Kitabı oku: «Der große Aschinger», sayfa 2

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Kapitel 2

Zwei Jahre musste Sebastian in der Anwaltskanzlei Stöckler ausharren, ehe das Schicksal eingriff und ihn aus ihr befreite. Doch er hatte bald gelernt, systematisch zu arbeiten und – was vielleicht noch wichtiger war – dass ein Gesetz eine neue Wahrheit bekam, wenn man es mit Selbstbewusstsein und Leidenschaft vortrug. Er konnte dem alten Stöckler so einiges an Schauspielkunst abschauen. Gleichwohl verachtete er diesen und manchmal auch das Büro, das ihn wie eine Geierhöhle dünkte. Es war dunkel und vollgestopft mit Akten, so dass man sich kaum rühren konnte. Die Möbel hatten schon zu Kaiserzeiten antiquarischen Wert, und auf allen Papieren lag Staub.

Bürovorsteher war der Anwaltsgehilfe Brösel, ein langer Hagestolz und leidenschaftlicher Nationalsozialist mit stets schlecht rasiertem Gesicht und gelber, ausgetrockneter Haut. Sebastian wurde schon übel, wenn dieser in seine Nähe kam, denn neben einem säuerlichen Altherrengeruch hatte Brösel einen Atem, der der Pestilenz gleichkam. Natürlich verabscheute er Sebastian, zum einen, weil er jung war, und zum anderen, weil er ihm, wie er mit Recht meinte, nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Wenn Sebastian später von der Arbeit im Anwalts- und Notarbüro Stöckler träumte, dann wachte er schweißnass auf, so wenig geeignet hielt er sich für den Beruf. Und was er zu tun bekam, hätte auch jeder Analphabet, wie er zu Hause murrte, erledigen können.

Er trug also die Akten ins Gericht, protokollierte auf einen Wink von Stöckler die Aussagen von Klägern und Zeugen und vertiefte sich in die Gesetze, die in einem so gestelzten Deutsch formuliert waren, dass man sie wieder und wieder lesen musste und dennoch nicht verstand. Mit dem großen Stöckler hatte er wenig zu tun, und er, Sebastian, war für diesen auch zu unbedeutend, um mehr als einen Knurrlaut und einen barschen Zuruf, dies oder jenes zu tun, von ihm zu hören. Stöckler war stramm rechts, und sein Adlatus stand ihm in nichts nach. Zur Mittagszeit saßen die beiden, umringt von den zwei weiblichen Bürokräften, mit einer Tasse Kaffee in der Hand in dem Kabuff neben Stöcklers Büro, und der Anwalt hielt großartige Reden über den Zustand Deutschlands und Europas und erklärte die Weltpolitik.

So vergingen zwei Jahre, in denen ihm der Bruder oft genug zu verstehen gab, dass er ihn für einen unnützen Esser halte, und natürlich hatte ihm Stöckler gesteckt, dass Sebastian nur eine sehr mäßige Hilfe im Anwaltsbüro war.

»Wir werden den Jungen zeitlebens auf der Tasche liegen haben«, klagte Wilfried gegenüber der Mutter, worauf diese nur immer hilflos die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

In der Garnisonsstadt Neuruppin war man sehr kaiserlich, genauer preußisch-königlich eingestellt, hatte man doch dem preußischen König zu verdanken, dass die Stadt nach dem großen Brand wiederaufgebaut worden war. Es waren nicht viele, die mit der SA marschierten, als der Gauleiter von Berlin, ein koboldhafter Mensch mit einem Hinkefuß, seine Kohorten nach Neuruppin rief, um mit ihnen durch die Stadt zu marschieren und »Deutschland, erwache!« zu brüllen, allein zu dem Zweck, hier bei den kasernierten Soldaten für die Idee der nationalen Erweckung zu werben. Das Personal der Kanzlei stand am offenen Fenster und jubelte unter Stöcklers Anweisung den braunen Kohorten zu.

Als die gerade am Denkmal König Wilhelms vorbeimarschierten, fiel ein Schuss. In Berlin war dies nichts Besonderes, hier in der Behaglichkeit der kleinen Provinzstadt hingegen eine unerhörte Begebenheit. In Neuruppin hatten die Kommunisten keine große Anhängerschaft, aber einige gab es doch, und aus deren Reihen kam der Schuss, der zwar nichts anrichtete, jedoch die SA auseinanderspritzen ließ. Sofort wurde unter den Zuschauern am Straßenrand der Schuldige gesucht. Sebastian sah, wie sie einen jungen Mann mit Ballonmütze verfolgten, sah diesen auf ihr Haus zulaufen, die grölenden SA-Leute im Gefolge. Sein Brötchengeber grölte blutgeil mit und feuerte die SA an. Sebastian aber schlich sich aus dem Zimmer und lief hinunter in den Flur, wo ihm auch schon mit gehetzten Augen der junge Mann mit der Ballonmütze entgegenkam. Erschrocken sah der ihn an.

»Keine Angst, komm!«, flüsterte Sebastian. Während unten die SA schon polterte, lief er dem Kommunisten voran und führte ihn in die Kanzlei. Der Flur war leer. Noch standen alle in Stöcklers Büro und sahen auf die Straße, wo eine wilde Hatz auf die vermeintlichen Kommunisten in Gang war. Sebastian stieß den Rotfront-Mann in den Aktenraum, der außer Regalen nur noch eine Leiter enthielt und den Staub von einigen Generationen. Er hoffte, dass man hier nicht so schnell auf Aktensuche ging. »Warte hier! Und keinen Mucks, bis sie wieder …« Er legte den Finger auf den Mund, und der junge Mann nickte dankbar. Sebastian ging in Stöcklers Büro zurück. Man schien seine Abwesenheit nicht bemerkt zu haben.

Nun polterte es an der Tür zur Kanzlei. Stöckler sah sich stirnrunzelnd um und ging zum Flur. Drei SA-Männer drängten herein.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte Stöckler mit strenger Miene.

»Hier ist der rote Bastard rein!«, stammelte der Anführer, und sein Blick flog über die Anwesenden.

»In unserer Kanzlei befindet sich kein Roter. Niemals!«, erwiderte Stöckler mit hochrotem Kopf.

»Aber wo soll er denn sonst …«

»Was weiß ich! Bei uns ist er jedenfalls nicht. Haben Sie nicht gesehen, dass vor unserem Fenster die Hakenkreuzfahne hängt?«

»Entschuldigung, dann ist er wohl auf dem Dachboden«, sagte der SA-Mann, nickte seinen Schlägerkumpanen zu, und sie stolperten hinaus.

»Sie müssen noch Zucht und Ordnung lernen. Na, wo gehobelt wird, da fallen halt Späne an«, sagte Stöckler.

Sie hörten draußen die SA-Leute nach oben toben und bald wieder zurückkommen. Sie verharrten noch einmal vor der Kanzleitür, dann erfolgte ein Ruf, und sie polterten die Treppe hinunter. Mit einem Rechtsanwalt und Notar, der sich mit der Hakenkreuzfahne zu ihnen bekannte, wollten sie keinen Ärger bekommen.

»Dann wollen wir mal wieder an die Arbeit gehen«, sagte Stöckler und klatschte in die Hände.

Der Anwaltsgehilfe Brösel warf Sebastian einen gehässigen Blick zu und lief zum Abstellraum. Sebastians Hände wurden feucht. Doch schon stürzte der Kommunist wie ein gehetztes Wild heraus, und ehe Stöckler und Brösel den Mund zubekamen, war er durch den Flur und wieder aus der Kanzlei heraus.

»Wie zum Teufel kommt der Kerl in die Kanzlei?«, brüllte Stöckler.

»Da muss ihm wohl jemand geholfen haben«, sagte Brösel und blickte Sebastian feindlich an.

»Lorenz, hast du den Roten hereingelassen?«, donnerte Stöckler.

»Ich habe bei dem Jungen noch nie ein gutes Gefühl gehabt«, setzte Brösel hinzu.

»Junge, gestehe, du hast den Roten hereingelassen!«, brüllte Stöckler.

»Ja, das habe ich!«, gab Sebastian zu. »Irgendjemand musste ihm doch helfen, die Kerle hätten ihn sonst umgebracht. Ich wollte nicht wegen unterlassener Hilfeleistung Ärger bekommen. Der Mob ist doch außer Rand und Band.«

»Hört euch das an, jetzt kommt der uns noch mit dem Strafgesetzbuch!«, entsetzte sich Brösel.

»Ich habe nur nach Recht und Gesetz … Ich denke, wir sind doch Vertreter von Recht und Gesetz!«, sagte Sebastian trotzig und mit bleichem Gesicht.

»Mob? Wie redest du von den nationalen Kräften! Du hast also tatsächlich …« Brösel schüttelte den Kopf, nahm das Taschentuch und wischte sich die Stirn. »Er bringt unsere Kanzlei in Verruf!«, hetzte er.

»Junge, du packst jetzt deine Sachen und verlässt sofort unsere Kanzlei. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Du bist fristlos entlassen«, sagte Stöckler bestimmt.

»Ein Kommunistenfreund in unserer Kanzlei!«, kreischte Brösel.

»Ich bin kein Kommunist, ich wollte mir nur nicht unterlassene Hilfeleistung vorwerfen lassen …«

»Verschwinde!«, schnauzte Stöckler.

Sebastian zuckte mit den Schultern und ging zu seinem Schreibtisch. Er packte die Brotdose in die Aktentasche, zog die Schublade auf, nahm Der Tod in Venedig heraus, was ihm ein wütendes Schnauben von Stöckler eintrug, und ging hinaus.

»Lass dich nie wieder hier sehen!«, rief ihm Brösel triumphierend hinterher.

Sebastian war nicht traurig, weder entsetzt noch deprimiert. Er nahm es hin, wie es gekommen war. Ihm war es nur recht. Das Kapitel Anwaltsgehilfe hatte er hinter sich. Als er auf die Straße trat, waren die Kolonnen bereits zum Bahnhof weitermarschiert. Die Zuschauermenge begann sich zu verlaufen. Als Sebastian an der Fontane-Apotheke vorbeikam, löste sich aus dem Eingang ein junger Mann. Winkend kam er auf ihn zu.

»Vielen Dank«, sagte der Mann mit der Ballonmütze. »Ich weiß nicht, was die mit mir angestellt hätten, wenn du mir nicht zu Hilfe gekommen wärst … Hast du deswegen Ärger bekommen?«

»Ja, mein Vorgesetzter hat mich rausgeschmissen.«

»Verflucht!«, sagte der Kommunist, ein hochgewachsener junger Mann mit einem bleichen, ausgemergelten Gesicht und groben Händen.

»Das ist nicht so schlimm, es war ohnehin die Hölle.«

»Jedenfalls hast du bei mir etwas gut. Ich heiße Kowalski, und wenn du mal in die Bredouille kommst, dann …«

»Ich bin schon in der Bredouille, aber dabei wirst du mir nicht helfen können.«

»Das stimmt«, gab Kowalski stirnrunzelnd zu. »Ich habe ja selbst keine Arbeit.«

»Das kann ich mir denken. Ihr hättet nicht schießen sollen.«

»Glaub nicht, dass es einer von uns war! Keiner von uns hatte eine Waffe. Wir haben nur ›Rot Front!‹ gebrüllt und ›Nieder mit der Reaktion!‹. Ich weiß auch nicht, wer da die Nerven verloren hat.« Kowalski schlug Sebastian auf die Schulter, hob die geballte Faust und lief die Straße zum Paradeplatz hoch.

Sebastian kam am Bahnhof vorbei, wo immer noch SA-Männer auf den Zug nach Berlin warteten. Sie schwadronierten vom kommenden Sieg und dass sie den Neuruppinern gezeigt hätten, wer bald in Deutschland die Macht übernehmen würde. Ein breitschultriger SAMann kam mit lauerndem Blick zu Sebastian und hauchte ihm seinen fuseligen Atem ins Gesicht.

»Bist wohl auch einer von der Reaktion, so wie du aussiehst! Nun mach mal den deutschen Gruß und ruf ›Heil Hitler‹!«

»Guten Tag, mein Herr«, antwortete Sebastian und wollte sich abwenden, aber der SA-Mann hielt ihn am Arm fest.

»Los, mach schon, ich will ›Heil Hitler‹ hören!«

»Ich habe Ihnen doch höflich einen guten Tag gewünscht. Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Hört euch das an!«, grölte der SA-Mann seinen Leuten zu.

»Mach den Grünschnabel fertig, und hau ihm eine in die Fresse!«, hetzten diese, und Sebastian sah zu den Reisenden hinüber, die keine Uniform trugen. Aber diese taten so, als hätten sie anderes zu tun, und starrten an ihm vorbei in die Gegend. Der SA-Mann packte Sebastian an der Hemdbrust und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. Sebastian fiel zu Boden. Doch der SA-Mann dachte nicht daran aufzuhören und gab ihm ein paar heftige Fußtritte, die Sebastian aufschreien ließen. Und wer weiß, was ihm noch passiert wäre, wenn in diesem Moment nicht der Zug nach Berlin eingelaufen wäre. Eine Trillerpfeife erklang, und der SA-Mann ließ von Sebastian ab, warf ihm noch einen drohenden Blick zu und bestieg mit seinen Kameraden den Zug.

»Du hättest ruhig den Gruß entbieten können«, sagte ein vornehm gekleideter Herr mit Bowler. »Das hat man davon, wenn man sich abseits stellt.«

Sebastian zuckte mit den Schultern und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Mit diesen Leuten will ich nichts zu tun haben!«, erwiderte er trotzig. Genau mit solchen Leuten paktierte Vater und paktiert Wilfried, dachte er erbittert. Sebastian war anfangs kein politischer Mensch, ihn hatten nur die rüden Attacken des Vaters, sein Bramarbasieren und seine Ausfälle gegenüber der jüdischen Verwandtschaft zum Gegner der Nationalsozialisten gemacht. Aber nun, da er am eigenen Leibe erfahren hatte, dass diese so handelten, wie sie redeten, wusste er, dass er niemals mit diesen Leuten etwas gemein haben würde.

Als er in Schönberg den Hof betrat, schlug die Mutter, die gerade die Hühner gefüttert hatte, die Hände über dem Kopf zusammen.

»Sebastian, wie siehst du denn aus!«

»Ach, es ist nichts Schlimmes. Die SA wollte mich zum Hitlergruß überreden, und da habe ich nicht mitgemacht.«

»Aber warum denn nicht? Hitler ist ein großer Mann, sagte Vater auch immer. Deswegen lässt man sich doch nicht verprügeln! Nun komm mal rein, damit ich dich verarzte. Hast du sonst noch …«

»Aber nein, nur ein paar blaue Flecke.«

Ihn gurrend und zeternd umspringend und die Welt beklagend, führte sie ihn in die Küche und holte den Verbandskasten. Behutsam tupfte sie seine Wunde an der Stirn und an den Backenknochen mit Jod ab und verpflasterte ihn. »So, bis zur Hochzeit wird alles wieder gut.«

Er musste lachen, obwohl ihn dabei das Gesicht schmerzte. Den Spruch hatte sie zu ihm schon als Kind gesagt, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte.

Wilfried kam herein und stutzte. »Was machst du denn schon hier? Und wie siehst du aus?«

»Deine Freunde von der SA haben mich …«

»Hast du die SA provoziert?«, fragte Wilfried unwillig.

»Aber nein, ich habe nur nicht ›Heil Hitler‹ rufen wollen.«

»Das geschieht dir recht!«, sagte Wilfried gehässig. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.«

»Wilfried«, mahnte die Mutter, »er ist dein Bruder!«

»Schöner Bruder! Und was suchst du um diese Zeit hier?«

»Ich habe bei Stöckler aufgehört.«

»Was hast du?«, fragte Wilfried empört und sank fassungslos auf die Sitzbank. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Ja, er hat mich rausgeschmissen.«

»Da siehst du es, Mutter, er taugt nicht mal zum Bürohengst! Zu nichts ist er nütze!«

»Was ist denn passiert, Junge? Warum?«, klagte die Mutter und schüttelte besorgt über ihren Jüngsten den Kopf.

»Ich habe mich an Recht und Gesetz gehalten, was der Herr Anwalt nicht für nötig hielt«, erklärte Sebastian und erzählte, was ihm in der Kanzlei widerfahren war.

»Du hast einen Kommunisten versteckt?«, fragte Wilfried entsetzt. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Hältst du es jetzt mit den Roten?«

»Nein, mit Recht und Gesetz!«

»Du bist ein Schwachkopf! Wie kann man sich, wie kann man uns nur in eine solche Situation bringen! Spätestens morgen ist es im Dorf rum, dass Sebastian Lorenz einem Roten geholfen hat. Wie stehen wir dann da! Man hat doch nur Ärger mit dir. Vater hatte schon recht: Du bist kein Lorenz, sondern ein Rosenstein.«

»Junge, sag so etwas nicht!«, jammerte die Mutter.

»Du hast auch Rosenstein-Blut in dir«, sagte Sebastian lächelnd.

»Schluss mit lustig, meine Geduld ist am Ende! Ich habe dich die ganze Zeit durchgefüttert, aber das ist nun vorbei. Du kannst nicht hierbleiben.«

»Da gebe ich dir ausnahmsweise recht«, entgegnete Sebastian.

»Aber was willst du denn tun?«, fragte die Mutter händeringend.

»Was ich schon vor zwei Jahren tun wollte: Ich werde nach Berlin gehen.«

»Was willst du in der Großstadt? Junge, du wirst verhungern und unter die Räder kommen!«, klagte die Mutter.

»Irgendetwas werde ich schon tun können.«

»Denk nicht, dass ich dir Geld für ein Lotterleben in der Stadt geben kann! Du musst endlich selbst mit deinem Leben fertig werden«, sagte Wilfried und schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch.

»Du musst dein eigener Herr werden und dir dein Brot selbst verdienen.«

»Ich will auch gar nichts von dir. Gib mir ein paar Mark, damit ich nach Berlin fahren kann, und damit soll es genug sein!«

»Ach Sebastian, wenn dein Vater nicht diese unselige Leidenschaft für Pferde gehabt hätte, könntest du Abitur machen und studieren. So hatte ich es mir vorgestellt.« Die Mutter schluchzte, was sie bei dem Tod ihres Mannes nicht getan hatte.

Sebastian liebte sie dafür. Aber er nahm das, was jetzt auf ihn zukommen würde, an. Seine Unschlüssigkeit war vorbei, und er wusste nun, was er zu tun hatte. Mit der Unbedenklichkeit der Jugend, mit dem Vertrauen darauf, dass sich schon irgendetwas ergeben würde, bekräftigte er seinen Entschluss, sein Glück in Berlin zu versuchen.

»Mit dir wird es noch ein schlimmes Ende nehmen«, prophezeite Wilfried hämisch. »Du kannst nichts, bist nichts, und mit Bücherlesen allein hat sich noch niemand über Wasser halten können.«

»Ich weiß, dass du mir nicht viel zutraust.«

»Na, der Stöckler wird auch nicht viel von dir gehalten haben, wenn er dich so mir nichts, dir nichts auf die Straße setzt.«

Als Sebastian dann im Bett lag, fühlte er sich wie befreit. Endlich konnte er weg! Weg aus Schönberg, weg aus der muffigen Kanzlei, weg von Brösels Vorhaltungen. Leid tat ihm nur die Mutter. Sie hatte einen Herrn gegen den anderen eingetauscht, denn Wilfried hatte genau die gleichen Eigenschaften wie der Vater und behandelte sie mit derselben herablassenden Gleichgültigkeit. Von der Magd des Vaters war sie nun zur Magd des Sohnes geworden.

Sie war es auch, die noch einmal in sein Zimmer huschte und sich zu ihm aufs Bett setzte. Sie nahm seine Hand und flüsterte unter Tränen: »Was soll aus dir nun werden? Ich mache mir solche Sorgen! Schon als Bub hast du mir Kummer bereitet, dauernd warst du krank. Es ist ein Wunder, dass ich dich durchgebracht habe!«

»Ich werde etwas aus mir machen, Mutter«, versprach er und drückte sie an sich.

»Du hast mich so viel Kraft gekostet. Aber es war es wert, du bist kein Lorenz geworden.«

Sebastian lächelte und strich ihr eine weiße Strähne aus dem Gesicht. Es war seltsam, wie weich ihr Haar war. Sie war einst eine Schönheit – er kannte die Aufnahmen von ihrer Hochzeit –, doch nun hatten die Sorgen und die viele Arbeit sich in ihr Gesicht eingegraben. Ein schwacher Abglanz war immer noch zu sehen, wenn sie lächelte. Nur tat sie dies zu selten.

»Ich verspreche dir, dass ich es zu etwas bringen werde. Ich lasse mich nicht kleinkriegen«, versicherte er noch einmal.

»Ach Junge, du bist ein Träumer. Die vielen Bücher haben dir Dinge in den Kopf gesetzt, die ein Bauernjunge nicht träumen sollte.«

»Ich brauche nur eine richtige Chance. Ich bin ein Rastignac.«

»Wer ist denn das schon wieder? Immer hast du so wunderliche Dinge im Kopf!« Sie streichelte ihm über das Haar. »Ich weiß noch, wie es war, als du geboren wurdest. Es war ein wunderschöner Apriltag, und die Frauen, die zu mir ins Krankenhaus kamen, trugen große Hüte, und die Schwester legte dich mir in den Arm. ›Es ist ein Junge‹, sagte sie mir. ›Er ist gesund, aber Sie werden auf ihn achtgeben müssen, denn er ist etwas zart.‹ Und so war es auch. Ich habe immer auf dich achtgeben müssen. Nun werde ich es nicht mehr tun können. Hier, nimm das, ich habe in all den Jahren etwas gespart. Ich weiß selbst nicht wofür. Vom Haushaltsgeld habe ich immer ein paar Pfennige abgezweigt, und mit den Jahren ist allerlei zusammengekommen.« Sie drückte ihm eine Rolle Geldscheine in die Hand.

Sebastian zählte das Geld und schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht annehmen, das sind tausend neue Reichsmark! Du brauchst es für dich.«

»Was brauche ich alte Frau schon! Nimm es, sprich aber nicht mit Wilfried darüber! Ich wusste immer, dass Vater ihm alles vererben würde. Nun hast du mit den tausend Reichsmark ein kleines Startkapital. Gib es nicht für unnütze Dinge aus, sondern für etwas, das dir im Leben weiterhilft – also nicht wieder für Bücher oder gar für Mädchen! Versprichst du mir das?«

Er versprach es ihr. Das mit den Mädchen fiel ihm leicht, denn bisher war er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen. Als er zwölf gewesen war, hatte er die Tochter von Bauer Garchke geliebt, weil sie lustig war und lange schwarze Zöpfe hatte, die beim Laufen hin und her flogen, und mit der er hinter der Scheune Doktorspiele gespielt hatte. Aber als sie älter waren und sich begegneten, hatten sie sich nicht angesehen. In dem letzten Jahr auf dem Gymnasium war sie in der Nebenklasse die ungekrönte Königin gewesen, und Helge, der Sohn des Dorfschulzen zu Lindow, behauptete, sie zur Freundin zu haben. Tatsächlich hatte Sebastian die beiden einmal händchenhaltend am Neuruppiner See zum Bootssteg laufen sehen. Ihn aber hatte sie geschnitten und ein hochmütiges Gesicht gemacht. Er nahm an, dass sie mit dem Klassenletzten nichts zu tun haben wollte. Vielleicht erinnerte sie sich auch daran, wie sie ihn und er sie bei den Doktorspielen befummelt hatte. Das waren seine ganzen Erfahrungen mit Mädchen.

»Du wirst mir doch jede Woche schreiben?«, fragte die Mutter, und Sebastian nickte gehorsam.

Als sie gegangen war, las er weiter in den Buddenbrooks über den Niedergang der Familie. Nun, die Lorenz’ waren keine Buddenbrooks, aber vielleicht stand er am Anfang einer Familie, die es zu Reichtum und Ansehen brachte. Er hoffte, dass er in sich etwas finden würde, das ihn über andere hinaushob.

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
730 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783955521844
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