Kitabı oku: «Tambara», sayfa 4
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„Du hättest den Kasten eben nicht mit solcher Wucht in die Schublade werfen sollen. Dabei muss sich der Deckel verschoben haben, und die Fliege ist entkommen.“
Soul war wütend. Was sollte sie jetzt Sir W.I.T. sagen, wenn er kam, um sein Tier abzuholen? Die Geschwister saßen im Restaurant des Medienkonzerns und diskutierten über das Ereignis des Vortages.
Die Konzerne der Stadt Tambara förderten durch ein breit gefächertes Freizeitangebot die enge Bindung ihrer Mitarbeiter an den Arbeitsplatz. Restaurants, Fitness-, Schlaf- und Entspannungsräume, Freibäder auf den Dachterrassen, kleine Kinos und Kommunikationsbereiche mit Gesellschaftsspielen gehörten zum Standard jeder Firma und konnten vom Stammpersonal kostengünstig genutzt werden. Die wohl durchdachte Mischung aus Sport-, Unterhaltungs- und Wellness-programmen in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes erlaubte eine optimale Nutzung der freien Zeit und hatte die Produktion der Unternehmen um ein Vielfaches gesteigert. Entnervende Fahrten zur häuslichen Wohnung während der Hauptverkehrszeit entfielen, die eingesparte Zeit kam der Erholung zugute und die Möglichkeit, zwischen Einzelkabinen für den Mittagsschlaf, großzügig gestalteten Ruheräumen, deren Liegen mit Kopfreifen für kurzweilige Musik- oder Fernsehsendungen ausgestattet waren, individuellen Trainingsprogrammen zur körperlichen Ertüchtigung und gemeinsamen Spielen in Gesellschaft Gleichgesinnter wählen zu können, entspannte das Verhältnis zu den Kollegen und stärkte darüber hinaus das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Belegschaft. Nur wenig Erziehungsarbeit war nötig gewesen, um einige phlegmatische Naturen davon zu überzeugen, ihre Pausen nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen. Die Gewissheit, das Angebot jederzeit in Anspruch nehmen zu dürfen, stimmte versöhnlich und steigerte ganz allgemein die Freude an der Arbeit.
Gleichzeitig nutzten die Konzerne ihre Räumlichkeiten für hauseigene Werbung. Auch wenn Entspannungszonen, so forderte es das Gesetz, von den schrillen Schriftzügen verschont bleiben mussten, durfte man doch die konzerntypischen Farben in diesen Bereichen einsetzen. Im Ruheraum des Medienkonzerns zum Beispiel unterstrichen mittlere Blautöne in Kombination mit einem spärlich eingesetzten Weiß den Anspruch sachlich kompetenter Medienarbeit.
Soul studierte die Speisekarte in der Tischplatte. Unschlüssig drückte sie auf einen der Fruchtcocktails und betrachtete das Bild, das sich aus den Schriftzeichen formte. Neben dem Glas erschien ein Ausrufezeichen mit der Angabe des Zuckergehaltes. Vor Kurzem hatte sie ihrem Fingerabdruck einen Grenzwert für „nur kontrolliert zu konsumierende Nahrungsmittelbestandteile“ zugeordnet und wurde nun jedes Mal, wenn sie ein Gericht mit einem höheren Prozentsatz auswählte, daran erinnert. Unmutig tippte sie auf den Apfelsaft, doch wieder erschien das Warnsignal.
„Wasser tut’s auch“, murmelte sie mehr aus Bequemlichkeit denn aus Überzeugung und orderte noch eine Reisplatte dazu. Indem sie auf das Anforderungssymbol drückte, wurde ihre Bestellung an die Küche weitergeleitet, und der Text auf ihrer Hälfte des Möbels verwandelte sich in ein blau-weiß kariertes Tischdeckenmuster.
Während Reb noch die Karte unter dem Kunststoffglas durchforstete, schaute Soul sich in dem großen Saal um. Das Restaurant war gut besucht wie immer um diese Tageszeit. Die Angestellten genossen das gemeinsame Mittagsmahl, erzählten von den Einkäufen, die sie getätigt hatten, von aktuellen Kinofilmen und Erfolg versprechenden Fitnesskursen, verfolgten auf Technikarmbändern, Schmink- und Brieftaschenmonitoren Nachrichtensendungen aus der ganzen Welt oder mieteten über die Tischplatte eine Liege im Entspannungsraum.
An der gegenüberliegenden Seite des Saales entdeckte Soul plötzlich drei bekannte Gesichter. Die Männer, die auf der Modenschau durch ihr Fliegenexperiment das Publikum in Aufruhr versetzt hatten, standen am Eingang und hielten nach freien Plätzen Ausschau. Sie wirkten auch jetzt wie eine eingeschworene Gemeinschaft, durchquerten den Saal als geschlossene Gruppe und wählten einen Tisch ganz in der Nähe der Geschwister aus. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Stühle zurechtgerückt und sich niedergelassen hatten. Mit Bedacht ordneten sie ihre Kleidung, zupften Kragen und Manschetten zurecht und zogen die Hemdsärmel glatt. Schweigend wandten sie sich anschließend der Speisekarte zu. Als der Freund des Fliegenentführers – Soul war mittlerweile klar, dass dieser das Insekt niemals rechtmäßig erworben haben konnte, wahrscheinlich hatte er es aus einem der Naturreservate entwendet – auf die Symbole in der Tischplatte drückte, schoben sich unter dem überlangen Ärmel seines Anzuges ungewöhnlich glatte und helle Finger hervor. Hatte er zu viel Handcreme benutzt? Soul kannte den Effekt aus eigener Erfahrung. Die modernen Schutzcremes schmiegten sich so elegant und geschmeidig um die natürliche Haut, dass manche Zeitgenossen des Guten zu viel taten und durch einen besonders dicken Auftrag dieses rein synthetischen Produktes eine Art Handschuh formten. Da die Schicht luftdurchlässig war, schadete sie der Haut nicht, wirkte aber auf empfindsame Gemüter immer ein wenig unnatürlich. Ein Lichtstrahl verfing sich am Daumen des Mannes und brachte den Nagel zum Glänzen.
Das Menü wurde serviert, und während Soul den Reis verspeiste, wanderte ihr Blick immer wieder zu der Männergruppe am Nachbartisch hinüber. Die drei aßen stumm und bemühten sich in besonderer Weise, jede ihrer Bewegungen zu kontrollieren. Plötzlich rutschte dem Freund des Fliegenentführers das Messer aus der Hand. Laut scheppernd fiel es zu Boden. Die Besucher des Restaurants blickten verärgert zu dem Störenfried hinüber. Der Mann murmelte eine Entschuldigung und wartete, bis sich die Gäste wieder ihrer Mahlzeit zuwandten. Als er sich endlich nach dem Besteckteil bückte, glaubte Soul ihren Augen nicht zu trauen. Unter dem nach oben gerutschten Ärmel kam eine Prothese zum Vorschein, eine jener halb beweglichen Kunststoffgliedmaßen, wie man sie in früheren Jahrhunderten zu tragen pflegte, als noch keine nachwachsenden Extremitäten aus dem Labor zur Verfügung standen.
„Guck dir das an!“, stieß Soul hervor und stupste ihren Bruder an.
Reb blickte auf und erblasste.
„Lass dir nichts anmerken“, murmelte er aufgeschreckt. „Iss einfach weiter.“
Unfreiwillig in das Geheimnis ihrer Tischnachbarn eingeweiht, hatten die Geschwister nun selbst einige Mühe, sich auf die Mahlzeit zu konzentrieren. Nur wenige Minuten vergingen, da erschienen die Sicherheitskräfte des Medienkonzerns, und an ihren forschenden Blicken, mit denen sie die Umgebung taxierten, konnten Reb und Soul erkennen, dass sie nicht zum Vergnügen gekommen waren. Die Männer von der Modenschau bemühten sich krampfhaft, den Anschein von Normalität zu wahren, doch es war offensichtlich, dass sie unter einem großen Druck standen. Das Paar hatte sie auch bereits ins Auge gefasst, und während die Frau noch mit ihrem Kollegen sprach, beobachtete sie jede Bewegung der drei auf das Genaueste. Der Mann mit der Prothese wurde zusehends unsicherer. Verzweifelt versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen, was schließlich dazu führte, dass er die Kontrolle über seine Gliedmaßen vollends verlor. Beim Zerschneiden eines Stückes Fleisch rutschte sein Messer auf dem glatten Tellerboden aus und flog in hohem Bogen in die Umgebung hinaus. Entsetzt blickte er zu den Sicherheitskräften hinüber, und als diese sich in Bewegung setzten und auf ihn zusteuerten, verlor er die Beherrschung, sprang auf und rannte quer durch den Saal davon. Das Paar reagierte schnell und erwischte ihn, noch bevor er den Ausgang erreicht hatte. In aller Öffentlichkeit wurde er verhaftet.
Die Freunde des Festgenommenen wirkten sichtlich geschockt und setzten, nachdem sie eine Zeit lang auf die leere Eingangstür gestarrt hatten, betroffen ihr Mahl fort.
Soul hätte zu gern gewusst, was sich hinter dieser merkwürdigen Verhaftung verbarg. Immer wieder wanderte ihr Blick zu den beiden Männern hinüber, die sich augenscheinlich sehr bemühten, nicht noch mehr aufzufallen.
„Und wenn ich sie einfach frage …?“
„Untersteh’ dich!“, mahnte Reb. „Willst du dir auch noch Ärger einhandeln?“
Ungeduldig rutschte Soul auf ihrem Stuhl hin und her. Noch nie zuvor war sie so nah an eine dieser seltsamen Ungereimtheiten herangekommen, die den Alltag der Stadt Tambara wie selbstverständlich begleiteten. Ein paar Minuten hielt sie es aus, dann huschte sie hinüber und setzte sich einfach auf den frei gewordenen Stuhl.
„Und?“, fragte Reb ungeduldig, als sie zurückkam. „Was hat er ausgefressen?“
Soul war sichtlich erregt.
„Sie meinten, das Einzige, was ihn von seinen Mitbürgern unterschiede, wäre seine körperliche Unvollkommenheit.“
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„Ist dir nicht gut?“
„Ich weiß nicht.“
Botoja hatte Soul überreden können, sie auf der Fahrt zur Museumsinsel zu begleiten. Der Fantasykonzern war auf der Suche nach einer neuen Vermarktungsidee, und Botoja sollte auskundschaften, ob das Eiland genügend Material für eine Spielzeugserie hergab. Pflanzen, Tiere und gemütliche Einfamilienhäuser aus Kunststoff erfreuten sich eines regen Interesses und hatten auf Kinder eine ähnlich faszinierende Wirkung wie die Gruselfiguren früherer Science-Fiction-Filme. Die seit Jahrhunderten im Urzustand erhalten gebliebenen Museumsinseln gehörten zu den letzten Naturreservaten der Erde und durften nur mit einer Sondergenehmigung betreten werden. Als Begleitperson, die einem in solchen Fällen zugestanden wurde, hatte Botoja ihre Freundin mitnehmen dürfen, doch Soul, die in den letzten Wochen jede freie Minute mit der Suche nach ihren Eltern im Net verbracht hatte, konnte sich über diese einmalige Gelegenheit nicht so recht freuen.
„Denk doch, du wirst richtige Natur zu sehen bekommen“, versuchte Botoja sie aufzumuntern. „Auf der Insel gibt es noch echte Bäume – Bäume, die wachsen und beständig ihre Form verändern, nicht solche leblosen Kunststoffprodukte wie sie in unseren Straßen stehen.“
Soul zeigte sich wenig beeindruckt.
„Richtige Blumen soll es dort auch noch geben!“
„Ja, Gott, Blumen …“
„Und Sand …, Sand, den du in deine Hand nehmen und durch deine Finger rieseln lassen kannst …, und Möwen, verstehst du, echte, lebendige Möwen!“
„Möwen?“
Soul schaute Botoja ungläubig an.
„Ja, Möwen – das sind Vögel, weißt du.“
„Ich weiß, was Möwen sind“, gab Soul unwirsch zur Antwort, „aber du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass dort noch Tiere unter freiem Himmel leben.“
„Nun ja“, gab Botoja zu, „eigentlich sind es zahme Vögel, die normalerweise in großen Käfigen gehalten werden und sich, wenn Gäste kommen, für einige Stunden auf der Insel frei bewegen dürfen. Aber es soll sehr echt aussehen.“
Soul fragte sich, woher Botoja ihre Weisheiten hatte, doch war sie heute einfach zu müde, um sich auf Diskussionen einzulassen.
Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten, dann legte das altmodische Tragflügelboot, auf das sie nach ihrer Ankunft mit dem Hubschrauber hatten umsteigen müssen, am Inselstrand an. Ein Steg wurde ausgefahren und führte vom Bootsdeck direkt auf den Sand. Jeder der acht Teilnehmer hatte eine Schutzausrüstung in die Hand gedrückt bekommen, die aus einem blauen Kunststoffanzug, zwei Gummistiefeln, Handschuhen und einem Paket Einmal-Unterwäsche bestand. So verpackt standen die Gäste nun an der Reling und betrachteten ein wenig skeptisch den fremdartigen Grund, auf dem sie sich in den nächsten Stunden bewegen sollten.
Der Exkursionsleiter machte ihnen Mut.
„Keine Angst, meine Damen und Herren, auch wenn der Sand unter ihren Füßen sich noch ein wenig fremd anfühlen wird …, es kann Ihnen nichts passieren.“
Als wollte er seine Worte bekräftigen, ging er als Erster von Bord, lief ein paar Schritte voraus, drehte sich zu den Gästen um und breitete seine Arme aus.
„Es ist herrlich, Sie werden begeistert sein!“
Vorsichtig tasteten sich die Besucher über den Landungssteg. Mit einem leichten Druck auf den Inselboden prüften sie zunächst, ob der natürliche Grund dem Gewicht des eigenen Körpers auch tatsächlich standhielt. Soul und Botoja wollten sich besonders abgeklärt geben, doch als sie das Ende der Planke erreichten, verspürten auch sie ein leichtes Unbehagen in der Magengegend. Ganz langsam setzte Soul ihren rechten Stiefel auf, zog im Zeitlupentempo den linken nach und lief, während sie das unbekannte Material zu ihren Füßen beobachtete, die ersten Schritte in der Nähe des sicheren Kunststoffsteges. Der Boden gab ein wenig nach, trug sie aber problemlos, mehr noch, sie empfand das Gehen auf diesen gelblichen, irisierenden Körnchen als äußerst angenehm. Der Sand war sanft und fest zugleich, auf eine merkwürdige Art und Weise fühlte sie sich umschmeichelt.
Bald löste sich auch bei den anderen die Spannung. Sie freuten sich über die bestandene Mutprobe und lachten sich gegenseitig an, so als hätten sie einen gemeinsamen Erfolg errungen. Der Abdruck ihrer Schuhsohlen hatte es ihnen besonders angetan. Immer wieder drehten sie sich um und betrachteten die von ihnen produzierten Fußstapfen. Einige drückten ihre Stiefel nebeneinander in den Sand und verglichen Größe und Art der auf diese Weise entstandenen Muster.
Plötzlich übertönte eine aufgeregte Stimme alle anderen.
„Sie sind weg, sie haben sich einfach aufgelöst!“
Neugierig umringten die Mitreisenden den Rufenden, und bereitwillig wiederholte dieser sein Experiment. Kraftvoll drückte er eine Sohle in den Boden, die Wellen krochen über den Strand, überspülten sein Werk und als sie sich zurückzogen, war der Abdruck verschwunden. Nun wollten es auch die anderen wissen. Der Reihe nach setzten sie ihre Muster in den Sand und beobachteten, was passierte. Und tatsächlich, das Wasser kam, schob sich über die Fußstapfen und löste sie einfach auf. Fasziniert verfolgten die Besucher das Spiel der Erneuerung durch die Natur. Weder Farbe noch technische Hilfsmittel waren nötig, kein Sprachbefehl bestimmte Anfang und Ende der Aktion, kein Knopfdruck oder Wärmesensor, die Welle arbeitete sich vorwärts, floss zurück, formte sich neu, ihrem ureigenen Rhythmus entsprechend, ganz ohne den Eingriff des Menschen.
Ein kleiner Steppke, der kaum laufen gelernt hatte, tapste zwischen den Beinen der Erwachsenen umher. Gerade wollte er sich nach einer Muschel bücken.
„Ih, bah!“, rügte seine Mutter.
„Ist das schädlich?“, fragte Botoja.
„Ich weiß nicht.“
„Die Muscheln sind vollkommen ungefährlich“, mischte sich der Exkursionsleiter ein. „Solange Ihr Kind sie nicht in den Mund nimmt und hinunterschluckt, kann nichts passieren. In früheren Jahrhunderten haben Urlauber die Schalen sogar gesammelt.“
„Tatsächlich?“
Die Mutter war überrascht.
„Waren sie denn etwas wert?“
„Wert? Nein. Die Menschen hatten Spaß an ihren Farben und Formen.“
Das Gesicht der Frau ließ erkennen, dass sie die Freude an solch einer unproduktiven Tätigkeit nicht ganz nachvollziehen konnte.
„Manche Urlauber nahmen Muscheln sogar als Erinnerung mit nach Hause“, erklärte der Exkursionsleiter. „Das dürfen Sie natürlich nicht. Die gesamte Insel steht unter Naturschutz, und es ist jedermann strengstens untersagt, irgendetwas mitzunehmen.“
Ein merkwürdiger Schrei ließ die Gäste zusammenfahren. Eine Möwe landete auf dem Strand und gesellte sich zu der Urlaubergruppe. Die Exkursionsteilnehmer kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein Tier aus Fleisch und Blut, so etwas hatten sie, wenn überhaupt, nur in den Abteilungen der Harrison’s Group of Nature Presentation gesehen, wo einige ausgewählte Arten durch hermetisch versiegelte Kunstglasscheiben betrachtet werden konnten. Ein in sich abgeschlossenes Reinigungssystem sorgte dort für den absoluten Schutz der Besucher.
Unbewusst hatten die Gäste einen Kreis um das Tier gebildet. Die Möwe stand in der Mitte und blickte sich unschlüssig um. An Soul schien sie besonderen Gefallen zu finden. Sie unterzog die junge Dame einer eingehenden Betrachtung und spazierte dann geradewegs auf sie zu. Soul, die nicht mit so viel Entschlusskraft gerechnet hatte, erschrak und trat einen Schritt zurück. Irritiert blieb die Möwe stehen, legte ihren Kopf schief, es sah aus, als würde sie überlegen, dann wandte sich ab und trottete auf einen anderen Gast zu. Doch auch dieser wich verlegen zurück. Da kam der kleine Steppke hinter den Beinen seiner Mutter hervor und tappte beherzt auf das Tier zu. Er hatte sich seiner Schutzhandschuhe entledigt und wollte es anscheinend streicheln. Die Möwe begutachtete die ausgestreckten Händchen, sah, dass ihr kein Futter offeriert wurde, breitete ihre Flügel aus und flog mit einem lauten Schrei davon.
„Ooohhhh!“
Fasziniert verfolgten die Besucher ihren Flug. Die Mutter des Steppkes hatte ganz vergessen, ihren Jungen zu beschützen. Schnell eilte sie herbei und nahm ihn auf den Arm.
Nachdem die Gruppe eine Zeit lang am Strand entlanggewandert war, schlug der Exkursionsleiter den Weg zum Dorf ein. Auf der Insel lebten hauptsächlich Naturwissenschaftler und Facharbeiter für Bio-Umwelt, die mit der Instandhaltung des Eilandes beauftragt worden waren. In den Schaufenstern der Geschäfte lagen Produkte früherer Jahrhunderte aus: Kleider, Taschen, Schuhe, Haushaltswaren, Wohnaccessoires. Apotheken boten Medikamente an, und vor den Cafés prangten Reklametafeln, auf denen die Tageskarte eingesehen werden konnte. Alles wirkte sehr echt und doch irgendwie gespenstisch, da die meisten Räume dahinter nicht bewohnt waren.
Auf einem Platz in der Mitte des Dorfes machten sie halt. Vor dem ehemaligen Kurhaus erstreckte sich ein echter Naturrasen. Ehrfürchtig betrachteten die Gäste die exakt auf der gleichen Höhe abgeschnittenen Grashalme.
„Der sieht ja aus wie unser Kunstrasen“, meinte eine Besucherin enttäuscht. „Wachsen die Gräser denn nicht unterschiedlich schnell?“
„Aber sicher“, erklärte der Exkursionsleiter, „dieser Rasen ist nur gerade gemäht worden. Das erkennen Sie, wie Sie so treffend bemerkt haben, an der gleichen Höhe der Gräser, aber auch an dem ungewöhnlichen Duft.“
Während die Gäste noch ein wenig misstrauisch den fremdartigen Geruch erschnupperten, löste sich der kleine Junge von der Hand seiner Mutter und betrat neugierig den Rasen. Mit seinen zarten Händchen patschte er auf die geschnittenen Gräser. Als er seine Finger in den darunterliegenden Mutterboden bohrte, ging ein Aufschrei des Entsetzens durch die Gruppe. Hilfe suchend blickten die Erwachsenen zum Exkursionsleiter hinüber und waren sprachlos, als dieser verständnisvoll lächelte und den Jungen gewähren ließ. Der Kleine rupfte ein paar Grasbüschel aus und unterzog sie einer eingehenden Betrachtung. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er sich wieder der Gruppe anschloss. Seine Mutter schielte besorgt zu den dunklen Rändern unter seinen Fingernägeln hinab, hielt ihn aber nicht mehr davon ab, die fremde Umgebung zu erkunden.
Für einen Moment schloss Soul die Augen und sog die frische Luft in sich hinein. Der Geruch des Grases übte eine fast betörende Wirkung auf sie aus. Feucht und warm war er, dabei kraftvoll und außerordentlich belebend. Als sie die Lider wieder aufschlug, fiel ihr Blick auf das Fenster eines gegenüberliegenden Hauses. Hinter der verstaubten Scheibe glaubte sie plötzlich ein bekanntes Gesicht zu erkennen. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen das Licht, doch während sie noch versuchte, die vertrauten Züge einem Bild ihrer Erinnerung zuzuordnen, fiel die Gardine vor die Scheibe und der Mann war verschwunden.
„Was ist?“, fragte Botoja besorgt.
„Dort drüben …“
„Hast du einen Bekannten gesehen?“
„Ich weiß nicht.“
Soul starrte auf das Fenster und setzte sich unbewusst in Bewegung. Sie wandte keinen Blick von der Gardine, hinter der sie den Fremden vermutete, und lief wie von einer Schnur gezogen auf dieses Haus zu.
„He, wo willst du hin?“, rief Botoja hinter ihr her.
„Hallooo, junge Dame, das geht aber nicht!“
Der Exkursionsleiter fing sie ab, fasste sie bei der Schulter und drehte sie behutsam um.
„Niemand verlässt die vorgeschriebenen Wege. Das müssen Sie verstehen. Dazu sind unsere letzten Naturressourcen einfach zu wertvoll.“
Soul entschuldigte sich und reihte sich mechanisch wieder in die Gruppe ein.
„Mein Gott, was ist bloß los mit dir?“, wunderte sich Botoja. „Allmählich mache ich mir wirklich Sorgen.“
„Der Mann, den sie im Restaurant verhaftet haben …, ich habe dir doch davon erzählt …“
Botoja folgte ihrem Blick, doch an den Fenstern war niemand zu sehen. Die Gardinen hingen glatt und unbeweglich vor den Scheiben.
Kaum zwei Stunden dauerte der Rundgang, dann waren die Besucher schon wieder am Tragflügelboot angelangt. Bevor sie an Bord gingen, wurden sie noch einmal darauf hingewiesen worden, dass sie nichts, aber auch gar nichts von der Insel mit nach Hause nehmen durften. Erleichtert über den friedvollen Ausgang ihres Abenteuers, verschwanden sie in den Umkleidekabinen, um sich des Schutzanzuges zu entledigen und die Naturrückstände zu entfernen.
Im ersten Raum der Sicherheitsschleuse warfen die Exkursionsteilnehmer ihre Ausrüstung in den Verwertungsbehälter, der Anzug, Handschuhe, Stiefel und Unterwäsche in einen vielseitig verwendbaren Kunststoff zurückverwandelte. Unbekleidet wechselten sie danach in den Duschraum über, um sich dort einer ausführlichen Waschung zu unterziehen und schließlich im dritten und letzten Teil des Kabinenschlauchs hygienisch frisch und ohne das kleinste Staub- oder Samenkorn wieder in die eigene Garderobe zu steigen.
Als das Schiff ablegte, dämmerte es bereits. Botoja war unterwegs, um einen heißen Tee zu besorgen. Soul stand auf dem Oberdeck an der Reling und blickte auf das Meer hinaus. Überwältigt von den Farben des nahenden Sonnenuntergangs, ließ sie ihre Augen über die Wasseroberfläche gleiten. Weite …, nichts als Weite …, dachte sie, keine Häuserwand, die ihren Blick stoppte, kein Plakat, das ihre ganze Aufmerksamkeit einforderte, nichts als endlose, pure Weite. Fast wurde ihr ein wenig schwindelig.
Beglückt von den Ereignissen des Tages vertiefte sie sich in die Wellenbewegungen des Meeres, und zum ersten Mal auf dieser Fahrt wurde ihr bewusst, dass es im Wasser unter ihr, direkt unter dem Rumpf des Schiffes, ja auch noch Leben gab. Den Meeresgrund hatten die Menschen, abgesehen von einigen Forschungsstationen, in all den Jahrhunderten der Expansion seltsamerweise nie besiedelt. Es hatte sie wohl mehr ins All hinausgezogen.
Soul schaute zum Strand zurück und betrachtete die Dünenkette. Dahinter lag das Dorf, das sie besucht hatten. Dort roch es so ganz anders als in der Stadt. Die Luft war frisch und klar, das Gras warm und feucht …, überhaupt die Pflanzen …, dann das Meer …, ja, vor allem das Meer. Auch in diesem Moment war er wieder da, der Geruch von Salzwasser und Leben.
Soul seufzte. Sie blickte sich um und stellte fest, dass sie wohl schon die ganze Zeit allein an Deck gestanden hatte. Die anderen Gäste hatten sich längst in die Kabinen zurückgezogen. Naturbegegnungen waren anstrengend, das hatte man ihnen schon vor dem Landgang prophezeit. Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick über die Meeresoberfläche gleiten. So genau wie möglich wollte sie sich dieses Bild einprägen. Die nächste Besuchserlaubnis würde es wohl erst in ein paar Jahren wieder geben.
Plötzlich erwischte eine große Welle den Bug und hob den Rumpf des Schiffes in die Höhe. Soul erschrak und verlor für den Bruchteil einer Sekunde die Orientierung. Sie griff nach der Reling, verfehlte die Stange, versuchte, mit der anderen Hand nachzugreifen, konnte die Finger nicht mehr schließen, weil ihr Körper mit voller Wucht gegen das Gestänge prallte, bekam Übergewicht und … ging über Bord.
„Um Himmels willen, Soul, Souououououllll! Hilfeeeeee! Hilfeee, Frau über Bord!“, hörte sie Botoja noch rufen, die gerade mit dem Tee zurückgekommen war.
Dann bemächtigte sich eine bleierne Schwere ihres Körpers. Alles um sie herum wurde nass und kalt …, und … sie fiel in Ohnmacht.
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