu nutzten, römische Regelungen einfließen zu lassen.
Mit dem Reichskammergericht stand seit 1495 erstmals ein höchstes Gericht des Reiches bereit, das von Juristen geprägt wurde und Römisches Recht berücksichtigte. Die gemeinsame Juristenausbildung schuf einen Juristenstand, der in ganz Europa ähnliches Recht verbreitete: schriftlich, rational und inhaltlich Römisches Recht, wie man es zeitgenössisch verstand, durchsetzt von Regeln des Kirchenrechts (sog. Kanonischen Rechts), die im christlich grundierten Reich nicht durch antike Regeln verdrängt werden durften. Langsam bildete sich die Meinung, dass es sozusagen als gemeinsamer Boden aller so unterschiedlichen Privatrechte im Alten Reich ein sog. Gemeines Recht (Ius Commune) gebe. Es gelang diesem Ius Commune zu keinem Zeitpunkt, die vielen territorialen Rechte zu verdrängen. Es war, wie bereits angedeutet,18 stets „subsidiär“, also nur dann anzuwenden, wenn das Problem in anderen Rechten nicht geregelt war. Man nannte diesen komplexen Prozess bereits seit Hermann Conring 1643 „Rezeption des Römischen Rechts“: Ein Recht einer fremden Nation hatte, vermittelt durch die Juristen, in komplexen Prozessen langsam in der Rechtspraxis Fuß gefasst. In beiden Fällen hatten in Deutschland Rechte Einfluss gewonnen, die nicht unmittelbar aus dem deutschen Rechtsbewusstsein entstanden waren, sondern in den gemeinsam „germanisch“ geprägten Völkern einerseits und in Rom andererseits.
Aus diesem Befund Savignys, dass Deutschland kein Recht habe, das aus dem deutschen Rechtsbewusstsein entwickelt worden sei, resultierten nun die Aufgaben für eine Rechtswissenschaft, die sich dem Rechtsbewusstsein der deutschen Nation verpflichtet sah.
Ausgangspunkt war, dass alle territorialen Kodifikationen unklare Mischungen fremder Rechte waren und nicht beanspruchen konnten, dem deutschen Rechtsbewusstsein zu entsprechen. Das in Preußen seit 1794 geltende Allgemeine Landrecht, der im westlichen Deutschland verbreitete französische Code civil, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs: Alles bloße Mischungen fremder Rechte, geschaffen in einem „sehr schlechten Zustand unsrer Wissenschaft“. Der schlichte Blick in das, was in Deutschland als positives Recht galt, stand damit unter dem Generalverdacht, Recht zu behaupten, das dem nationalen Rechtsbewusstsein widersprach. Hieraus resultierte Savignys Reformprogramm. Eine „Nation, die ein fremdes Recht hat, kann diesen Zustand nicht aufheben, aber sie kann ihn unschädlich machen durch glückliche Bearbeitung der gelehrten Jurisprudenz, und diese ist umso nötiger, wenn durch eigene Gesetzbücher die Täuschung veranlaßt wird, als habe man ein eigenes Recht“.19
Wenn ein Recht aus zwei fremden Wurzeln entstanden war, die sehr unterschiedlich waren, dann musste sich die Rechtswissenschaft aufteilen in Spezialisten für jedes dieser Ursprungsrechte. Man sprach von „Germanisten“ und „Romanisten“:
Alle Jurisprudenz, insofern sie eigenes, selbstständiges Daseyn haben soll, ist demnach entweder römisch oder germanisch.
Nun musste es zunächst darum gehen, die Ursprungsrechte zu verstehen. Deshalb meinte Savigny so entschieden, „gründliche Kenntniß des ursprünglichen Rechts, und namentlich des römischen, kann allein lehrreich seyn, jede andere ist so gut als keine“.20 Erst wenn man das Ursprungsrecht in seinem jeweiligen Bezug zum Ursprungsvolk und dessen Rechtsbewusstsein verstanden hatte, dann war es möglich, in einem zweiten Schritt das geltende Recht von dem zu „reinigen“, was fremdem, aber nicht mehr aktuell deutschem Rechtsbewusstsein entsprach, also „abgestorben“ war. Um dies zu können, mussten Juristen, so Savigny, an den Universitäten in einer dreifachen Methode ausgebildet werden: Exegese, Geschichte, System. Von Savigny und seinen Schülern, der sog. Historischen Rechtsschule ausgehend, verbreitete sich im 19. Jahrhundert dieses Methodenprogramm an fast allen deutschsprachigen Universitäten und schuf einen gemeinsamen deutschen Juristenstand, der gelernt hatte, in einer ganz bestimmten Art mit dem positiven Recht umzugehen. Hier wurden die Grundlagen für eine Art der Jurisprudenz gelegt, die bis heute Deutschland und teilweise den deutschsprachigen Raum von fast allen anderen europäischen und außereuropäischen Arten der Rechtsbehandlung unterschied: der „German Approach“,21 der bis heute – im positiven wie im negativen – den Blick des Auslandes auf die deutsche Rechtswissenschaft beeinflusst. Die Ausbildungseinheit schuf weniger ein deutsches Rechtsbewusstsein als ein deutsches Juristenbewusstsein, das im 19. und besonders auch im 20. Jahrhundert das deutsche Recht vereinheitlichte und prägte.
Literatur: Mario Bellomo, Europäische Rechtseinheit, München 2005, insb. S. 117 ff.; Tilman Repgen, Ius Comune, in: Hans-Peter Haferkamp u. Tilman Repgen (Hgg.), Usus modernus pandectarum, Köln 2007, S. 157 ff.; Nils Jansen, Art. Ius commune in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, Tübingen 2009, S. 917 ff.; Christoph Schönberger, Der „German Approach“, Tübingen 2015; Hans-Peter Haferkamp, Die Historische Rechtsschule, Frankfurt a. M. 2018.
2.2.1.1.2 Wege zum Volksgeist zwischen Rationalität und Intuition
Um das Vertrauen der Pandektenwissenschaft in die Richtigkeit ihres nachfolgend geschilderten Verfahrens zu verstehen, bedarf es zunächst eines Blicks auf den von ihr beschriebenen Erkenntnisgegenstand: das Recht als Produkt des Volksgeistes.
In der Vorstellung, dass das Recht im Bewusstsein des Volkes seinen Ursprung habe, lagen einige Prämissen versteckt. Der Volksgeist entwickelte sich in seinem historischen Gang nicht zufällig. Der Stoff des Rechts sei, so Savigny 1815, „hervorgebracht von der höhern Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen“. Recht entstehe daher „nicht durch Willkühr, so daß er [sc. der Stoff] zufällig dieser oder ein anderer seyn könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte“.22 Der Volksgeist war also nicht einfach Gewöhnung an bestimmte eingeübte Verhaltensweisen der Bevölkerung oder der Juristen etwa in einem Gerichtsgebrauch. Er produzierte Recht weder durch bewusste Gesetzgebung noch durch ein Gespräch der Menschen darüber, wie sie leben wollten. Der Volksgeist wurde nicht vom Volk bewusst gemacht, es ging nicht um Diskussionsprozesse, Abstimmungen, gar demokratische Verfahren. Der Volksgeist war vielmehr immer schon irgendwie da, wurde den Menschen aber erst langsam bewusst, er kam in ihren Handlungen „zum Bewußtseyn“, er verschaffte sich Raum, wurde sichtbar. Er war Ausdruck der „höhern Natur“ des Volkes. 1814 hatte Savigny vom „Schicksal“ eines Volkes gesprochen.
Im Volksgeist steckte die gesamte Frage nach der Gerechtigkeit eines positiven Rechts, und die Antwort lautete: Recht ist für ein bestimmtes Volk gerecht, wenn es seinem Geist entspricht. Eine Rechtswissenschaft konnte daher nur dann über eine bloße Beschreibung des Status quo hinauskommen und der Gegenwart das „richtige“ Recht erklären, wenn sie in der Lage war, diesen Volksgeist zu entschlüsseln. Nahe gelegen hätte es aus unserer heutigen Perspektive, wenn man sich diesem Volksgeist nun analytisch näherte, indem man erklären könnte, wie das Volk ein Rechtsbewusstsein ausbildet, wie ein Satz von ihm als mit seinem Rechtsgefühl übereinstimmend empfunden wird, dann hätte man richtiges Recht an seinem Verfahren der Entstehung dingfest machen können. Kennzeichnend für den Ausgangspunkt aller Probleme war nun, dass man dies für unmöglich hielt. Wie der Volksgeist funktionierte, wurde als letztlich nicht beantwortbar aus der Wissenschaft ausgeschlossen.
Die Entstehung des Rechts aus dem Volksgeist ist eine unsichtbare […]. Was uns sichtbar ist, das ist nur das Entstandene selbst, das Recht also, nachdem es aus der dunklen Werkstätte,23 in der es bereitet wurde, hervorgetreten und wirklich geworden ist.24
Warum man sich dieser Frage verweigerte, wird deutlich mit Blick auf die dezidiert christliche Perspektive, die dieser Vorstellung eines schaffenden Volksgeistes bei Savigny und seinen Schülern zugrunde lag. Der Volksgeist war das Bindeglied des Menschen zu Gott. In intensiven rechtsphilosophischen Diskussionen einigte man sich in den 1830er Jahren auf einige Prämissen des Volksgeistkonzepts. Der Mensch war seit dem Sündenfall seinem Gott entfremdet, was sich darin verdeutlichte, dass er in der Lage war, sich gegen Gott zu entscheiden, das „Böse“ zu wählen. Positives Recht entstand also durch die Menschen, durch Gerichte, durch Gesetzgeber, durch wiederkehrende gleichförmige Handlungen der Menschen als Gewohnheitsrecht. Da der Volksgeist aber nicht einfach das war, was Menschen als Recht setzten und anwendeten, sondern der Versuch Gottes, über das Rechtsgefühl und ihr Gewissen den Menschen zu zeigen, was sie tun sollten, ergaben sich einige uns heute fremde Überlegungen für eine Methode der Rechtswissenschaft, die es sich zur Aufgabe machen musste, im Wirklichen des positiven Rechts das wahre, gerechte Recht zu finden, das mit der durch Gott dem Menschen gestellten Aufgabe übereinstimmte.
Zunächst war klar, dass all das, was in der Wirklichkeit an Recht entstand, niemals deshalb richtig sein konnte, weil es in einem bestimmten Verfahren gesetzt worden war oder weil es viele gut fanden. Der Mensch konnte irren; nicht er, nur Gott entschied, was gerecht war. Es gab also viel ungerechtes Recht, was angewendet wurde. Daraus ergab sich, dass alle früheren Geltungsgründe für Recht, seine Setzung durch Obrigkeiten (Gesetz), der Gerichtsgebrauch (Präjudiz) oder die gemeinschaftliche Übung (Gewohnheitsrecht), zwar unverzichtbare erste Untersuchungspunkte jeder Rechtswissenschaft sein mussten, aber nie die Richtigkeit eines Rechtssatzes nachweisen konnten. Sie blieben bloßes Geltungsindiz:
Die Sache ist diese: es entsteht eine Vermuthung für die Wahrheit einer Ansicht, wenn sie von den bewährtesten Rechtsgelehrten übereinstimmend vorgetragen wird (communis opinio), und wenn sie sich auch in der Anwendung constant geltend gemacht hat (usus fori), und ein gewissenhafter Richter wird im Zweifel dabei stehen bleiben. Aber diese Vermutung muss der Wahrheit weichen; sowie ein Richter sich von ihrer Unrichtigkeit fest überzeugt hat, würde er pflichtwidrig handeln, wollte er sie noch ferner anwenden, und hätte man sie Jahrhunderte lang für wahr gehalten, und seit Menschengedenken in den Gerichten befolgt.25
Die Wahrheit eines Rechtssatzes offenbarte sich also nie in dem, was der Mensch sah, also in der empirischen Wirklichkeit des positiven Rechts, die immer nur Indizien brachte. Die wahre Wirklichkeit, nach der Savigny und seine Schüler suchten, war der Volksgeist, also der in der Wirklichkeit verborgene Geist, den Gott im Volk wachsen ließ. Diesen Geist konnte man nicht zählen, messen oder betrachten. Es gab nur das, was Georg Friedrich Puchta die „feste Überzeugung“ nannte. Diese Überzeugung war mehr als das individuelle Rechtsgefühl des Rechtswissenschaftlers und auch mehr als sein logisches Denken. Savignys Schüler Friedrich Bluhme erläuterte, man könne nicht trennen zwischen dem „Sitz des einfachen Gewohnheitsrechts im Rechtsgefühl und de[m] des Juristenrechts im Verstand[,] […] da weder Gefühl noch Verstand für sich allein ein Recht zu bilden vermag: das Entscheidende bleibt immer erst die gemeinsame Ueberzeugung von dem Dasein einer rechtlichen Nothwendigkeit“.26 Der Jurist musste am Volk und dessen Geist teilhaben, zugleich aber irgendwie Kontakt zu Gottes Willen aufnehmen, um sich eine sichere Überzeugung bilden zu können. Weder Verstand noch Gefühl boten Sicherheit, denn, so Moritz August von Bethmann-Hollweg:
Es muß etwas Höheres und Umfassenderes hinzukommen, eine Ueberzeugung, die nicht blos aus der Auffassung und Combination der einzelnen äußeren Erscheinungen und aus unbestimmten, wenn gleich noch so reellen, nicht leicht zu ertödtenden Gefühlseindrücken entsteht, und eine solche tiefere und festere Ueberzeugung suchen die Weisen dieser Welt in sich selbst, in ihren philosophischen, naturrechtlichen, politischen Theorien und Systemen, die findet aber der Christ – der in Wahrheit in Christo seine Weisheit, wie seine Gerechtigkeit und Erlösung und Heiligung sucht und ergreift – vollständig und abschließend in der Welt- und Lebensabsicht, welche das Wort Gottes darbietet und fordert.27
Bethmann-Hollweg schwärmte für die Suche des Juristen nach Gerechtigkeit vom
Weg des Glaubens, auf dem ein höheres Licht ihm entgegenstrahlt, und, indem es sein ganzes Wesen ergreift, verjüngt und belebt, jeder Kraft in ihm einen neuen Schwung verleiht. Was er dort sehnsüchtig zu schauen trachtet, empfängt er hier zu eigen, das ewige Recht, das göttliche Gesetz, nicht bloß als dunkles Gefühl, sondern als erleuchteten innersten Trieb seiner Seele.28
Savigny forderte in diesem Sinne Demut und Selbstverleugnung, denn vor Unwahrheit schütze in der Wissenschaft wie im Glauben „ein stilles demüthiges Herz, treue Liebe zur Wahrheit und herzliches Gebet[,] […] denn hier und dort ist es doch am Ende der einfältige Kindersinn, dem allein die Wahrheit offenbart wird“.29 Diese Hinwendung zu Christus als sozusagen intuitiv-gläubiger Erkenntnisweg machte zugleich deutlich, warum diese Rechtswissenschaft so stark für eine historisch-systematische Dogmatik eintrat. Wäre man an diesem Punkt stehen geblieben, wäre die Rechtswissenschaft in der Theologie aufgegangen. Die Hinwendung zu Christus konnte jedoch nur die eine Seite des Weges zum Volksgeist sein. Die andere Seite musste versuchen, das Recht auch zu „begreifen“, sich zu erklären, wie dieses Recht zusammenhing. Alle nun gewählten Erkenntniswege – Exegese, Geschichte, System – mussten stets durch das Rechtsgefühl abgesichert werden. Savignys Anhänger Ludwig Carl Heinrich Freiherr von der Pfordten verdeutlichte 1837, man betrachte „die menschliche Vernunft nicht als die Quelle der Erkenntniß, sondern nur als Mittel hierzu, zur Erforschung des Gegebenen, Vorhandenen, Offenbarten“.30 Rationalität diente daher dazu, einen entstandenen Gegenstand zu verstehen, der sich in seiner Entwicklung selbst rationaler Durchdringung entzog. Rechtswissenschaft bewegte sich zwischen Verstehen und Erfühlen. Wissenschaftliche Arbeit sei, so Savigny bereits 1803, „historisch-intuitiver und wissenschaftlich-logischer Sinn in gegenseitiger Durchdringung“.31
Literatur: Hans-Peter Haferkamp, Die historische Rechtsschule, Frankfurt a. M. 2018, S. 197 ff.
2.2.1.1.3 Exegese
Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass die antiken und mittelalterlichen Ursprungsrechte für uns nicht mehr unmittelbar erlebbar waren, sondern nur in Form schriftlicher Überlieferung existierten. Da um 1800 auch das meiste andere Recht bereits schriftlich vorlag, war die Arbeit des Juristen durchweg Textinterpretation, wofür sich, aus der Theologie kommend, das Wort „Exegese“ eingeprägt hatte. Für die exegetische Tätigkeit des Juristen hatten sich seit langem bestimmte Regeln eingebürgert, die sog. hermeneutica iuris. Kennzeichnend für die Reform, die in dieser Frage um 1800 stattfand, war nun, dass sich von der Göttinger Theologie ausgehend und vermittelt durch den Juristen Gustav Hugo, bei Savigny und seinen Schülern die Ansicht durchsetzte, dass man Textinterpretation nur durch Interpretieren, nicht durch eine Theorie der Interpretation lernen könne. Hatte man noch im 18. Jahrhundert dem Studenten einerseits die Regeln der Interpretation als Theorie und andererseits fertige Ergebnisse der Interpretation als Stoff gelehrt, so wurde nun der Student selbst zum Interpreten. Als Savigny 1819 erstmals Einblick in eine auch für ihn neue Quelle des Römischen Rechts erhielt, Teile eines von dem befreundeten Historiker Barthold Georg Niebuhr 1816 in Verona entdeckten Lehrbuchs des Juristen Gaius aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., kündigte er sofort eine Vorlesung dazu an, in der er mit den Studenten den neuen Text in 90 Stunden gemeinsam interpretierte. Interpretieren lernte man durch Interpretieren. Wenn man dies gemeinsam tat, ergab sich wie von selbst eine Einheit von Wissenschaft und Lehre. Wenn Savigny selbst 1840 in seinem „System des heutigen Römischen Rechts“ eine heute oft falsch verstandene Auslegungslehre vorlegte, war gerade für ihn Interpretation „freye Geistesthätigkeit“,32 und die darin liegende „Kunst, das bedeutende und eigenthümliche in jedem [Gesetz] schnell aufzufinden“,33 lasse sich „eben so wenig, als irgend eine andere, durch Regeln mittheilen oder erwerben“,34 sondern sei „blos durch Übung zu erwerben“.35 Drastischer formulierte diese Grundüberzeugung sein Schüler Puchta in seinen Vorlesungen:
Nicht zu weit zu gehen, davor muß der gesunde Tact und Verstand bewahren, solche äußerlichen Regeln würden nur den Schwachköpfen dienen, um sie des eigenen Denkens zu überheben, diese sollen aber besser gar nicht interpretieren.36
Hier begann die deutsche Tradition, dass fast alle heutigen Juristen niemals eine Vorlesung zur juristischen Methodenlehre gehört haben und gleichwohl eine ziemlich einheitliche Methode anwenden. Die besondere Bedeutung dieses Verfahrens wird erst klar, wenn man bedenkt, was für Texte in diesen Vorlesungen interpretiert wurden. Worum es ging, zeigt ein Beispiel:
2.2.1.1.4 Vertiefung: D. 12, 1, 18, pr. und 41.1.36 und der dingliche Vertrag in § 929 S. 1 BGB
In den Digesten wird eine heute berühmte Kontroverse zwischen zwei römischen Juristen überliefert, an der sich typische Herausforderungen einer Exegese als Ermittlung des römischen Rechts zeigen lassen.
Ausgangspunkt war ein im 6. Jahrhundert in die Digesten (41.1.36) aufgenommener Text von Julian (Salvius Julianus), der um 150 n. Chr. entstanden war:
Wenn wir uns über den Gegenstand einigen, der übergeben wird, bezüglich des Erwerbsgrundes jedoch verschiedener Meinung sind, sehe ich nicht ein, warum die Übergabe unwirksam sein sollte. Etwa wenn ich glaube, ich sei dir aufgrund eines Testaments verpflichtet, ein Grundstück zu übergeben, du jedoch meinst, es wäre dir aus einer Stipulation geschuldet. Denn auch wenn ich dir abgezähltes Geld in Schenkungsabsicht übergebe, du es aber gleichsam als Darlehen annimmst, steht fest, dass das Eigentum übergeht und kein Hindernis darin besteht, dass wir uns über den Grund des Gebens und Empfangens nicht geeinigt haben.37
Der gleiche Fall wird an anderer Stelle nochmals angesprochen (D. 12.1.18 pr.), nun in einem Fragment von Ulpian, das um 200 n. Chr. entstand und auf die Ansicht Julians einging.
Wenn ich dir Geld in der Absicht gebe, es Dir zu schenken, du es aber als Darlehen annimmst, liegt, wie Julian schreibt, eine Schenkung nicht vor; doch man müsse in Betracht ziehen, ob ein Darlehen vorliegt. Und ich meine, dass auch kein Darlehen gegeben ist und mehr dafür spricht, dass die Münzen nicht Eigentum des Empfängers werden, da dieser beim Empfang eine andere Vorstellung (als der Geber) hatte. Hat er also die Münzen verbraucht, kann er, obwohl er mit der Kondiktion haftet, dennoch die Einrede der Arglist geltend machen, da die Münzen dem Willen des Gebers entsprechend verbraucht worden sind.38
Bedenkt man, dass dieser Text in einer Rechtssammlung des spätrömischen Kaisers Iustinian (482–565 n. Chr.), dem (später sog.) Corpus Iuris Civilis, überliefert ist, das mit dem Anspruch auftrat, Recht festzusetzen, so ist man überrascht: Erzählt wird ein Rechtsfall. Noch dazu gibt es gar keine eindeutige Lösung, sondern zwei Meinungen, die von Julian und die von Ulpian. Die beiden berühmten Juristen kannten einander nicht persönlich, Julian stand um 150 n. Chr. im Zenit seiner Wirksamkeit, Ulpian kurz nach 200 n. Chr. Aber beide waren Teil einer Schriftkultur, die eine Diskussion solcher Fälle über Jahrhunderte ermöglichte. Natürlich kannten auch die Römer schlichte Festsetzungen von Recht durch Gesetze, Beschlüsse, Entscheidungen der hierfür zuständigen Organe, früh etwa des Senats oder des Prätors als Gerichtsmagistrat, später des Kaisers. Für die europäische Rechtsentwicklung wichtiger waren jedoch die Teile des Corpus Iuris Civilis, in denen Juristen wie Julian oder Ulpian Fälle zur Diskussion stellten, die ihnen als Gutachter und Berater oder vielleicht einfach nur ausgedacht begegneten. Indem diese Fälle über lange Zeit von Juristen diskutiert wurden, gerieten immer mehr Denkmöglichkeiten für die Lösung in den Blick. Das hohe Niveau der Debatte war es vor allem, das seit dem Mittelalter Juristen begeisterte. Zugleich verschob sich jedoch das Problem. Hatten Julian und Ulpian einfach zwei unterschiedliche denkbare Lösungen präsentiert, die auch unter Justinian noch nebeneinander stehen blieben, ohne entschieden zu werden, so sahen die mittelalterlichen Juristen im überlieferten römischen Recht eine ratio scripta, geschriebene Vernunft. Nun ging es darum, mittels einer Textinterpretation Widersprüche aufzulösen und eine „richtige“ Lösung aus den Digesten herauszuinterpretieren. Aus einer antiken Diskussionskultur wurde seit dem Mittelalter „Rechtsanwendung“. Dass diese Quellen für ein solches Verfahren viel mehr Probleme boten als etwa heutige Gesetze, zeigt gerade die Diskussionsgeschichte dieser Stellen seit dem Mittelalter.
Typisches Ausgangsproblem war, dass vor allem Julian, aber auch teilweise Ulpian nahezu keine Gründe für sein divergierendes Ergebnis vorbrachte. Sie erklärten das römische Recht nicht, sondern setzten es voraus und dachten es nur für einzelne Probleme weiter. Selten finden sich in den Digesten abstrakt-generelle Rechtssätze oder eine einfache Einführung in das Rechtsproblem. Das römische Recht war sozusagen in diesen Texten versteckt.
Vieles konnte man im Mittelalter schnell klären. Zwar waren die Schenkung (donatio) und das Darlehen (mutuum) sog. Realverträge, die durch Hingabe der Sache zustande kamen. Gleichwohl musste beiden Verträgen von den Vertragsparteien aber zugestimmt werden. Da ein solches Einvernehmen über den Grund der Leistung zwischen den Vertragsparteien nicht erfolgt war, war der Vertrag unwirksam. Da nach römischem Recht der derivative Eigentumsübergang neben der Übergabe einen anerkannten Rechtsgrund (iusta causa) verlangte, war ein solcher Rechtsgrund eigentlich nicht gegeben; auf den ersten Blick ein einfacher Fall also.
Während Ulpians Ansicht genau auf dieser Linie zu sein schien, verursachte die Ansicht von Julian, der als einer der scharfsinnigsten römischen Juristen galt, große Auslegungsschwierigkeiten. Mittelalterliche Juristen versuchten daher einerseits, die Widersprüche hinwegzuinterpretieren. Sie taten dies, indem sie auf verschiedenen Wegen nachzuweisen versuchten, dass sich die von Julian erzählte Konstellation vom Fall Ulpians eben doch unterschied. Noch im 20. Jahrhundert versuchte man, den Gegensatz zwischen Julian und Ulpian dadurch aufzulösen, dass man zwischen den Originaltexten Julians und Ulpians und den in die Digesten übernommenen Fragmenten unterschied. Betont wurde nun, dass es unter Justinian Eingriffe in die Texte gegeben hatte, sog. Interpolationen. Da die Originaltexte Julians und Ulpians verschollen waren, hatte die nun einsetzende „Interpolationenjagd“ (Otto Lenel) prinzipiell keine Grenzen im Text. Bei Gerhard Beseler, dem wohl radikalsten Vertreter der Interpolationistik, blieb von Julians Text nicht viel: