Kitabı oku: «Der große Aschinger», sayfa 3

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Kapitel 3

Sie standen in Lindow auf dem Bahnhof, einem kleinen Backsteinbau, der geduckt unter den Wolken vor der Stadt lag. Es war windig und kalt, und es nieselte. Die Mutter schnäuzte sich dauernd, während Wilfried breitbeinig und ungeduldig immer wieder auf die Uhr sehend danebenstand und darauf hoffte, dass der Zug endlich kam.

»Du schreibst mir gleich, wo du untergekommen bist! Onkel Edmund wird dir bestimmt dabei helfen. Schreib mir noch heute Abend, dann habe ich deinen Brief übermorgen hier. Bis dahin werde ich keine ruhige Minute haben.«

»Mutter, er geht doch nicht nach Amerika!«, stöhnte Wilfried gereizt.

Sebastian versprach es. Er verstand die Mutter. Sie würde von nun an allein mit Wilfried leben, und alles würde so sein wie bei dem Alten: der gleiche Ton, die gleichen Anweisungen, die gleiche Freudlosigkeit und das ewige Gerede darüber, wie viel man aus dem Acker herausholen konnte, das ewige Genöle über die Getreidepreise, das geile Lächeln wegen der Trächtigkeit der Stuten und die strengen Ermahnungen, dass man hier und dort sparen musste. Nichts würde sich ändern, und doch würde es anders sein. Denn niemand würde mehr ihren Tagesablauf in Sorge um den Jüngsten in Unordnung bringen, keinen würde sie liebevoll eine Naschkatze schelten oder einen Träumer nennen, und vor allem würde er nicht da sein, um sie in die Arme zu nehmen und sich mit ihr im Kreise zu drehen, und sie würde nicht mehr rufen: »Mein Gott, Junge, ich bin doch keine junge Frau mehr!«

Ein Pfiff kündete den Zug an und wurde von einem Heulton abgelöst. Der Zug rauschte heran, und aus der Wartehalle strömten die Reisenden, meist Arbeiter, die nach Berlin wollten und ermüdet und abgehärmt aussahen, was nicht nur an dem kalten Licht der Bogenlampe lag. Die Lokomotive ließ viel Dampf ab, und die Rauchwolken zogen über den Bahnsteig und hüllten die Wartenden ein. Die Mutter und Wilfried führten Sebastian zu einem Dritte-Klasse-Wagen.

»Nun denn«, sagte Wilfried, »mach es gut und lass von dir hören!« Das war es, was ihm der Bruder mitgab. Ein letztes Mal drückte er die Mutter, deren Gesicht ihm nun noch müder, deren Augen noch trauriger erschienen. »Mutter, ich bin doch nicht aus der Welt!«

Der Pfiff des Schaffners ertönte, und das Stampfen der Lokomotive verstärkte sich. Neue Dampfwolken zogen über den Bahnsteig. Sebastian stieg in den Zug und drängte sich sofort ans Fenster. Die Mutter hielt ihre Hand hoch, ihr Mund war verzerrt und offen, als entfliehe ihr ein Schrei. Dann ruckte der Zug an, und die Mutter und Wilfried wurden kleiner. Nun winkte sie heftig und lief ein paar Schritte hinter dem Zug her, und Sebastian hatte Mühe, seine Tränen zu unterdrücken. Ohne Abitur und mit einer abgebrochenen Lehre, aber einer Menge Bücher im Kopf zog er nach Berlin.

Die Bänke des Großwagenabteils waren gedrängt voll. Viele nutzten die Bahnfahrt, um noch ein wenig zu schlafen. Ihre Kleider waren grob und ihre Hände abgearbeitet. Die Männer trugen blaue Arbeitskittel, die Frauen den billigen Chic der Warenhäuser, den gerade die Mode diktierte, kleine Hütchen mit Blumenimitaten, Röcke, die die Knie gerade bedeckten, Strümpfe, die fast durchsichtig waren. Aber ihre Gesichter zeigten, wenn auch in einer weicheren Ausführung, die gleiche Müdigkeit und Resignation. Es roch nach Schweiß, klammen Kleidern, billigem Parfum und nach dem Rauch schlechter Zigarren. Das gleichmäßige Schaukeln ließ auch Sebastian müde werden, und er träumte, in Alaska zu sein und nach Gold zu graben, um in Frisco ein großes Haus zu führen mit Dienern und Wirtschafterin und Zimmermädchen. Und die Leute blieben stehen, wenn er in einer großen Kalesche durch die Straßen fuhr, und lüfteten ihre Hüte. Da kommt er, der Mann, der in Klondike sein Glück gemacht und den größten Goldklumpen der Welt gefunden hat!

Als er erwachte, fuhren sie im Anhalter Bahnhof ein. Sich aus dem Traum heraustastend, stand er auf, nahm seinen Koffer und stieg aus. Das Gewimmel auf dem Bahnsteig nahm ihm fast den Atem. Schreie, Pfiffe, das Stampfen der Lokomotiven, die Rufe der Gepäckträger, das Vorwärtsstürzen zu den Ausgängen und er, Sebastian, in einem Wirbel, der ihm unwirklich vorkam und den er staunend hinnahm. Das also war die Großstadt. Er ließ sich aus dem Bahnhof treiben und in die Stadt hineinspülen, in die endlosen Straßen, die voller Automobile, Transportwagen, Busse und Straßenbahnen waren. Nur hin und wieder sah man noch einen Kutschwagen mit derben Pferden, Belgiern wohl, der Fässer mit Schultheiss-Bier fuhr. Die Hochbahn donnerte über ihm, die Kraftwagen hupten, und ihre Reifen quietschten.

»Jehn Se man schneller! Hamse de Maschine nich jeölt?«, herrschte ihn einer von hinten an.

Er ging zum Potsdamer Platz und bewunderte die Hotels, den Fürstenhof, den Kaiserhof und das Haus Bellevue sowie das Weinhaus Rheingold. Die Häuser sahen hier wie Schlösser aus, und die Menschen, die dort hineingingen, waren anders gekleidet als er, trugen dunkle Anzüge und Bowler oder Zylinder, und er schämte sich seiner fadenscheinigen karierten Jacke, seiner Knickerbocker, seiner Schiebermütze und des geflickten Hemdes. Nicht einmal eine Krawatte hatte er. Er kam sich gegen diese lichtvollen Wesen minderwertig vor. Doch er würde so werden wie die da, dachte er trotzig, die mit hochmütigem oder gleichgültigem Gesicht den Fürstenhof betraten, vor dem der Portier in einer prachtvollen Uniform stand, die einem General Napoleons wohl angestanden hätte, und ehrerbietig den Hut lüftete.

Die lange Reise hatte Sebastian hungrig gemacht. Als er an einem Lokal mit der Aufschrift Aschingers Bierquelle vorbeikam, blieb er stehen. Durch die großen Fenster hatte man einen guten Einblick in das Lokal. Es sah sehr elegant aus, mit vielen Spiegeln und sogar Kronleuchtern. Er beobachtete einfach gekleidete Männer und Frauen an Stehtischen ihre Mahlzeit einnehmen. In Berlin schienen selbst normale Menschen wie er in königlicher Umgebung zu essen.

Sebastian überlegte, ob er sich so eine Ausgabe leisten konnte. Und er entschied sich, nicht zu sparen, denn nun war er hier in der Stadt, die Eroberer verlangte, und er war sich sicher, dass auch Jack London nicht kleinmütig oder duckmäuserisch vorgegangen wäre.

Mit erhobenem Kopf betrat Sebastian das Lokal. Hinter Vitrinen lagen sauber aufgeschichtet belegte Brote mit Wurst und frischem Hackepeter. Die Preise erstaunten ihn. Für zwanzig, dreißig Pfennige bekam man Brötchen mit Fisch oder Schinkenwurst. Gegenüber war die Biertheke mit silbern schimmernden Zapfsäulen und einem Angebot von bayerischen und Berliner Bieren. Sebastian kaufte ein Bier, bekam ein Brötchen gratis dazu und bezahlte nicht mehr als eine Reichsmark. Er leistete sich dazu ein Brot mit Schinkenwurst für zwanzig Reichspfennig. Er war auf einem Bauernhof aufgewachsen und wusste, was gutes Fleisch war, und dies war gutes Fleisch. Alles schmeckte vorzüglich. Dieses Lokal war für ihn ein Wunder an Eleganz. Zwar musste er seine Mahlzeit an einem Stehtisch einnehmen, aber dies schien hier allgemein üblich zu sein. Dann gewahrte er nebenan einen Raum mit Tischen und Stühlen für warme Mahlzeiten, und er sah auf einer Kreidetafel, dass es dort Löffelerbsen mit Speck, Eisbein mit Sauerkohl, Thüringer Rotwurst, Schweinegulasch und das besonders angepriesene Aschinger-Schnitzel gab. All diese Köstlichkeiten kosteten nicht mehr als zwei Reichsmark. Nur die junge Gans mit Gurkensalat war mit drei Reichsmark etwas teurer.

Mein Gott, die Städter verstanden zu leben! Er bewunderte die Angestellten der Bierquelle, die eine Uniform wie Offiziere mit Schulterklappen trugen, auf dem ein A zu sehen war. Sie machten einen selbstbewussten Eindruck, ohne arrogant zu wirken. Es machte sie scheinbar stolz, hier zu arbeiten. Das Publikum war gemischt. Neben solchen Männern, die wie er angezogen waren, sah er auch elegant gekleidete Männer und Frauen, die er den Herrschaften zurechnete. Aber hier schien man keine Standesunterschiede zu kennen. Niemand blickte ihn herablassend an. Er trank sein Bier aus, verließ fast bedauernd Aschingers Bierquelle und ging hinüber zum Bahnhof Potsdamer Platz. Die Mutter hatte ihm geraten, zuerst ihren Cousin aufzusuchen, um ihn um Rat wegen einer Unterkunft und Arbeit zu fragen. Nach dem anregenden Gespräch mit dem Musikus während des Leichenschmauses hatte er keine Hemmungen, den Herrn Kapellmeister, wie ihn die Mutter immer noch nannte, um Unterstützung zu bitten.

»Er wohnt am Kurfürstendamm«, hatte die Mutter ehrfurchtsvoll gesagt. Es schien ein besonderer Ort zu sein, der nach Reichtum und einem unbeschwerten, funkelnden Leben klang, vergleichbar mit so schillernden Namen wie Champs Élysées, Piccadilly oder Park Avenue. Sebastian nahm die U-Bahn und war überwältigt, als er am Kurfürstendamm ausstieg und aus dem Untergrund den prächtigen Boulevard betrat. Er ging an dem Restaurant Kempinski vorbei den Kurfürstendamm hoch, bog in die Bleibtreustraße ein und fand sich vor dem Eckhaus mit dem großen Tor. Er stieß es auf, ging durch einen Torbogen in einen kleinen Hinterhof, wo er auf dem Stillen Portier den Namen Rosenstein fand. Er musste viele Treppen steigen, bis er vor der Tür seines Onkels stand. Kaum hatte er geklingelt, wurde die Tür aufgerissen, und der Herr Kapellmeister schaute ihn mit erstauntem Gesicht an.

»Junge, bist du es tatsächlich? Ist was passiert? Komm herein!«, sagte Edmund Rosenstein, der trotz der Mittagsstunde bereits einen Frack trug, mit weißem Frackhemd und schwarzer Fliege. Etwas gebeugt, das Haar wirr zurückgekämmt, sah er aus wie die ärmliche Kopie des großen Beethoven. Leutselig winkte er ihn in die Wohnung, die trotz der Hinterhausatmosphäre mit antiken Möbeln elegant eingerichtet war. An der Wand hingen Plakate von Konzerten, die ihn, Edmund Rosenstein, als genialen Dirigenten anpriesen. Das Wohnzimmer dominierte ein riesiger Flügel, daneben ein Notenständer, auf dem langen Tisch lag eine Geige. Die Schränke wiesen viel Porzellan und etliche Nippesfiguren auf. Auf dem Flügel stand ein Gipskopf, der mit dem Namen Mozart beschriftet war. Die Möbel glänzten in einem schönen tiefen Braunrot.

»Setz dich! Bist du heute angekommen?«

Sebastian nickte, ganz benommen vom Reichtum und der Eleganz, die er hier sah.

»Ich habe nachher Probe. Aber eine halbe Stunde habe ich noch für dich Zeit. Erzähl, was passiert ist! Möchtest du einen Kaffee?« Der Musikus lief, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Küche und kam bald mit einer Tasse auf einem Silbertablett wieder.

Sebastian erzählte von seiner verunglückten Lehre, warum er sie abbrechen musste und dass er nun nach Berlin gekommen war, um sein Glück zu versuchen.

»Dein Vater hat euch also nicht viel hinterlassen«, stellte Rosenstein betrübt fest und seufzte. »Jetzt musst du aus eigener Kraft deinen Weg finden. Mein armes, armes Cousinchen! Ich wusste, dass deine Mutter bei dem Alfred Lorenz kein gutes Leben hatte. Und nun hat dieser Wilfried alles geerbt, und du gehst leer aus. Hast du eine Vorstellung, was du machen willst?«

»Nein, aber ich muss mir eine Arbeit suchen, irgendeine Arbeit, die mich erst einmal ernährt, und dann schauen, ob ich was Besseres finde.«

»Hast du nun entdeckt, wo deine Fähigkeiten liegen?«

Eine unangenehme Frage, denn sie verlangte das Bekenntnis, dass er in den zwei Jahren nicht weitergekommen war. Er zuckte mit den Achseln und gestand stotternd, dass er nicht mehr nach Berlin mitbrachte als den Willen, etwas aus sich zu machen. Der Musikus schüttelte besorgt den weißen wuschligen Gelehrtenkopf.

»Berlin ist eine harte Stadt. Hier sind schon viele gute Jungen auf die schiefe Bahn geraten.«

»Die Alternative wäre gewesen, Knecht meines Bruders zu sein.« Der Kapellmeister rümpfte die Nase. »Das ist in der Tat keine besonders verlockende Vorstellung. Trink, es ist echter Bohnenkaffee!«, erklärte der Kapellmeister.

So schmeckte der also. Zu Hause hatte der Kaffee nach nichts geschmeckt. Muckefuck, wie ihn die Mutter immer bedauernd bezeichnete. Der Vater und auch Wilfried hatten keinen Sinn für diese Extravaganzen, wie sie es nannten.

»Heute Nacht kannst du natürlich bei mir schlafen. Aber dann werden wir ein Zimmer für dich suchen müssen. Ich rede mal mit dem Vermieter, denn oben unter dem Dach ist ein Zimmer frei geworden.

Wirst du denn überhaupt die Miete zahlen können?«

»Mutter hat mir ein bisschen Geld mitgegeben. Es wird schon gehen.«

»Berlin ist teuer, Sebastian. Wir sollten schnell eine Stelle für dich finden. Ich muss jetzt leider los. Mach es dir bequem! Dort in dem Bücherschrank findest du etwas zum Lesen. Du liest doch sicher noch gern?« Sebastian nickte. Der Musikus zog einen Überzieher an, winkte Sebastian gut gelaunt zu und stürmte mit wehenden Haaren hinaus.

Sebastian sah sich in der Wohnung um. Niemals hätte er erwartet, dass der Cousin der Mutter in einer so angenehmen und reichen Umgebung lebte. Er betrachtete die Nippesfiguren, die Geiger in Rokoko-Kostümen und Frauen in wehenden Röcken auf einer Schaukel zeigten und schön und zerbrechlich aussahen. Er wagte nicht, sie zu berühren. Er ging an den Bücherschrank und schloss ihn auf. Die meisten Bücher handelten von Musikern und großen Komponisten. Dann fand er Stendhals Kartause von Parma und ließ sich fortführen in eine Zeit, als Mut und Genie ausreichten, um Kronen auf der Straße einzusammeln.

Er war ein bisschen eingenickt, als der Musikus spät am Abend zurückkam. Der Onkel machte ihm auf dem Sofa im Wohnzimmer ein Lager und brummte: »Das muss reichen, Sebastian.«

»Das ist mehr, als ich erwartet habe.«

»Hast du Hunger? Komm in die Küche, ich mache dir ein paar schöne Brote. Mit mehr kann ich nicht aufwarten.« Er bestrich die Brote mit goldgelber Butter und belegte sie mit dicken Scheiben Thüringer Mettwurst. »Gefällt dir Stendhal? Halte dich immer an die Besten – in jeder Beziehung!«

»Ich habe Tschechow und Dostojewski gelesen und alle großen Franzosen«, sagte Sebastian und biss herzhaft in das Brot.

»Na, schmeckt’s?«

»Und ob!« Sebastian nickte begeistert.

»Junge, wenn du dich mit den Großen auseinandergesetzt hast, dann weißt du, dass es allein in deiner Hand liegt, was aus dir wird.«

»Aber Glück muss man auch haben.«

»Tja, Glück muss man haben«, gab der Musikus zu und sah melancholisch auf die leicht vergilbten Plakate, die große Konzerte mit ihm ankündigten, doch einer längst vergangenen Zeit angehörten.

Sebastian schlief in dieser Nacht traumlos auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Onkels.

Am nächsten Morgen bei einem Frühstück, das aus Weißbrot mit Marmelade bestand und durch den guten Kaffee veredelt wurde, sagte der Onkel: »Ich muss jetzt üben. Und am Nachmittag kommen meine Schüler. Am besten siehst du dir jetzt einmal die Stadt an und verschaffst dir einen Überblick, wie es in Berlin zugeht. Bis heute Abend habe ich vielleicht auch den Vermieter erreicht.«

»Kann ich das Buch mitnehmen? Falls mir langweilig wird, habe ich etwas zum Lesen.«

»Langweilig? In Berlin? In dieser Stadt ist niemandem langweilig! Berlin ist aufregender als jede andere Stadt in Europa. Aber nimm ruhig Stendhal mit. In meinem Alter liest man nicht mehr Die Kartause von Parma , das ist ein Buch für junge Leute. Du kannst es behalten.«

Mit dem Buch unter dem Arm ging er über den Kurfürstendamm. Er nahm an der Kaiser-Wilhelm-Kirche die U-Bahn zu den Linden und stand fasziniert vor dem Hotel Adlon und dem Brandenburger Tor. Noch nie hatte er so viel Harmonie und Schönheit gesehen wie rund um den Pariser Platz. Er ging die Straße Unter den Linden hinunter, an der Neuen Wache, der Oper und dem Zeughaus vorbei über die Brücke zum Schloss und betrachtete mit Ehrfurcht diese Wohnstatt des ehemaligen Kaisers. Am Alexanderplatz mit dem Denkmal der Berolina und dem Grandhotel ging er, noch beeindruckt von dem gestrigen Besuch, in Aschingers Bierquelle und kaufte dort ein Fischbrötchen, trank dazu ein Bier und zahlte dafür nicht mehr als drei Reichsmark.

Während er aß, nahm er sich den Stendhal vor und las begeistert über eine Epoche, in der das Oberste zuunterst gekehrt worden war, und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dies auch in Deutschland passieren würde.

Auch diese Bierquelle war gut besucht. Aber Sebastian ließ sich beim Lesen nicht stören. Auf einmal wurde es still, und er sah auf.

Das Personal machte ernste und beflissene Gesichter. Die Bewegungen wurden noch schneller, ihre Bücklinge beim Bedienen noch tiefer. Der Grund für den gesteigerten Arbeitseifer war ein mittelgroßer Mann im dunklen Anzug, mit weichen Gesichtszügen, leichten Hängebacken und großen, sanften Augen hinter der Nickelbrille. Aufmerksam studierte er die Preise und ging dann hinter die Theke mit den Biersäulen, wischte mit der Hand über den blitzenden Chrom und nickte zufrieden. Dann ging er zur Kaltmamsell, nahm sich ein belegtes Brötchen, klappte es auf und nickte wieder.

»Das ist Aschinger!«, hörte Sebastian am Nebentisch flüstern. Dieser untersetzte Mann mit dem nichtssagenden Gesicht eines Buchhalters war also der Inhaber der vielen Bierquellen, ein Napoleon der Gastronomie. Er hatte schon viel von ihm gehört, gelesen, dass ihm die besten Gastwirtschaften, Restaurants und Hotels in Berlin gehörten. Nichts Großartiges ging von ihm aus. Und doch war es still geworden, man beobachtete ihn verstohlen, als wäre er der Kaiser höchstpersönlich. Ein hochgewachsener Mann im dunklen Anzug folgte ihm dienstbeflissen und mit ängstlichen Augen. Die Miene verriet seine Anspannung. Er schien kaum zu atmen. Offensichtlich der Geschäftsführer.

Aschinger kam nun an den Tischen vorbei und wies stumm auf den Abdruck eines Bierglases. »Jeder Gast muss einen sauberen Tisch vorfinden. Sauberkeit und Hygiene sind die Voraussetzungen, dass sich ein Gast wohl fühlt. Qualität des Essens, Qualität der Bedienung, Qualität der Umgebung sind der Kern der Aschinger-Idee. Deswegen haben wir Spiegel und Kronleuchter wie in einem Schloss«, dozierte Aschinger.

»Selbstverständlich, Qualität ist unsere Idee«, beeilte sich der Geschäftsführer zu flüstern und winkte einem der Bierzapfer zu, der mit einem Handtuch herbeieilte und den Abdruck des Bierglases wegwischte.

»Und natürlich Schnelligkeit«, fuhr Aschinger fort. »Der Gast muss seine kurze Arbeitspause für ein gutes Essen zu vernünftigen Preisen nutzen können.« Aschinger kam an Sebastian vorbei, stutzte, gesellte sich zu ihm und hob das Buch an. »Darf ich? Stendhal? Schön, es liest noch jemand Stendhal in der Mittagspause! Sie sind sicherlich Student.«

»Nein, ich suche Arbeit.«

»Was haben Sie gelernt?«

»Nichts«, gestand er achselzuckend. »Ich bin vom Land.«

»Aber er liest Stendhal, sieh mal einer an! Was lesen Sie sonst noch, junger Mann?«

»Balzac, Dickens, Flaubert und Zola. Aber auch Thomas Mann und Feuchtwanger.«

»Und warum lesen Sie das?«

»Einfach so, ich liebe eben Bücher.«

»Da schau an! Und Sie suchen Arbeit?«

»Ja, ich bin erst gestern nach Berlin gekommen.«

»Ein junger Mann, der in die Stadt Berlin kommt, um sein Glück zu machen. An was erinnert mich das?« Aschinger sah Sebastian fragend an.

»An … an Rastignac?«, stotterte er.

»Jawohl, an den großen Balzac.« Aschinger schürzte nachdenklich die Lippen und wandte sich an den Geschäftsführer. »Brauchen Sie hier nicht noch jemanden? Ich habe so etwas in Erinnerung.«

»Ganz recht, an den Zapfsäulen fehlt uns noch jemand.«

»Na also! Junger Mann, wollen Sie bei Aschinger anfangen? Wollen Sie unseren Gästen dazu verhelfen, sich bei uns wohl zu fühlen?«

»Gern!«, erwiderte Sebastian mit Herzklopfen und wusste über diese überraschende Wende erst einmal nichts weiter zu sagen.

»Bringen Sie dem jungen Mann bei, wie man mit einem Bierhahn umgeht und ein ordentliches Bier einschenkt!«, wandte sich Aschinger wieder an seinen Geschäftsführer und schmunzelte dabei.

»Haben Sie schon einmal in der Gastronomie gearbeitet?«, fragte der Geschäftsführer nach einem vorsichtigen Blick auf seinen Chef.

»Nein«, erwiderte Sebastian ehrlich und fühlte schon seine Chance schwinden.

»Das macht doch nichts!«, fuhr Aschinger dazwischen. »Ich erwähnte doch eben, dass Sie ihn anlernen sollen. Meine Nase sagt mir, dass der Junge etwas taugt.«

Das joviale Gesicht wirkte nun kalt und streng. Ein König vertrug keine Widerrede. Der Geschäftsführer beeilte sich zu versichern, dass er froh sei, so schnell jemanden für seine Arbeit an der Zapfsäule bekommen zu haben, und der junge Mann auch auf ihn einen guten Eindruck mache.

Aschinger nickte huldvoll. »Die üblichen Konditionen: Wir stellen ihn als Hilfskraft ein. Melden Sie es an die Zentrale! Wenn er sich anstellig zeigt, wird er als Angestellter in die Gefolgschaft übernommen.« Noch einmal ein Nicken und ein unwilliger Blick zu dem Tisch hin, der jetzt spiegelblank glänzte, dann ging Aschinger mit einem freundlichen Gruß an die Büfettmamsell aus der Bierquelle.

Der Geschäftsführer wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und sagte unwillig: »Kommen Sie nach hinten, junger Mann!« Sebastian folgte ihm in ein kleines Büro.

»Da haben Sie mir ja was Schönes eingebrockt!«, brummte der Geschäftsführer und warf sich in den Sessel. »So setzen Sie sich doch!«, fügte er hinzu und wies ungeduldig auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Eigentlich brauche ich eine versierte Kraft, aber wenn der Chef es so will, dann wird es eben so. Wissen Sie eigentlich, was für ein Glück Sie haben? Schwidiwatzki noch einmal! Tausende reißen sich um eine Stelle bei Aschinger, und Sie kommen hier rein und lesen einen Schmöker – und schon haben Sie Arbeit! Na schön, Name, Geburtsdatum, Adresse.« Der Geschäftsführer, der sich nun als Paul Dornbusch vorstellte, nahm die Personalien auf. Als Sebastian den Kurfürstendamm angab, sah er erstaunt hoch. »Sie sind wohl doch etwas Besseres? Eigentlich sehen Sie nicht danach aus. Piekfeine Gegend, der Kurfürstendamm. Herr Fritz Aschinger wohnt auch dort.«

»Ich wohne derzeit bei meinem Onkel, Ecke Bleibtreustraße. Und was Besseres bin ich auch nicht.«

»Und das mit dem Schmöker, war das ein Trick?«

»Nein, ich lese wirklich gern.«

»Nun, in Zukunft werden Sie dazu nicht mehr oft kommen. Sie sind morgen Punkt acht Uhr hier und bekommen eine Uniform gestellt, damit Sie manierlich aussehen. Der Dienst geht bis elf Uhr abends, jedenfalls solange Sie Hilfskraft sind. Wenn Sie in die Gefolgschaft übernommen werden, haben Sie um acht Uhr Feierabend. Das wär’s erst mal. Wie Sie sich zu benehmen haben, erkläre ich Ihnen morgen. Mensch, haben Sie einen Dusel!«

Ganz benommen trat Sebastian Lorenz aus der Bierquelle. Erst als er draußen war, fiel ihm ein, dass er noch nicht einmal gefragt hatte, wie hoch sein Lohn war. Da war er noch keine zwei Tage in Berlin, und schon war er bei dem größten Gastronomiekonzern Europas angestellt – nicht von irgendjemand, nicht einmal von einem Personalchef, sondern von dem großen Fritz Aschinger persönlich. Er hatte nun eine Anstellung, und dies war vielleicht erst der Anfang. Auch Jack London hatte klein angefangen. Sebastian sah an seinen Kleidern hinunter und fand, dass diese nicht zu jemandem passten, der dabei war, Berlin zu erobern. Jawohl, er war in die Reichshauptstadt eingezogen und hatte das erste Scharmützel mit Bravour bestanden. Ohnehin schienen ihm die Berliner, wenn sie Arbeit und Geld hatten, sehr viel auf ihre Kleidung zu geben. Er ging am Alexanderplatz ins Warenhaus Hermann Tietz, das dem Polizeipräsidium, einem wuchtigen Backsteinbau, gegenüberstand und wie eine Festung wirkte.

In der Herrenabteilung kam sofort ein junger, elegant gekleideter Mann auf ihn zu und musterte ihn mit skeptischen Blicken. »Sie wünschen, mein Herr?«, fragte er dennoch höflich.

»Ich möchte einen Anzug, etwas Gedecktes, das man auch im Hotel Fürstenhof tragen kann.« Ihm fiel nichts anderes als dieses Hotel ein, um zu erklären, was er sich vorstellte. Hatte er dort doch nur Herren gesehen, die elegante Anzüge trugen. »Dazu brauche ich zwei weiße Hemden und eine Krawatte und … Wäsche«, fügte er hinzu.

»Das sind viele Wünsche. Verstehen Sie mich recht, das wird einiges kosten.«

»Ich habe gerade von Herrn Aschinger gelernt, dass es in allem auf die Qualität ankommt«, sagte Sebastian ein wenig großspurig, um seine Unsicherheit zu kaschieren.

»Von Herrn Aschinger?«, fragte der Verkäufer ironisch lächelnd.

»Der legt natürlich Wert auf Qualität.«

»Ja, ich bin eben von ihm eingestellt worden.«

»Na, dann haben Sie wirklich das große Los gezogen! Aber Qualität kostet nun einmal Geld.«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen!«, erwiderte Sebastian kühl und spielte eine Selbstsicherheit vor, die er nicht hatte. Die gute Mutter! Über Jahre hatte sie sich das Geld heimlich vom Munde abgespart. Was würde sie dazu sagen, wenn er ihren Schatz gleich am zweiten Tag angriff ? Aber wie ein verkrachter Pennäler konnte er hier unmöglich herumlaufen. Er entschied sich für einen dunkelgrauen Flanellanzug, einen Pullover, Hemden, Wäsche und erstand für den Alltag noch ein beiges Jackett sowie eine beigefarbene Hose mit Hemd. Diese Sachen behielt er gleich an. Seine alten Kleider wanderten in die große Einkaufstüte mit der Aufschrift Hermann Tietz. Nachdem er noch ein paar bequeme Schuhe gekauft hatte – die alten sahen gar zu abgetragen zu seiner neuen Kleidung aus –, verließ er das Kaufhaus mit dem Gefühl, nun wie ein richtiger Stadtmensch auszusehen, was ihn insgesamt um 250 Reichsmark ärmer gemacht hatte. Aber ein schlechtes Gewissen hatte er deswegen nicht, war es doch gutangelegtes Geld. Muttchen, es musste sein, sagte er sich.

Als er am Hotel Fürstenhof vorbeiging, kam ihm der Gedanke hineinzugehen, denn er fühlte sich denen, die das Hotel betraten, nun ebenbürtig. Aber eine letzte Scheu hielt ihn davon ab. Am Weinhaus Rheingold in der Bellevuestraße setzte er sich auf die offene Terrasse, um die Wirkung seiner neuen Kleidung auszuprobieren, um festzustellen, ob ihn die Kellner wie einen Herrn behandelten. Er war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Mit vorgetäuschter Kennermiene las er die Weinkarte, und der Ober machte ein diensteifriges Gesicht. Als er ein Glas leichten Moselwein zu zweifünfzig bestellte, machte dieser einen Diener. Es funktionierte also, er war ein Herr. Mit sich zufrieden, beobachtete er die vorbeiströmenden Menschen, die alle so elegant aussahen wie er. Doch er ahnte nicht, dass es nur wenige Straßenzüge weiter Menschen gab, die in nassen Wohnkasernen hausten, deren Kinder hungerten und die mit geflickten und abgetragenen Kleidern in den Schlangen vor den Arbeitsämtern warteten. Menschen, die nie die Chance erhalten würden, in einem Aschinger-Lokal bedienen zu dürfen. Sebastian studierte, wie sich die Reichen, die Müßiggänger und die wichtigen Leute benahmen, wie sie redeten, wie höflich sie miteinander umgingen. Hier auf der Terrasse des Weinhauses Rheingold, von dem er noch nicht wusste, dass es auch dem Aschinger gehörte, schienen ihm viele wichtige Leute zu sein. Alle Tische waren besetzt, und da die Sonne herausgekommen war, herrschte überall eine gelöste Stimmung. Der ungewohnte Wein sorgte dafür, dass auch Sebastian sich in euphorischer Stimmung befand.

»Ist der Platz neben Ihnen noch frei?«, fragte eine weibliche Stimme.

Er sah überrascht hoch, und die Röte schoss ihm ins Gesicht. Das elegante Mädchen war blond und so schön wie die Frauen im Kino, trug einen großen schwarzen Hut, ein dunkles Kostüm und hatte grüne Augen und Sommersprossen auf der Nase, die ihn an die Tochter der Nachbarn Garchke erinnerten.

»Er ist frei. Natürlich«, stotterte er hastig, stand auf und deutete, sich verbeugend, auf den Stuhl. So hatte er es an den anderen Tischen gesehen.

Die junge Frau setzte sich dankend und mit freundlichem Lächeln, und Sebastian half ihr dabei, den Stuhl zurechtzurücken. Dann reichte er ihr die Weinkarte, und sie bedachte ihn mit einem Blick, der ihn verwirrte. Noch nie hatte er so grüne Augen gesehen.

»Können Sie mir einen Wein empfehlen?«, fragte sie, nachdem sie eine Weile unschlüssig die Karte studiert hatte. Ihm fiel auf, dass sie dabei ihre üppige Unterlippe vorschob, so dass es aussah, als würde sie schmollen.

»Ich bevorzuge einen leichten Mosel. Er ist sehr gut.« Er wusste nicht einmal, ob dies stimmte, denn er hatte bisher zu selten Wein getrunken. Der Kellner kam, und sie bestellte nach kurzem Zögern.

»Den Mosel, den Sie dem Herrn serviert haben.«

Der Kellner machte auch bei ihr einen tiefen Bückling.

»Hier im Rheingold haben sie gutes Personal«, sagte Sebastian, als der Kellner gegangen war. Das Herz schlug ihm dabei bis zum Hals.

Sie warf ihm aus ihren grünen Augen einen rätselhaften Blick zu, versuchte wohl zu ergründen, ob es sich lohnte, auf diese Bemerkung einzugehen. Sie musterte seine Kleidung, sein eifriges, offenes Gesicht und entschied sich dann, ihn nicht abzuweisen. Respektabel sah dieser junge Mann immerhin aus. »Ja, natürlich! Schließlich ist es Berlins vornehmstes Weinhaus, ein Aschinger-Haus.«

»Ach so, auch das Rheingold gehört Aschinger?«, fragte er erstaunt. Eigentlich hätte ich mir das denken können, sagte er sich, Aschinger ist nun mal der größte Gastronom Europas.

»Aschinger gehört alles, was in Berlin gut ist. Sie sind wohl neu hier?«

Errötend nickte er. »Ja, ich bin erst gestern angekommen.«

»Zu Besuch?«, fragte sie gedehnt und merklich kühler.

»Nein, ich fange morgen bei Aschinger am Alexanderplatz an.«

»Bei Aschinger? Dann haben Sie aber Glück gehabt! Ich arbeite bei Wertheim in der Konfektion und habe jetzt gerade Mittagspause.«

»Das ist sicher auch eine gute Stellung?«

»Wie man es nimmt. Ich stehe mir den ganzen Tag die Beine in den Bauch, und die Bezahlung ist auch nicht so toll. Darum werde ich mir bald was Besseres suchen. Wohnen Sie noch im Hotel?«

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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
730 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783955521844
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Telif hakkı:
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