Kitabı oku: «Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB», sayfa 4
Wenn ich dir ein Grundstück schenkungshalber manzipiere (statt: zur Erfüllung einer testamentarischen Verbindlichkeit tradierte), du es gleichsam zum Zweck der Treuhand (statt: als Erfüllung einer Stipulationsverbindlichkeit) entgegennimmst, so liegt keine Schenkung vor (statt: geht Eigentum über). Denn auch wenn ich dir abgezähltes Geld schenkungshalber übergebe, du es gleichsam als Darlehen entgegennimmst, liegt keine Schenkung vor (statt: erwirbst Du Eigentum, auch wenn wir über die causa uneinig sind).39
Beließ man es beim ursprünglichen Text und auch bei dem darin ausgedrückten Widerspruch, so blieb nur die andere Möglichkeit, in die römische Dogmatik ein neues Argument zu integrieren. Man erweiterte die Lehre von der iusta causa auf einen nur vorgestellten Erwerbsgrund (causa putativa) bzw. einen irrtümlich falsch angenommenen Erwerbsgrund (causa erronea).
Savigny gehörte weder zur ersten noch zur zweiten Gruppe. In seinem Textverständnis neigte er dazu, über den engen Wortlaut hinaus relativ frei systematisch-dogmatische und historische Argumente zusammenzulesen, die manche Quellen in den Vordergrund heben konnten, andere herabstuften. Auch konnte er sich jederzeit vom römischen Recht lösen, wenn er dies mit dem Wandel von Antike zur Gegenwart begründen konnte. Vorliegend sah Savigny natürlich die Streitfrage zwischen Julian und Ulpian. In diesem Fall löste er sich jedoch von historischen Erwägungen und schlug sich mit einem eigenen dogmatischen Argument auf die Seite Julians, um damit gleichzeitig eine neue dogmatische Lösung zu entwickeln, die er jedenfalls als dem römischen Denken entsprechend ansah. Savigny argumentierte mit der Handschenkung, also der in § 516 BGB noch rudimentär vorhandenen Schenkung durch bloße Sachübergabe. Er fragte am Beispiel des Bettlers, wie denn dieser hier Eigentümer am Almosen werden könne, da eine vorherige schuldrechtliche Verpflichtung, also eine iusta causa, offenbar nicht vorliege? Daher musste auch ein Eigentumsübergang ohne vorangegangenen Rechtsgrund möglich sein – was genau Julians Ansicht entsprach. Savigny dachte das dann entstehende Problem freilich eine Stufe weiter:
Wird zum Beyspiel ein Haus verkauft, so denkt man gewöhnlich an den obligatorischen Kauf, und ganz richtig; aber man vergisst darüber, dass die nachfolgende Tradition auch ein Vertrag ist, und ein von jedem Kauf ganz verschiedener, nur durch ihn nothwendig gewordener. Die Verwechslung wird recht anschaulich durch die seltneren Fälle der Tradition ohne vorhergehende Obligation, wie bey dem Geschenk an einen Bettler, dass einen wahren Vertrag enthält ohne alle Obligation, bloßes Geben und Nehmen in übereinstimmender Absicht […]. Man könnte, zur schärferen Unterscheidung alle diese Fälle als dingliche Verträge bezeichnen.40
„Wenn wir uns über den Gegenstand einigen, der übergeben wird, bezüglich des Erwerbsgrundes jedoch verschiedener Meinung sind, sehe ich nicht ein, warum die Übergabe unwirksam sein sollte“, hatte Julian vertreten. Savigny machte deutlich, warum: Es liegt ja eine Einigung vor, nämlich ein dinglicher Vertrag, wie er heute in § 929 S. 1 BGB als deutsche Besonderheit in Europa kodifiziert ist. Ob Julian das gemeint hatte, ist ziemlich zweifelhaft. Es passt jedoch zu Savignys einfühlender Hermeneutik, wenn er gleichwohl betonte: „Unsere Theorie ist ganz den Quellen gemäß“.41 Savigny sah sich dem römischen Denken eng verwandt, er dachte kongenial. Spätere Pandektenwissenschaftler waren hier ehrlicher: „Dieser Grundsatz ist allerdings nirgends ausdrücklich im römischen Recht formuliert. Wir müssen ihn aber abstrahieren aus Untersätzen, aus Entscheidungen, die sich allein aus ihm herleiten lassen und auf ihn zurückführen“,42 bzw. deutlicher: „Nur die Entscheidung Julians steht mit den allgemeinen Prinzipien im wahren Einklang, so dass wir zu derselben gelangen müssten, wenn gar keine besonderen gesetzlichen Bestimmungen darüber vorlägen“.43
Die Pandektenwissenschaft zeigte sich daher von äußerst schwer zu interpretierenden Quellen geprägt. In ihrem Versuch, eine untergegangene Welt zu rekonstruieren, nahm sie sich viel interpretatorische Freiheit. Ziel war eine Interpretation, die von fester „Überzeugung“ des Interpreten getragen war und zugleich möglichst viele Rechtswissenschaftler überzeugte. Dann sah man sich der Wahrheit nah.
Zugleich war die Pandektenwissenschaft tief vom antiken Fallrechtsdenken geprägt. Bei Savigny wurde deutlich, wie Dogmatik von Fällen her gedacht entstand. Mit der von Savigny vorangetriebenen Studienreform entwickelte sich die noch heute in Deutschland prägende Fallorientierung der Ausbildung. In den großen Pandektenvorlesungen blieb wegen der Stofffülle oft zu wenig Zeit für eindringende Exegese. Daher entstanden im Umfeld Savignys exegetische Übungen, die sich langsam über die antiken Texte hinaus auf Schulfälle konzentrierten, die bald jeder Student kannte. Berühmt wurden später die von Rudolf von Jhering unter Rückgriff auf ältere Fälle seines Lehrers Puchta herausgegebenen „Rechtsfälle des täglichen Lebens“, die von Generationen von Juristen durchgearbeitet wurden und etwa im berühmten „Speisekartenfall“44 jedem Juristen vor Augen standen. Durchaus anders als heute wurden diese Fälle nicht nach einer „Anspruchsmethode“ mit „Gutachtenstil“ gelöst. Ganz im Stil der Römer nahm man vielmehr sofort das juristische Kernproblem in den Blick und diskutierte mögliche Lösungen. Dabei stellten Studenten ihre Lösungen zur Diskussion. Da die Fälle ohne autoritative, „richtige“ Lösungen veröffentlicht wurden, ging es nicht darum Wissen zu erwerben, sondern erworbenes Wissen so anzuwenden, dass andere Juristen im Rechtsgespräch überzeugt wurden. Die hier gelernte Dogmatik war freies rationales Argumentieren auf Basis bestehender Rechtsquellen.
Literatur: Wilhelm Felgentraeger, Friedrich Carl von Savignys Einfluß auf die Übereignungslehre, Leipzig 1927; Filippo Ranieri, Die Lehre von der abstrakten Übereignung in der deutschen Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Helmut Coing u. Walter Wilhelm (Hgg.), Wissenschaft und Kodifikation im 19. Jahrhundert, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 90 ff., 96 ff.; Franz Josef Hölzl, Savignys Lehre von der Stellvertretung. Ein Blick in seine juristische Werkstatt, Göttingen 2002; Franz-Stefan Meissel, Julian und die Entdeckung des dinglichen Vertrages, in: Ulrich Falk, Michele Luminati u. Mathias Schmoeckel (Hgg.), Fälle aus der Rechtsgeschichte, München 2008, S. 62 ff.; Joachim Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: ders. u. Ralf Seinecke (Hgg.), Methodik des Zivltrechts – Von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. Baden-Baden 2017, S. 59 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Die historische Rechtsschule, Frankfurt a. M. 2018, S. 41 ff.; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, Bd. 1: 1500–1933, 3. Aufl. 2020, S. 216 ff; Hans-Peter Haferkamp, Rechtsfälle in der juristischen Ausbildung der Pandektenwissenschaft, in: ZRG GA 138, 2021, S. 283 ff.
2.2.1.1.5 Geschichte
In der Textarbeit argumentierten die meisten Pandektenwissenschaftler, wie Savignys Beispiel zeigte, keineswegs sklavisch an den Text gebunden. Man dachte die antiken Texte weiter, diskutierte sozusagen mit ihnen auf Augenhöhe, je nach Autor durchaus frei und selbstbewusst. Dies folgte auch daraus, dass man sich darüber im Klaren war, dass das antike Recht für eine ganz andere Gesellschaft entwickelt worden war. Die antiken Quellen konnten daher nicht wie ein Gesetz verstanden werden. Sie galten nur, wenn und insofern sie mit der Gegenwart in Einklang standen. Zwei weitere Argumentationswege dienten dazu, die Lösungen vom reinen Wortlautverständnis zu lösen. Erstens wurde jeder Text als ein Stück Vergangenheit verstanden, sodass ohne eine Rekonstruktion seiner Geschichte der Interpret blind blieb. Zweitens ging man davon aus, dass alle rechtlichen Sätze miteinander verbunden waren, sodass der Gesamtzusammenhang der Sätze im System Erklärungshilfe war.
Um 1800 veränderte sich das Verhältnis zwischen Text und Interpret, indem nun Texte immer als Produkte eines uns nicht unmittelbar zugänglichen Denkens vergangener Menschen erschienen. Hatte man im 18. Jahrhundert Interpretation nur dann für notwendig gehalten, wenn der Text „dunkel“, also nicht unmittelbar verständlich war, so war nun jeder Text nur zu verstehen, wenn man den Autor und seine Ziele „rekonstruierte“. Jeder Text war „dunkel“, gerade auch dann, wenn man meinte, ihn sofort zu verstehen. Auch hierfür war das Römische Recht besonders kennzeichnend, denn diese Texte waren weit über 1000 Jahre alt. In dreifacher Hinsicht wurde nun Geschichte zum Thema des Juristen.
(1) Zunächst konnte man römische Texte nicht verstehen, ohne das antike Recht, gereinigt von allen späteren Zutaten, zu kennen. Im Umfeld Savignys wandte man sich nun intensiv einer historischen Erforschung der Antike zu. Es ging darum, die antiken Texte neu zu verstehen, indem man das antike und das bis in die Gegenwart existierende römische Recht trennte und dabei viele spätere Interpretationsirrtümer aufdeckte. Nur wenn man die Antike in ihrer Eigenart kannte, konnte man verstehen, was mit diesem Recht passiert war, als es in Deutschland übernommen („rezipiert“) wurde. Der gleiche Rechtssatz konnte in Rom etwas ganz anderes bedeuten, ein ganz anderes Problem gelöst haben als im Ius Commune der Gegenwart.
(2) In einem zweiten Schritt musste nun untersucht werden, wie es zur Rezeption eines antiken Satzes seit dem Mittelalter gekommen war, welche Bedeutung dieser Satz im Laufe der Zeit hatte und welches Problem er lösen sollte. Zugrunde lag die Annahme, dass jeder Rechtssatz nur dann praktisch wirksam wird, wenn er ein zeitgenössisches „Bedürfnis“ befriedigt, also ein juristisches, ökonomisches, moralisches oder soziales Problem löst. Damit lag die Folgerung auf der Hand: Wenn jeder Rechtssatz ein zeitgenössisches Problem befriedigend löste, dann stimmte er mit dem Rechtsbewusstsein überein, war also „richtig“; war dies nicht der Fall, war er „falsch“. Wichtiger noch war der Fall, in dem ein Satz ursprünglich ein „Bedürfnis“ befriedigt hatte, dieses „Bedürfnis“ aber mit der Zeit verschwand. Dann hätte ein solcher Rechtssatz seine Aufgabe verloren, das Rechtsbewusstsein würde mit ihm nicht mehr übereinstimmen, er wäre „abgestorben“, totes Recht. Die Geschichte half also dabei, das aktuell geltende Recht danach zu unterscheiden, was dem deutschen Rechtsbewusstsein noch entsprach und was nur weitergeschleppt wurde und den Bezug zum Rechtsbewusstsein eigentlich verloren hatte.
(3) Auch dies darf man freilich nicht in modernen Betrachtungen, etwa in einer kontextualen Dogmengeschichte, aufgehen lassen. Auch hier musste einfühlend Anteil am tätigen Volksgeist gesucht werden. Der Volksgeist hatte eine eigene Geschichte, seit er im Sündenfall freigesetzt worden war. Hier war Gott still lenkend immer noch tätig, man betonte, dass „jede Zeit von Gott ist“: „In der Geschichte ist die Offenbarung enthalten“. Savigny sprach vom „heiligen Amt“ der Geschichte.45 Die Geschichte eines Rechtssatzes war ein Fingerzeig Gottes.
Literatur: Joachim Rückert, Idealismus. Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, S. 335 ff.; Hans Kiefner, Ideal wird, was Natur war, in: ders. (Hg.), Ideal wird, was Natur war. Abhandlungen zur Privatrechtsgeschichte des späten 18. und 19. Jahrhunderts, Goldbach 1997, S. 137 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Die Historische Rechtsschule, Frankfurt a. M. 2018, S. 173 ff., 184 ff., 218 ff.; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, Bd. 1: 1500–1933, 3. Aufl. 2020 München, S. 216 ff.
2.2.1.1.6 System
Damit blieb ein letztes Hilfsmittel des Juristen: System. System war Ausdruck des Anspruchs, eine Vielfalt von einzelnen Erscheinungen unter eine Idee bündeln zu können. Die einzelnen Rechtssätze erschienen so als Folge von Prinzipien des Rechts, die wiederum eine oberste Idee umsetzen, im Privatrecht etwa die der Privatautonomie zugrunde liegende Macht, seinen Willen durch Recht zu realisieren. Haltepunkte im System waren Begriffe. Ein Begriff beschrieb die Grundeigenschaften, ein Prinzip formulierte die damit verbundenen gemeinsamen Regeln.46 Das, was Juristen heute Dogmatik nennen, hängt also eng mit dieser Systemvorstellung zusammen. Der Anspruch, Recht, oder jedenfalls ein Teilgebiet des Rechts, als ein Gesamtsystem zu begreifen und darzustellen, hat eine lange Vorgeschichte. Vorliegend ist wichtig, dass man sich um 1800 zunehmend von der Vorstellung verabschiedete, man könne ein ideales Recht aus der Vernunft ableiten, wie es von Hugo Grotius (1583–1645) über Thomas Hobbes (1588–1679), Samuel Pufendorf (1632–1694), John Locke (1632–1704) bis zu Christian Wolff (1679–1754) immer wieder versucht worden war. Auch wenn deduktive Naturrechtskonzepte im 19. Jahrhundert weiter existierten, wandte sich die im Privatrecht dominierende Pandektenwissenschaft von einem „Vernunftrecht“ ab. Ziel war es vielmehr, das positive, wirklich existierende Recht als Systemzusammenhang zu verstehen, also zu rationalisieren und damit zu begreifen. Vorbild war dabei Immanuel Kant. Kant hatte radikal zwischen den Gegenständen selbst und unserer Erkenntnis dieser Gegenstände unterschieden. In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ hatte er 1781 untersucht, wie unser Denken die Welt begreift. Dabei hatte er unser kausales Denken, das „Warum“ der die Dinge ordnenden Vernunft, als unentrinnbare menschliche Denkweise herausgestellt. Der Mensch nimmt Geschehnisse, anders als viele Tiere, nicht einfach hin und richtet sein Handeln daran aus, sondern er sucht nach Ursachen. Dass alles eine Ursache hat, ist, nach Kant, kein Prinzip der Welt außer mir, sondern ein Prinzip unseres Denkens, der menschlichen Vernunft. Hieraus folgte ein neuer Begriff: Wissenschaft. Wissenschaft bedeutet nicht mehr im alten Sinne erworbene Kenntnis, etwa fachliches „Wissen“, sondern ein Wissen, das nach den Regeln der menschlichen Vernunft geordnet und damit optimal den menschlichen Denkstrukturen angepasst ist.
Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft.47
Für die Rechtswissenschaft folgte daraus die Anforderung, das positive, also geltende Recht auf Prinzipien zurückzuführen. Man spricht von unvollständiger Induktion; unvollständig, weil andere denkbare und künftige Rechtssätze nie erfasst sind, sodass die Induktionsgrundlage und damit das Ergebnis nie abschließend ist. Kant hatte diese allgemeine Anforderung an alle Wissenschaften gerade mit Blick auf das Recht formuliert:
Es ist ein alter Wunsch, der wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird: daß man doch einmal statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze, ihre Prinzipien aufsuchen möge; denn darin kann allein das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplifizieren.48
Diese Überlegungen prägten bereits um 1800 und dann im gesamten 19. Jahrhundert, das Denken der Juristen. Kennzeichnend war, dass sie sich zwischen 1780 und 1810 ein neues Selbstverständnis gaben: Sie beschrieben ihre Tätigkeit nicht mehr als Rechtsklugheit (Jurisprudentia), unter der man seit der Antike einerseits die Kenntnis des Rechts und andererseits die Fähigkeit verstanden hatte, das Recht „klug“, also auch sachgemäß und gerecht anzuwenden. Nun sprach man von Rechtswissenschaft (Jurisscientia) und machte damit deutlich, dass das Fach danach strebte, Systeme des positiven Rechts zu entwickeln.
Ausgangspunkt aller Bemühungen nach einem wissenschaftlichen System war zunächst die Frage nach der Eigenstruktur des Erkenntnisgegenstandes, also des Rechts. Hier existierten im 19. Jahrhundert zwei unterschiedliche Auffassungen.
Für die eine Auffassung war das Recht „a posteriori, empirisch, nach Zeit und Ort verschieden, zufällig, durch eigene und fremde Erfahrung von Thatsachen zu erlernen, geschichtlich“.49 Recht war, so betonte hier der berühmte Göttinger Professor des Römischen Rechts Gustav Hugo (1764–1844), in seiner Entstehung zufällig, es folgte dabei nicht festen Regeln, galt, weil man daran gewöhnt war, es war zudem zeitlich und örtlich unterschiedlich. Recht war kein System, sondern eine Summe zufällig entstandener Rechtssätze. Sah man es so, dann war die Aufgabe des Wissenschaftlers, diesen Gegenstand als ein System den Regeln der menschlichen Vernunft zu unterwerfen. Rechtswissenschaft war Systembau. Da nun ein solches System immer bestimmte Aspekte herausheben, andere unberücksichtigt lassen musste und zudem nie alle Normen erfassen konnte, war der Systembau eine Entscheidung des Baumeisters. Damit gab es nicht ein System, sondern viele Systeme, die immer dann richtig waren, wenn sie den formalen Regeln des Systembaus folgten, also die einzelnen Rechtssätze oder Rechte auf Prinzipien zurückführten und unter einer Idee bündelten. Gustav Hugo selbst änderte sein Privatrechtssystem daher auch immer wieder.50 Und es war aus seiner Sicht auch nicht problematisch, dass andere Privatrechtssysteme ganz anders aufgebaut waren. Man sprach bereits im 19. Jahrhundert von einem „äußeren System“.
Die Gegenansicht vertrat Savigny. Für ihn war Recht in seiner Entstehung und in seinem Zusammenhang, wie gezeigt, gerade kein Zufall. Recht war eine Summe menschlicher Entscheidungen, die gleichwohl zusammen etwas schufen, was eine von niemandem ausgedachte Gesamtstruktur hatte. Recht war keine ausgedachte „Maschine“, sondern, ähnlich einer Pflanze, ein „Organismus“, der selbständig wächst, gedeiht und zerstört werden kann. Das nannte man ein „inneres System“. Eine eigenartige Vorstellung, die plausibler wird, wenn man Savignys Sprachvergleich betrachtet. Sprache entsteht frei im gesprochenen Wort. Sie wird nicht, etwa durch eine Sprachkommission, planend gemacht. Sie wächst „organisch“, nicht „künstlich“. Gleichwohl hat Sprache einen sinnvollen Zusammenhang, den wir durch die Grammatik der Sprache entschlüsseln. Grammatik ist sozusagen das System der Sprache, wie es durch Beobachtung der Sprache entschlüsselt wird. Und genauso das Recht: Recht wird durch Gesetzgeber beschlossen, durch Gewohnheiten begründet oder durch Gerichte als Gerichtsgebrauch eingeführt. Obwohl diese Tätigkeiten nicht abgesprochen sind, nicht als Vollzug eines Gesamtplans erfolgen, sondern sich Entscheidung an Entscheidung reiht, sind die einzelnen Rechtssätze doch kein Zufall. Jede Entscheidung reagiert auf ein juristisches Problem, also auf andere bereits getroffene Entscheidungen. Jedenfalls sehr häufig erfüllte ein neuer Rechtssatz eine Funktion, die die bisherigen Rechtssätze nicht erfüllt hatten. Fehlt für einen Rechtssatz das von ihm zu lösende Problem, entsteht totes Recht. Tritt ein Rechtssatz in Konflikt mit anderen Rechtssätzen und wird diese Normkollision nicht gelöst, entsteht Recht, welches in der Praxis nicht funktioniert: Entscheidungen widersprechen sich, Richter bekommen keine Entscheidungssicherheit, Rechtsunterworfene keine Rechtssicherheit. Ein „Organismus“ ist also ein System, bei dem alles mit allem zusammenhängt. Man kann es sich vorstellen wie ein riesiges Spinnennetz, bei dem „ein Schritt tausend Fäden regt“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling), jede kleine Veränderung also Bewegungen im Gesamtsystem verursacht. Wenn man die allgemeinen Verzugsregeln verändert, hat dies Folgen für alle denkbaren Forderungen. Die Einführung der Voraussetzung „Pflichtverletzung“ in § 280 Abs. 1 BGB 2002 durch die Schuldrechtsreform im Jahr 2001 hatte gleichermaßen Auswirkungen bis ins Erbrecht – auch dann, wenn der Gesetzgeber dies im Einzelfall nicht vorhergesehen hatte.
Savignys Sicht des Rechts als eines sich selbst sinnvoll organisierenden Organismus ist mit dem Sprachvergleich also durchaus plausibel. Aber ist das Recht wirklich wie die Sprache? Das wäre nur der Fall, wenn Recht irgendwie genauso selbstverständlich entstünde wie eben ein neues Wort. Recht wird aber oft bewusst gemacht. Gesetze werden verabschiedet, die sich in Widerspruch setzen zu Gesetzen, die vielleicht gar nicht bedacht wurden. Zudem entstehen Gesetze durch Kompromisse der Entscheidungsträger, nicht einfach „urwüchsig“ aus einem „Volksgeist“. Savignys Vorstellung war also idealistisch, er glaubte daran, dass alle Träger der Rechtsentwicklung – Gesetzgeber, Juristen, Vertragsschließende etc. – im Wesentlichen am gleichen Rechtsteppich mitwebten. Und dies trug den Organismus.
Wenn das Volk eine geistige Einheit war, dann war es auch das Recht. Ganz so einfach war es aber nicht. Da „es nun zur Natur des menschlichen Geistes gehört, einheitlich zu denken und zu schaffen, auch der Geist eines Volkes wie der des einzelnen Menschen eine lebendige Einheit ist“,51 sei auch das Recht eine „objective Einheit und der Geist der Menschen ist genöthigt in dieser Einheit das Recht zu produciren, und hieraus entsteht ein Rechtssystem“.52 Recht war aber auch nicht bloßer Zufall, sondern wurde im Rahmen der menschlichen Denkgesetze produziert, war also in seinem Zusammenhang aufeinander bezogen, auch rational-vernünftig. Der „Geist, der sich der Vernunft entschlägt, ist Wahnsinn“.53 Recht ging freilich nicht im System auf. Dann wäre die menschliche Vernunft und nicht der göttlich durchwirkte Volksgeist Ursprung des Rechts gewesen. Man wäre in ein Vernunftrecht geschliddert. Bethmann-Hollweg sprach daher von einem „mehr oder weniger“54 einheitlichen Charakter des Rechts:
Wie in der ganzen Geschichte der Völker, so auch in der Entwicklung ihres Rechts wirkt eine unbekannte Größe, ein x mit. Kein Volk ist der Einheit seines Rechts sich vollständig bewusst, es trägt sie mehr oder weniger nur im Gefühle. Eben deshalb produciert es auch sein Recht nicht in absoluter Einheit, sondern durch die Mannigfaltigkeit des Lebens und das practische Bedürfnis gedrängt, bildet es mit Ueberspringung der Mittelglieder Einzelheiten, die nun den Character der Anomalie, der Ausnahme haben.55
Es könnten daher „auch Zufälligkeiten in (den Organismus) eindringen“.56 Puchta sprach davon, dass auch der „Geist eines Volks störenden Anwandlungen ausgesetzt ist“.57 Dies folge bereits aus „der Unvollkommenheit menschlicher Dinge überhaupt, welche die vollständige Erreichung jener Idee des reinen Rechts, also die innere Vollendung des Rechts ausschließt“.58
Puchtas Beispiel machte die Probleme deutlich.
Wenn z. B. der Gesetzgeber das Eigenthum als unmittelbare Herrschaft über eine Sache anerkennt, so anerkennt er damit nothwendig auch die vernünftigen Consequenzen aus dieser seiner Natur, wonach es z. B. in seiner Wirkung eine ganz andere Beschaffenheit hat, als die Obligatio, wiewohl freilich unter Umständen das Bedürfnis zu einer Abweichung von diesen Consequenzen führen kann.59
Die Prämisse des Organismus machte systematisch-dogmatisches Arbeiten daher zur legitimen Erkenntnistechnik auch dann, wenn alle sich einig waren, dass das Recht zugleich mehr war als vernünftig, sodass immer auch der Volksgeist begleitend befragt werde musste. Der Rechtswissenschaftler war einem Gegenstand unterworfen, den er rationalisieren musste, um ihn auch mittels der denkenden Vernunft zu verstehen, der aber gleichwohl nicht einfach rational war, also auch einen intuitiven, glaubenden Zugriff verlangte, um ihn vollständig zu erfassen.
Damit unterschied sich die Aufgabe des Systematikers auf den ersten Blick bei Savigny klar von der ersten, oben dargestellten Systemansicht Hugos. Während dieser Systeme aus einem chaotisch zufälligen Gegenstand konstruierte, also künstlich schuf, lud die Organismusvorstellung dazu ein, die Wirklichkeit des Systems abzubilden, also nicht künstlich zu schaffen. Erneut macht der Sprachvergleich jedoch deutlich, dass eine solche Gegenüberstellung zu kurz greift. Grammatik ist nicht die Eigengesetzlichkeit der Sprache, die ohne diese Regeln entsteht und sich fortbildet, einfach durch Sprechen. Grammatik ist vielmehr ein Versuch, einen Gegenstand zu betrachten und durch konstruierte Regeln zu verstehen, der selbst anders funktioniert. Auch bei einem angenommenen Organismus blieb es also die Aufgabe des Rechtswissenschaftlers, den von ihm beobachteten Gegenstand den Regeln der Vernunft zu unterwerfen, ihn zu „begreifen“. Systeme waren also nach beiden Ansichten Konstruktionen, also künstliche Versuche, einen Gegenstand zu verstehen. In der Umsetzung der Systemkonzepte kam man sich also wieder nah.
Eine Schlüsselfrage war dabei, wie man sich die Zusammenhänge zwischen Rechtssatz, Begriff und Prinzip in diesen nun entwickelten Rechtssystemen vorstellen musste. Immer wieder wird heutzutage angenommen, es sei um „formale Logik“ gegangen, also um die Darstellung des Rechts nach den seit Aristoteles entwickelten Regeln für die logische Form von Aussagen und die Regeln erlaubter Schlüsse.60 Dies entspricht dem Siegeszug der formalen Logik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (Gottlob Frege, Bertrand Russel, Alfred Tarski). Vergessen wird dabei, dass eine formale Logik schon bei Kant als nicht geeignet angesehen wurde, die Wirklichkeit des Rechts zu beschreiben – und das beanspruchten ja Systeme des positiven Rechts. Im Umfeld Savignys dominierte daher auch eine andere, materiale Form der Logik, die versuchte, der „innere[n] Wahrheit“, also dem Sinnzusammenhang im positiven Recht zu folgen, nicht „äußerer Wahrheit“ nach Gesetzen der Ableitungslogik. Der Lieblingsschüler Savignys, Moritz August von Bethmann-Hollweg, verdeutlichte:
Dieser systematische Zusammenhang ist kein mathematischer, noch ein logischer, sondern ein in der Menschheit durch das Leben in geschichtlicher Entwicklung hervorgegangener, ein organischer Zusammenhang.61
Daraus folgte für den Rechtswissenschaftler durchaus die Forderung, ein System von einem obersten Begriff, dem des (Privat-)Rechts zu denken. Die Folgerungen aus diesem Begriff waren aber ganz anders als in der Mathematik, „die Ableitung selbst aber ist keine bloße Analyse, d. h. Nachweis dessen, was schon in dem höhern und höchsten Begriffe enthalten ist, sondern gesetzmäßiger Fortschritt von Einem Begriffe zu einem zweyten, der in jenem seine Wurzel findet ohne selbst schon darin eingewickelt zu sein, also eine Erzeugung, deren Gesetze zu bestimmen uns hier zu weit führen würde. So ist in die Begriffe der Persönlichkeit und des freien Willens der des Eigentums nicht eingeschlossen und doch nur unter Voraussetzung jenes zu denken […]. Überall scheint bey Erzeugung dieser Rechtsbegriffe ein Drittes hinzu genommen zu werden, nämlich das durch die allgemeine Natur des Menschen gegebene irdische Verhältniß, und man könnte hiernach sagen, die Aufgabe des Rechts sey, die mannigfaltigen Beziehungen des freyen Willens durch die natürlichen Verhältnisse des Menschen hindurch zu verfolgen.“62
Bethmann-Hollwegs „Logik“ beanspruchte also, die Wirklichkeit mitzudenken. Sein Beispiel zeigte, was er damit meinte. Wenn Privatrecht die Aufgabe hatte, dem Einzelnen einen rechtlich geschützten Freiheitsraum zu gewähren (= Rechtsbegriff), so musste es ein Recht geben, das diesen Freiheitsraum nur begrenzt durch die Freiheit anderer in größtmöglicher Vollständigkeit gewährte (= Folgebegriff). Das Eigentum, als Befugnis, mit der Sache nach Belieben zu verfahren, war Ausdruck dieses Freiheitskonzepts. Formallogisch betrachtet, folgte aus „Willensfreiheit“ jedoch nicht „Eigentum“, sondern nur dann, wenn man dem Sinn der Willensmacht als Privatrechtsidee folgte und in der Wirklichkeit ein Recht annahm, das die Ausübung dieser Freiheit ermöglichte. Genau in diesem Sinne hieß es bei Puchta, mit dem Satz, „daß der Eigenthümer eine unmittelbare Herrschaft über die Sache hat“, hänge „nothwendig zusammen, daß der Eigenthümer von jedem, der sie ihm vorenthält, die Sache vindiciren (sc. herausverlangen) kann“.63 Hier ging es um Sinn- und Wirkungszusammenhänge, nicht um formale Ableitungslogik.
Literatur: Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979, S. 82 ff.; Monika Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, Ebelsbach 1981, S. 27 ff.; Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, S. 303 ff.; Joachim Rückert, Heidelberg um 1804, oder: die erfolgreiche Modernisierung der Jurisprudenz durch Thibaut, Savigny, Heise, Martin, Zachariae u. a., 1987, Wiederabdruck in ders. (Hg.), Savigny-Studien, Frankfurt a. M. 2011, S. 235 ff.; Klaus Luig, Pufendorf. Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Frankfurt a. M. u. a. 1994; Joachim Rückert, Art. Savigny, in: Michael Stolleis (Hg.), Juristen, München 1995, S. 540 ff.; Diethelm Klippel, Das „natürliche“ Privatrecht im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, Goldbach 1999, S. 230 ff.; Joachim Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), in: ders. u. Ralf Seinecke (Hgg.), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. Baden-Baden 2017, S. 53 ff.; Christian Bumke, Rechtsdogmatik, Tübingen 2017, S. 161 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Art. Pandektenwissenschaft, in: HRG Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 2017, Sp. 323 ff.; ders., Die Historische Rechtsschule, Frankfurt a. M. 2018, S. 197 ff., 228 ff.; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 3. Aufl. München 2020, Bd. 1, S. 216 ff., 220 ff., 230 ff., 251 ff.
2.2.1.1.7 Vertiefung: Puchtas Klassifikation der Servituten
Da diese Fragen im Privatrechtsdenken des 20. Jahrhunderts immer wieder zu folgenreichen Missverständnissen führten („Begriffsjurisprudenz“), sollen sie noch an einem Anwendungsfall vertieft werden. Ein solches im 19. und auch 20. Jahrhundert viel diskutiertes Beispiel für ein wissenschaftliches Privatrechtssystem stammt von Georg Friedrich Puchta. Puchtas System ist typisch für eine sog. Klassifikation, wie sie im 19. Jahrhundert und im Umfeld Savignys auch von andern versucht wurde.