Kitabı oku: «Tambara», sayfa 3
Soul machte die Probe aufs Exempel. Sie tippte den Schlüssel zum Thema „Jazz“ ein. Das Inhaltsverzeichnis erschien. Sie klickte eines der Stichwörter an und las: „Jazz: Wo das Leben noch Lust, Leid und Risiko ist und nicht vom Staat geschützte Gleichförmigkeit und Langeweile (Improvisation = Freiheit, Risiko, Wagnis!).“1
Sie öffnete ein zweites: „Der Jazz ist so ziemlich die einzige heute existierende Kunstform, in der es die Freiheit des Individuums gibt, ohne dass das Gemeinschaftsgefühl verloren geht.“1
Anscheinend war alles noch da.
„Es ist Sonntag“, meinte Reb ironisch, „sie sitzen wahrscheinlich noch am Frühstückstisch.“
„Meinst du wirklich, es sind die Controlsurfer, die unsere Plattformen immer wieder vernichten?“, fragte Soul.
„Wer sollte es sonst sein?“
„Aber warum nur machen sie sich die Mühe, solche für sich genommen doch harmlosen Informationen zu löschen? Was kann denn schon passieren, wenn private Nutzer auf diese Weise miteinander kommunizieren?“
„Aufmerksame Leser würden anfangen, Fragen zu stellen“, erklärte Reb.
„Aber was wäre denn so schlimm daran?“
„Es wären die falschen Fragen.“
„Die falschen Fragen?“
„Fragen, die schon beantwortet worden sind – in früheren Jahrhunderten. Damals ist entschieden worden, dass wir sie nicht mehr brauchen, diese Fragen. Erinnere dich an deinen Apfel.“
Soul begriff.
„Sie waren bestimmt nicht schön genug und ihre Antworten auch nicht.“
„Genau“, fuhr Reb fort, „sie waren zu nichts nutze, weil sie die Produktivität der Wirtschaft nicht steigern konnten. Denk immer daran: Das Beste bleibt!“
5
Soul saß im Zentralraum der Bota’s Group of Fashion Adventure und verfolgte die Präsentation der neuesten Bademode. Sie hatte den Konzern bei der Auswahl des akustischen Rahmenprogramms beraten und begutachtete nun die Reaktionen der Zuschauer.
Zwei Models in neonfarbenen Bikinis liefen über den Laufsteg und setzten ihre Stoffstreifen gekonnt in Szene. Mit je einem Riesenplastikball unter dem Arm spazierten sie auf eine Plattform am Ende des Steges zu, wo zwei himmelblaue Liegestühle auf sie warteten. Sie ließen sich auf den Kunststoffgestellen nieder, setzten ihre Sonnenbrillen auf und ab und spielten einen Plausch unter Freundinnen nach. Aus den Lautsprechern drang das Rauschen von Brandungswellen. Geschickt standen die jungen Damen wieder auf, stellten sich noch einmal in Positur und stolzierten zur Bühne zurück. Windgeräusche ließen sie frösteln, zwei junge Burschen eilten herbei, um ihnen schicke Bademäntel überzuwerfen, die im Rhythmus der Musik hin und her schwangen.
Den Gästen schien die Show zu gefallen. Wenn die Naturgeräusche ertönten, wurde es immer besonders still im Saal. Eine blondierte Schönheit in hautengen Shorts schnupperte an einem künstlichen Rosenstock. Im Saal zwitscherten Vogelstimmen, und synthetischer Wiesenduft aus der Filteranlage umschmeichelte das anspruchsvolle Publikum.
Soul hatte Mühe, die Vorstellung in allen Details zu verfolgen, weil vor ihr zwei hochgewachsene Männer saßen, die dauernd ihre Köpfe zusammensteckten und im Flüsterton diskutierten. Neben ihnen war noch ein Platz frei, und in regelmäßigen Abständen drehte einer der beiden sich um und warf einen Blick in Richtung Eingang, so als würde er noch jemanden erwarten. Als nach einiger Zeit tatsächlich ein dritter Mann erschien, dachte Soul, das Getuschel hätte nun endlich ein Ende, doch statt sich der Vorführung zuzuwenden, fingen nun alle drei an zu flüstern.
Der verspätet eingetroffene Bekannte hatte anscheinend etwas mitgebracht. Durch den Schlitz zwischen den Stuhlreihen konnte Soul sehen, wie er ein kleines Kästchen aus der Hosentasche herauszog, das er stolz seinen Kumpanen präsentierte.
„Ich weiß nicht, ob dies der richtige Ort für dein Experiment ist“, gab sein Nachbar zu bedenken.
„Wieso nicht?“, fragte der Mann mit dem Kästchen. „Wir brauchen ein Publikum – hier ist es.“
„Aber du kannst die Folgen kaum abschätzen.“
„Das macht es ja gerade so spannend.“
Eine der Vorführdamen blickte verärgert vom Laufsteg zu den Störenfrieden hinunter. Unauffällig verschwand der Behälter unter dem Handballen seines Besitzers. Für einen Moment blieben die Männer stumm. Dann begannen sie aufs Neue zu diskutieren.
„Aber warum gerade hier?“
„Warum nicht?“
„Es sind zu viele Menschen dabei.“
„Je mehr, desto besser.“
„Das gibt bestimmt einen Tumult.“
„Na und?“
„Oder es passiert überhaupt nichts.“
Der Mann mit dem Kästchen verlor die Geduld.
„Das werden wir ja sehen“, murrte er und öffnete entschlossen den Behälter.
Soul sah, wie aus dem Kasten ein kleiner, schwarzer Punkt entwich. Ein merkwürdiger Summton begleitete die Aktion, ein Ton, der kräftig anschwoll, sich aber schnell entfernte und schließlich ganz verstummte. Wo hatte sie diesen Ton schon einmal gehört?
Unterdessen ging die Vorführung weiter. Präsentiert wurden lange, üppige Roben für den Gesellschaftsabend: Kleider mit weiten, fülligen Röcken und ausgeschnittenen Oberteilen. Thema war die Farbe Weiß. Ob Schal- oder Karreekragen, Tüllumhang oder Bolero-Jäckchen, Knopf, Reißverschluss, Abendtäschchen oder Technikarmband, die ganze Kollektion war in Schneeweiß gehalten. Umso erstaunter waren die Gäste, als sie auf dem weißen Schalkragen eines der Modelle plötzlich einen schwarzen Punkt entdeckten. Ein schwarzer Punkt auf einem weißen Abendkleid? Das kam ihnen merkwürdig vor. Von den Zuschauerplätzen aus war auch nur schwer zu erkennen, wo sich dieser Punkt eigentlich genau befand. Glaubte man gerade, ihn am Kragen des Kleides ausfindig gemacht zu haben, war er ein paar Sekunden später schon auf die Schulter gerutscht.
Die Musik wurde leiser, Vogelgezwitscher ertönte und die junge Dame schnupperte entzückt an den Plastikrosen. Noch einmal stellte sie sich in Positur, um dann vorschriftsmäßig den Rückweg anzutreten. Die ihr entgegenkommende Kollegin schielte verwundert zu dem seltsamen Fleck auf dem fremden Kleid hinüber, als dieser sich plötzlich bewegte. Abrupt blieb sie stehen. Auch für die Gäste in den vorderen Reihen war es nun offensichtlich, dass dieser merkwürdige Klecks tatsächlich seinen Standort wechselte. Mehrere Beine schienen ihn dabei zu unterstützen.
Verwundert über die Reaktion der Kollegin, blickte das Model mit dem schwarzen Punkt auf seine Schulter hinab. Die anfängliche Neugier verwandelte sich schnell in ungläubiges Erstaunen, das nach einem kurzen Moment offensichtlicher Erkenntnis in einen Ausdruck hilflosen Ekels überwechselte und schließlich in einem lauten Schrei des Entsetzens und einem gewaltigen Sprung nach hinten mündete. Dabei flogen wie zur Abwehr zwei Arme in die Höhe, was den schwarzen Punkt dazu veranlasste, sich in die Lüfte zu erheben, eine Schleife über den Köpfen der beiden Damen zu fliegen und auf der Stirn der verdutzten Kollegin Station zu machen. Die Unglückliche hatte den Flug verfolgt und rollte nun erschreckt mit den Augen, um dieses grauenerregende Phänomen auf ihrer Stirn zu lokalisieren. Dabei schielte sie entsetzlich. Sie hatte den Eindruck, eine Armee winziger Füße würde auf ihrem Fleisch spazieren gehen, und ihr fiel nichts Besseres ein, als einen gellenden Schrei auszustoßen und in Ohnmacht zu fallen. Der schwarze Punkt ließ in dem Moment von ihr ab, als ihr Körper zu Boden fiel, und machte sich aufs Neue an die Schalkragendame heran, die kreischend ihren Rock anhob und in Windeseile über den Laufsteg davonstob.
„Ein Tier“, rief jemand aus dem Publikum, „das ist ein Tier!“
„Ein Tier? Was für ein Tier?“
„Ein Insekt, seht doch, es kann fliegen!“
„Ein Insekt?“
„Was für ein Insekt? Ist es gefährlich?“
„Ich weiß nicht, ich kann es nicht erkennen, es ist zu schnell.“
Ein Insekt, um Himmels Willen, noch nie hatten Tambaras Bürger in ihrer Stadt ein Insekt frei umherfliegen sehen. Sie waren zutiefst verunsichert, einige erhoben sich von den Sitzen. Doch die Musik wurde lauter, und die Vorführung ging weiter. Das Publikum beruhigte sich allmählich. Der ohnmächtig gewordenen Dame wurde auf die Beine geholfen, sie verschwand verschämt hinter der Bühne. Zwei neue Models erschienen auf dem Laufsteg. Die Besucher, die schon aufgestanden waren, nahmen ihre Plätze wieder ein. Die jungen Damen spazierten auf und ab, neuerlicher Beifall erweckte den Anschein von Normalität und der unschöne Vorfall schien fast vergessen.
Gerade begaben sich die Mädchen wieder auf den Rückweg, da ertönte dieses merkwürdige Summen von Neuem. Wie auf Kommando wanderten sämtliche Zuschaueraugen in die Höhe. Das als Insekt identifizierte Etwas sauste im Sturzflug über die Gäste hinweg, die unwillkürlich ihre Köpfe einzogen. Plötzlich fiel es Soul ein. Bei einem Blick durch die Scheiben in die Gärten der Harrison’s Group of Nature Presentation hatte sie dieses Geräusch schon einmal gehört.
„Eine Fliege“, rief sie spontan, „das ist eine Fliege!“
Nun war es mit der Ruhe der Zuschauer vorbei. Sie wollten doch lieber nach Hause gehen, einige sprangen über die Lehnen hinweg und rannten aus dem Saal, andere versteckten sich zwischen den Stuhlreihen oder krochen gleich ganz unter die Sitze. Eines der Models riss eine Rose aus dem künstlichen Pflanzenstock heraus, um damit nach dem Tier zu schlagen.
„Fangt sie“, rief jemand, „eine Fliege kann man fangen!“
„Tausend Tambas, tausend Tambas für denjenigen, der mir die Fliege einfängt!“, schrie ein anderer dazwischen.
Einige mutige Männer stürmten los.
Doch wo war sie? Wo hatte sie sich versteckt?
„Fliege? Fliege, wo bist du?“
„Puttputt, puttputtputtputt!“, lockte jemand.
„Fliege? Hallo, bitte melde dich!“
„Lecker, lecker, lecker!“
„Nun seid doch mal still, schschschsch!“
Es wurde ruhig im Saal.
Alle horchten.
„Sie sitzt bestimmt irgendwo und lacht sich schief.“
„Eine Fliege kann nicht lachen.“
„Schschsch …“
Da …, da war er wieder, dieser Summton!
„Da ist sie!“
Aus allen Ecken des Raumes stürzten die mutigen Männer auf die Fliege zu. Einige sprangen in die Höhe und schnappten mit den bloßen Händen nach ihr. Andere warfen ihre Anzugjacken in die Luft in der Hoffnung, das Tier möge sich darunter verfangen. Eine dieser Jacken landete auf dem Tisch zweier vornehmer Herrschaften. Statt des Insektes beugte sich ein Champagnerglas dem Gewicht des schweren Stoffes, und der Inhalt ergoss sich über das Abendkleid des weiblichen Gastes. Während die überraschte Dame noch fassungslos auf ihren sektdurchtränkten Stoff starrte, ergriff der Begleiter der Lady den Schleier des ramponierten Kleides und schloss sich den Jägern an.
Plötzlich übertönte die Stimme einer älteren Dame alle Schreie.
„Ich hab’ sie, ich hab’ sie mit meinen bloßen Händen gefangen!“
Ihre Arme so weit wie möglich von sich streckend, presste sie beide Hände fest aufeinander. Dabei formte sie mit den Fingern eine Höhle, in der das Insekt nun unruhig hin und her krabbelte.
Das Publikum hielt den Atem an.
„Festhalten, Madame“, beschwor der Mann, der für die Fliege tausend Tambas geboten hatte, die Dame und näherte sich ihr auf Zehenspitzen.
Während er im Zeitlupentempo auf die Frau zu schlich, wandte er keinen Blick von den Händen, die seinen Schatz bargen.
„Ein Behälter muss her“, raunzte er in die Menge. „Los, los, besorgt mir einen Behälter!“
Seine Mitstreiter blickten sich forschend um. Das Model, das mit der künstlichen Rose um sich geschlagen hatte, reichte sein Abendtäschchen vom Laufsteg herunter. Ein Gast nahm es in Empfang und drückte es dem Fliegenfänger in die Hand.
Die Dame mit der Fliege wurde zunehmend unruhiger.
„Es fühlt sich irgendwie komisch an“, beklagte sie sich.
„Halten Sie durch, Madame“, zischte der Jäger. „Ich bin gleich bei Ihnen.“
„Aber es kribbelt so entsetzlich. Sind Sie sicher, dass es nicht gefährlich ist?“
„Ganz sicher, Madame.“
„Bitte beeilen Sie sich!“
„Ja doch, es ist ja gleich geschafft.“
Der Fliegenliebhaber öffnete das Abendtäschchen und wollte es gerade über die Hände der Lady stülpen, als deren Finger verrutschten und das Insekt entschlüpfte.
„Oohhh …“
Die Menge war enttäuscht.
„Tut mir leid, ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten“, entschuldigte sich die Dame.
Der Fliegenfänger unterdrückte einen Fluch.
Verärgert schaute er sich um.
„Sieht sie jemand?“
„Ihr müsst auf das Summen achten!“
„Ruhe, nun seid doch mal still!“
Die Besucher stellten ihre Gespräche ein. Immer leiser wurde es im Saal. Und tatsächlich, laut und deutlich war der erwartete Summton zu hören.
„Dort …, dort fliegt sie!“
Etliche Finger zeigten in die Höhe. Als würde sie die Aufregung genießen, flog die Fliege über den Köpfen der Besucher einige großzügige Runden. Unzählige Augenpaare bewegten sich dazu im Takt. Mehrere Male verringerte sie ihre Flughöhe, und es sah aus, als würde sie sich irgendwo niederlassen, doch die abwehrenden Gesten der erschreckten Gäste verscheuchten sie jedes Mal aufs Neue. Schließlich wählte sie einen Tisch in der Menge aus. Von einer Sekunde zur anderen war der Summton verschwunden.
Der Fliegenjäger hatte ihren Flug verfolgt und wollte sich gerade auf sie stürzen, als jemand mit einer einzigen Handbewegung und einem umgestülpten Wasserglas das Unternehmen beendete.
„Klack“, machte es – das Glas fiel über das Tier, und die Fliege war gefangen.
Soul registrierte ein teures Technikarmband an einem schlanken Handgelenk. Dahinter blitzte eine weiße Hemdmanschette.
Die Hand stellte eine gläserne Streichholzschachtel auf den Tisch, schob den Deckel zurück, führte ein Programmheft vorsichtig unter das Trinkglas, hob das Glas damit hoch, hielt es über die Schachtel, zog das Heftchen ein winziges Stück zurück, sodass das Insekt durch den entstandenen Spalt in den Behälter rutschte, schob den Deckel wieder zu, ergriff das Schächtelchen und steckte es in die Jackentasche. Das Publikum war sprachlos ob solcher Geschicklichkeit und schaute den Helden neugierig an. Dieser stand auf und wandte sich an die Gäste.
„Meine Damen und Herren, es tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. Mein Name ist Sir W.I.T.“
„Ooohh …, nein …, tatsächlich?“
Ausrufe des Erstaunens und Entzückens füllten den Raum.
„Dieses Insekt ist einem Angestellten meines Instituts aus dem Labor entwischt. Ich war hier, um es zurückzuholen. Ich bedanke mich für Ihr Verständnis und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.“
Kaum hatte er seine Ansprache beendet, setzte er sich in Bewegung, ein paar Schritte … und er hatte den Saal verlassen.
„Sir W.I.T., der Sir …, ja, wenn das sooo ist …“
Die meisten Zuschauer hatten sich schon wieder auf ihren Plätzen niedergelassen. Einige eilten hinaus, um sich diese Berühmtheit anzusehen. Soul folgte ihnen neugierig, doch als sie ins Freie trat, blickte sie in ratlose Gesichter. Anscheinend hatten die Gäste ihn verpasst. Unverrichteter Dinge trotteten sie in den Saal zurück.
Soul blieb noch eine Weile draußen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Institutsmauer und betrachtete die Sterne. Von hier unten waren auch sie nicht größer als eine Fliege. Sterne …, Fliegen …, ist es nicht merkwürdig, dachte sie, dass die Fliegen überlebt hatten? Sterne, ja, die waren zum Forschen da, das eröffnete neue Möglichkeiten – aber Insekten? Die zählten doch gewiss nicht zum Besten. Trotzdem hatten sie überlebt, überlebt in einer Welt, in der nur das Beste überleben konnte.
Ein Geräusch ließ Soul aufblicken. Jemand war von der Seite an sie herangetreten.
Nun …“, fragte Sir W.I.T., „welch weisen Gedanken hängt unsere junge Dame denn heute Abend nach?“
„Ach weise, denkt nicht jeder irgendwann einmal nach über die Welt, in der er lebt?“
„Mag sein, aber nicht alle Gedanken sind so frei wie die Ihren.“
„Frei …, was heißt schon frei? Das erinnert mich übrigens an Ihre Gefangene.“
„Sie meinen die Fliege?“
„Es ist nicht Ihr Insekt, stimmt’s?“
Sir W.I.T. antwortete nicht. Stattdessen lehnte er sich neben sie an die Konzernmauer und schaute in den Nachthimmel hinauf.
„Was haben Sie nun mit ihr vor?“, fragte Soul zaghaft.
„Nun ja, was meinen Sie? Schenken wir ihr die Freiheit?“
„Sie wollen sie fliegen lassen? Hier draußen? In einer Welt ohne Natur, ohne … Fliegen? Was nützt ihr da die Freiheit?“
„Sie haben recht. Das war dumm von mir.“
Er schien zu überlegen.
„Haben Sie eine bessere Idee?“
Neugierig schaute er Soul an.
„Würden Sie…, würden Sie sie mir leihen?“
„Leihen?“
Nun war er doch verdutzt.
„Ja, leihen.“
„Die Fliege?“
„Ja, um Himmels Willen, würden Sie mir die Fliege leihen? Ich verspreche Ihnen, Sie bekommen sie wieder. Ich möchte sie meinen Freunden zeigen.“
Schmunzelnd willigte er ein.
„Und wenn Sie sich sattgesehen haben, geben Sie sie mir zurück.“
Sir W.I.T. händigte ihr das Kästchen aus, verabschiedete sich und spazierte davon.
„Moment“, rief Soul hinter ihm her, „wann sehen wir uns wieder? Wo kann ich Sie finden?“
Er drehte sich kurz um.
„Keine Sorge, ich finde Sie. Und vergessen Sie nicht, die Fliege zu füttern.“
Schon war er in der Dunkelheit verschwunden.
Soul stand da mit dem Kästchen in der Hand und starrte in die Nacht.
Füttern?
Womit, zum Teufel, fütterte man eine Fliege?
6
Vier Augenpaare richteten sich neugierig auf eine gläserne Streichholzschachtel, die auf Souls Couchtisch stand und in der Sir W.I.T.s Fliege unruhig hin und her krabbelte. Davor saßen die Geschwister mit ihren Freunden Mortues und Botoja und versuchten, dem Phänomen „Insekt“ auf den Grund zu gehen.
Botoja war Mitarbeiterin der Boulden’s Group of Fantasy and Nostalgia Products und überprüfte Waren aus früheren Jahrhunderten auf ihren aktuellen Marktwert. Eine repräsentative Gruppe von Probanden bewertete Attraktivität und Praktikabilität der veralteten Produkte, die dann in ähnlicher Form, aber mit neuen Materialen und einer dem Zeitgeist angepassten Aufmachung wieder in den Handel gebracht wurden. Der neueste Renner waren Streichholzschachteln aus Glas mit Schiebedeckeln. Die normalerweise darin enthaltenen blauen Streichhölzer waren aus einer brennbaren Kunststoffmasse hergestellt, die ähnliche Eigenschaften besaß wie das ehemals verwendete, aber kaum noch bekannte Holz. Statt des früher üblichen Schwefels wurden die Stäbchen nun mit leuchtend rotem Plastikzündstoff ausgerüstet. Klar im Design, konsequent in der Linie, aber auch irgendwie hübsch anzusehen, war so ein Schächtelchen, besonders in Verbindung mit einem passenden Angebot farblich abgestimmter Kerzen, genau das Richtige, um den Spieltrieb der in einer rein zweckdienlichen Kunststoffwelt aufgewachsenen Tambara-Bewohner zu befriedigen.
Mortues, Botojas Verlobter, war Medizinstudent und angehender Diagnosearzt. Seine Aufgabe würde später darin bestehen, durch umfassende Vorsorgeuntersuchungen Krankheiten schon im Frühstadium zu erkennen und die Patienten zur entsprechenden Therapie an die Spezialabteilungen der Timberlaine’s Group – Medical Systems of Health zu überweisen.
Fasziniert beobachteten die Freunde diese knubbelige Masse mit sechs Beinen, zwei Flügeln und Facettenaugen, die ein ganz eigenständiges Leben zu führen schien, ohne dass ein Mensch durch Knopfdruck, Wärmesensor oder Sprachbefehl auf sie Einfluss hätte nehmen können. Sie flog, krabbelte, produzierte eine Reihe ungewöhnlicher Geräusche und war mit ihrer Gefangenschaft anscheinend ganz und gar nicht einverstanden.
Dann wieder saß sie still, wartete …
Gespannt beugten sich die jungen Leute über den kleinen Kasten.
Die Fliege rührte sich nicht.
„Ob sie tot ist?“, überlegte Botoja.
„Quatsch“, protestierte Mortues, „dann würde sie auf dem Rücken liegen.“
„Woher willst du das wissen? Hast du je in deinem Leben eine tote Fliege gesehen?“
Botoja legte ihren Kopf auf die Tischplatte und betrachtete das Tier aus der Insektenperspektive.
„Hast du sie gefüttert?“, fragte Reb.
„Ja, mit Apfelstückchen und Wassertropfen“, antwortete Soul.
„Und? Hat sie gefressen?“
„Ich glaube schon. Jedenfalls sah es so aus.“
Noch ein wenig näher rückten die vier an das Kästchen heran. Plötzlich löste sich das Tier aus der Erstarrung. Summend und brummend flog es in seinem Käfig hin und her. Dabei stieß es fortwährend an die Wände des Behälters, was bei jedem Aufprall ein so lautes, unangenehm klopfendes Geräusch erzeugte, dass die Freunde erschreckt zurückwichen.
„Meine Güte, welch eine Kraft“, stieß Soul hervor und legte wie zum Schutz die Hand auf ihre Brust.
Auch den anderen pochte das Herz bis zum Hals. In respektvollem Abstand setzten sie ihre Beobachtung fort. Das Tier beruhigte sich allmählich und krabbelte wieder kreuz und quer durch die Schachtel. Mit seinem Rüssel inspizierte es den Boden des Kästchens.
„Was glaubt ihr“, fragte Soul plötzlich, „ist diese Fliege wohl schön?“
Als die anderen sie verdutzt anschauten, fuhr sie fort: „Überlegt nicht lange, sagt mir einfach, ob sie schön ist.“
„Mm, immerhin hat sie überlebt“, gab Mortues zu bedenken.
„Genau das meine ich. Sie muss doch zum Besten gehören, sonst würde sie längst nicht mehr existieren.“
„Aber eine Fliege kauft doch niemand“, wandte Botoja ein.
„Vielleicht wird sie eingesetzt, um mit ihrer Hilfe etwas Schönes zu produzieren“, sinnierte Mortues.
„Ja, genau, wahrscheinlich braucht Sir W.I.T. sie für seine Apfelzucht“, meinte Botoja.
Soul war nicht überzeugt.
„Na ja, wenn er sie benötigt, um seinen schönen Tambara-Apfel herzustellen, dann hat sie natürlich eine Existenzberechtigung.“
Es klingelte.
„Erwartest du Besuch?“, fragte Reb überrascht.
„Nicht dass ich wüsste“, wunderte sich seine Schwester.
Soul warf einen Blick auf den Bildkopf ihres Technikarmbandes. Draußen stand das Sicherheitspaar des Medienkonzerns.
„Nanu, was wollen die denn hier?“
„Zeig her!“
Reb zog Souls Handgelenk zu sich herüber und musterte die beiden Köpfe auf dem Armbandmonitor.
„Um Himmels Willen“, rief er und sprang auf, „wir müssen die Fliege verschwinden lassen!“
Einen Moment lang stand er unschlüssig im Raum und blickte sich nach allen Seiten um. Dann ergriff er die Schachtel, spurtete zum Schreibtisch und warf sie kurzerhand in die Schublade. Mortues drückte auf den Technikstreifen in der Sofalehne und verwandelte die gegenüberliegende Wand in einen überdimensionalen Fernseher. Auf dem Bildschirm jagten Angestellte des Sicherheitsdienstes gerade einen Schwerverbrecher. Botoja schmiegte sich in ihren Sessel und gab vor, das Geschehen auf der Filmwand zu verfolgen. Soul öffnete die Tür und führte das Paar herein.
„Tambara-Hallo“, grüßte es, als es eintrat.
„Tambara-Hallo“, erwiderten die jungen Leute wie aus einem Munde.
Reb, der sich gerade noch auf die Couch hatte werfen können, betätigte demonstrativ die Fernbedienung, so als würde er das Programm eigens für den Besuch unterbrechen. Umständlich krabbelte er aus der Sofaecke.
„Was verschafft uns die Ehre eures Besuches?“, fragte er möglichst harmlos und begrüßte die beiden per Handschlag.
Angestellte des Sicherheitsdienstes gehörten zum Stammpersonal jedes Konzerns und duzten sich häufig mit den Kollegen. Die Unterschiede im Arbeitsverhältnis fielen so weniger auf, denn Sicherheitsbeauftragte waren Staatsdiener und wurden von den jeweiligen Konzernen angemietet. Der Vorstand schilderte den Bedarf, die Regierung schickte die entsprechend qualifizierten Fachkräfte. Sie konnte man nie ganz sicher sein, ob die Überprüfung tatsächlich nur dem Schutz des Unternehmens diente oder auf diese Weise nicht vielleicht auch firmeninterne Daten die staatlichen Ämter erreichten.
„Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen“, entschuldigte der Mann die Störung, „aber das Ereignis auf der gestrigen Modenschau hat das Volk von Tambara in Unruhe versetzt. Besorgten Anrufen zufolge wurden in hiesigem Stadtviertel weitere Insekten gesichtet, und wir sind beauftragt worden, der Sache auf den Grund zu gehen. Hat einer von euch etwas Verdächtiges bemerkt?“
„Nein, mir ist nichts aufgefallen …, dir vielleicht?“, antwortete Reb als Erster und wandte sich an seine Schwester.
„Nein, absolut nichts“, entgegnete Soul.
Der Sicherheitsbeauftragte blickte prüfend zu Mortues und Botoja hinüber.
„Vielleicht irgendwelche dunklen Punkte, die sehr schnell ihren Standort wechseln?“
„Nicht dass ich wüsste“, antwortete Mortues.
„Nein, so etwas wäre mir aufgefallen“, bekräftigte Botoja.
„Wirklich gar nichts?“, mischte sich die Frau ein.
„Nein, wirklich nichts.“
„Tut uns leid.“
„Nein, bestimmt nicht.“
In diesem Augenblick ertönte irgendwo im Raum ein lang anhaltender, aufdringlicher Summton. Fast gleichzeitig drehten die beiden Angestellten ihre Köpfe in Richtung Schreibtisch.
„Was war denn das?“, fragte der Mann barsch.
„Was?“, entgegnete Reb.
„Na, dieses merkwürdige Geräusch?“
Mortues, der gerade nervös an seinem Partnerschaftsring drehte, zog geistesgegenwärtig das Kunststoffmetall von seinem Finger und stellte es hinter dem Rücken des Paares mit seiner Schmalseite auf den Boden, gerade noch rechtzeitig, bevor die beiden sich ihnen aufs Neue zuwandten.
„Es war ein ganz seltsames Geräusch, leise und doch irgendwie kraftvoll“, schilderte der Mann.
Während sich die Angestellten noch einmal umdrehten, um in den Raum hineinzuhorchen, stupste Mortues den Ring mit der Schuhspitze an, und ganz langsam begann das schwere Metall zu rollen. Noch ein wenig half er nach, dann bewegte es sich von alleine weiter, wurde immer schneller und verursachte fast so ein Geräusch, wie sie es vorher aus der Schublade gehört hatten. Es rollte dem Sicherheitsbeauftragten direkt vor die Füße.
„Nanu“, sagte dieser und bückte sich instinktiv „hat jemand von Ihnen einen Ring verloren?“
„Darf ich mal sehen?“, meldete sich Mortues. „Tatsächlich, das ist meiner.“
Ehe der Mann sich versah, hatte er ihm das Schmuckstück schon aus der Hand gezogen und an seinen Finger zurückgesteckt.
„Es hat also niemand etwas Verdächtiges bemerkt?“, wandte sich der Angestellte noch einmal an die ganze Gruppe.
„Nein.“
„Ich wüsste nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Nein, nichts Verdächtiges.“
„Gut, dann wollen wir nicht länger stören.“
Umringt von den jungen Leuten, begab sich der Staatsdiener in Richtung Ausgang. Man redete noch ein wenig über die Fantasie der Tambara-Bewohner – eine einzige Fliege und schon wurden die Bürger hysterisch, manche Leute waren wirklich zu empfindlich –, dann fiel die Tür hinter dem Paar ins Schloss und die Freunde atmeten erleichtert auf.
„Meine Güte, das hätte schiefgehen können“, platzte Mortues heraus, nachdem die Schritte auf dem Flur verhallt waren. Mit gesenkten Köpfen trotteten die vier in den Wohnraum zurück.
„Die Idee mit dem Ring war gut“, lobte Reb. „Aber nun lasst uns überlegen, wo wir das Tier am besten unterbringen.“
Nur, wo versteckte man eine Fliege? Ein Insekt konnte man nicht einfach abstellen wie eine Maschine. Es würde sich das Fliegen nicht verbieten lassen, und der Summton wäre auch aus der entferntesten Schublade zu hören. Nachdenklich blickten sie sich in dem großen Raum um. Eine Weile standen sie so, dann fiel es ihnen auf. Ungewöhnlich still war es geworden. Zu still.
„Man hört ja gar nichts“, stellte Botoja fest.
Reb sprang zum Schreibtisch, öffnete die Schublade, holte das Kästchen heraus und stellte es auf die Tischplatte. Es war leer.