Kitabı oku: «Der große Aschinger», sayfa 4

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»Nein, bei meinem Onkel am Kurfürstendamm.«

»Am Kurfürstendamm?«, rief sie erstaunt und riss die Augen auf.

»Welch piekfeine Gegend!«

»Ja, er will mir dort ein Zimmer besorgen.«

Sie schwieg eine Weile und sah ihn dabei so intensiv an, dass er sich ungemütlich fühlte. Das Haar fiel ihr reich und strohblond auf die Schultern. Die grünen Augen irritierten ihn mehr und mehr.

»Ich wohne in Steglitz, gleich bei der Schloßstraße. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen, was in Berlin los ist. Ich heiße übrigens Uschi Venske.« Sie reichte ihm die Hand.

Sebastian stellte sich stotternd vor. Einerseits war er von diesem Angebot überrascht, andererseits schmeichelte es ihm. Dieses wundervolle Wesen schien sich tatsächlich für ihn zu interessieren.

»Gern, es wäre mir ein großes Vergnügen!«, erwiderte er eifrig. So etwas sagte man wohl, wenn man einen solchen Vorschlag von einer Dame bekam.

»Gut. Wie wäre es mit Samstagabend?«

»Ich habe bis elf Uhr abends Dienst.«

»Das macht nichts, ich wollte ohnehin in den neuen Garbo-Film gehen. Treffen wir uns doch kurz nach elf an der Berolina auf dem Alexanderplatz! Doch nun muss ich los, Herr Lorenz, sonst bekomme ich Ärger.« Sie trank hastig ihr Glas aus und stand auf, er erhob sich ebenfalls, nahm ihre Hand und verneigte sich.

»Die Rechnung darf ich übernehmen?«, fragte er hastig, und sie nickte dankend.

»Bis Samstag also!«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick und verschwand im Gedränge.

Wie ein Traumwandler sah er ihr nach. Da war er erst zwei Tage in Berlin und hatte bereits eine Anstellung und ein Rendezvous! Hier auf der Terrasse des Weinhauses Rheingold war Sebastian Lorenz überzeugt davon, dass er dabei war, sein Glück zu machen.

Kapitel 4

»Junge, du legst vielleicht ein Tempo vor!«, sagte der Onkel, als ihm Sebastian am Abend von seiner Begegnung mit Aschinger erzählte.

»Und der große Fritz Aschinger persönlich hat dich eingestellt?«, fragte er ungläubig. »Schwindelst du nicht ein bisschen?«

»Hätte ich sonst so schnell einen Arbeitsplatz bekommen? Wahrscheinlich liebt er Bücher.« Sebastian erzählte, wie das Zusammentreffen abgelaufen war.

Der Kapellmeister schüttelte immer wieder den Kopf. »Vielleicht gehörst du zu den Glückskindern, denen alles in den Schoß fällt.«

Sebastian sagte dazu nichts, denn er hatte bisher nicht das Gefühl gehabt, vom Glück besonders begünstigt worden zu sein.

»Auch ich habe eine gute Nachricht: Die Vermieterin ist einverstanden, du kannst oben die Mansarde haben. Allerdings ist es nicht billig. Sie will dreißig Reichsmark.«

»Können wir uns das Zimmer gleich ansehen?«

Der Onkel nickte und nahm den Schlüssel in die Hand.

Sie mussten zwei Treppen höher steigen. Es war eine dunkle Mansarde mit Stützbalken, die jedoch zwei Fenster hatte – mit einem schönen Ausblick auf den Kurfürstendamm. Die Toilette war sehr eng, aber dies machte ihm nichts aus und auch nicht, dass weder Bad noch Dusche vorhanden war. In Schönberg hatten sie ein Plumpsklo auf dem Hof gehabt. Er würde sich eben am Waschbecken waschen.

»Na ja, für den Anfang geht es doch. Wohn- und Schlafzimmer in einem, da hast du keine langen Wege«, sagte der Onkel schmunzelnd.

»Und Möbel kriegen wir billig beim Altwarenhändler. Aber eine Matratze und Bettzeug wirst du kaufen müssen.«

Stolz betrachtete Sebastian sein Reich. Ihn bekümmerten nicht der Staub und die verwohnten Tapeten. Dieses Zimmer, so ärmlich es aussah, würde ihm gehören. Dies hatte er noch nie sagen können. Er stellte sich schon vor, wie es wäre, hier am offenen Fenster zu lesen, während draußen das Leben des mondänen Berlin pulsierte – und er war mittendrin! Dass er keine Küche hatte, war ohnehin kein Problem, er würde einfach bei Aschinger essen.

»Ich werde morgen der Wirtin sagen, dass du einverstanden bist. Dann kannst du am Wochenende einziehen.« Der Onkel wollte das Licht ausschalten und das Zimmer verlassen.

»Lass mich noch ein wenig hier oben bleiben«, bat Sebastian. Der Onkel nickte verständnisvoll.

Sebastian ging ans Fenster. Auf dem Kurfürstendamm brannten bereits die Laternen. Er machte sich keine Gedanken darüber, dass es in der Mansarde im Sommer sehr heiß sein würde, sondern war ganz gefangen von den Ereignissen, die ihm in den zwei Tagen in Berlin passiert waren. Zwei Tage, in denen er mehr erlebt hatte als in den letzten zwei Jahren in Schönberg. Er sah aus dem Fenster in die Dämmerung, die sich über die Stadt legte und ihr keine Ruhe gab, sondern ihren Puls beschleunigte, und er sah Uschi Venske vor sich mit ihrem reichen blonden Haar und ihrer üppigen Unterlippe, die ihn an eine saftige Erdbeere erinnerte. Er träumte, dass er mit ihr über eine Wiese ging, und sie legten sich unter einen Baum, und es geschah, was er bis dahin nur vom Hörensagen kannte, womit die Älteren auf dem Schulhof geprahlt hatten und was sich dennoch so anhörte, als hätten auch sie nur davon gehört. Unter ihm war das Rauschen des Kurfürstendammes und begleitete seine Träume. Er, Sebastian Lorenz, war bereit, einen reichen Fang aus dieser Stadt zu holen.

Am nächsten Tag stand er bereits eine Stunde vor der Zeit vor der Bierquelle. Sie war noch geschlossen. Er ging vor dem Lokal auf und ab und sah zur Berolina hinüber, an der er sich mit Uschi Venske treffen wollte. Noch musste er auf den Samstag warten. Er wusste nicht, wie es sein würde, und dies machte ihn genauso unruhig wie die Ungewissheit, ob er mit der Arbeit zurechtkommen würde. Er war sich dessen nicht so sicher. Oft genug hatten Vater und Wilfried ihn getadelt, dass er zwei linke Hände habe.

Es war frisch an diesem Morgen, und er fröstelte. Als Paul Dornbusch auftauchte, stutzte dieser und lächelte. »Schwidiwatzki noch einmal, du siehst gut aus! So muss jemand aussehen, der bei Aschinger arbeitet: immer tipptopp. Doch nun wollen wir mal dein neues Himmelreich öffnen.« Der Geschäftsführer klapperte mit dem Schlüsselbund und schloss die Tür auf. Sie gingen hinein, und Dornbusch nahm die Stühle von den Tischen und begutachtete die Tischplatten. Schon trafen die ersten Angestellten ein, ein Zapfer, eine Kellnerin und die Kaltmamsell. Der Zapfer mochte um die fünfzig sein und hieß Fritz Kapinske. Mit konzentrierter Miene überprüfte er sofort die Zapfhähne und ließ etwas Bier heraus. »Hat genug Druck, Chef! Alles in Butter.«

Die Kellnerin, die für das Nebenzimmer und die warmen Mahlzeiten zuständig war, hieß Ingeborg Panke und war groß, dürr und rothaarig und hätte sich mit ihrem ausgezehrten Gesicht auf einem Plakat von Toulouse-Lautrec gut ausgemacht. Die Kaltmamsell stellte sich gleich hinter den Tresen und wischte die Glasvitrinen aus. Sie war bereits Mitte dreißig, eine dralle Person mit frischen, roten Backen und lustigen Augen. Sie hieß Gisela Kloppke und lächelte Sebastian zu, als dieser sie interessiert bei der Arbeit beobachtete. Lachend warf sie ihm einen Lappen zu. »Rumstehen jibts hier nich!«

Sebastian stellte sich neben sie und wischte eifrig die Vitrinen sauber, obwohl diese bereits glänzten.

»Hast es jestern doch jehört: Sauberkeit und Qualität, darauf kommt es an. Wie heeßte denn?«

Er sagte es ihr, und sie schüttelte den Kopf.

»Sebastian Lorenz? Wat is det denn für ’n Name! Nee, so heeßt hier niemand. Ick werde dir einen anderen Namen verpassen. Warte mal …« Sie stemmte die Hand in die Hüfte und musterte ihn von oben bis unten. »Ick hab’s! Ick war jestern in ’ne Urania und hab ’nen Film jesehn, und der Kerl hatte auch so ’n treuherzigen Dackelblick wie du und hieß … Johnny. Ick werde dir Johnny nennen.«

»Quatsch hier nicht so rum, sonst geb ich dir gleich eine Kopfnuss, Schwidiwatzki noch mal!«, rief Dornbusch.

»Ick hab dem Kleenen doch nur ’nen anständigen Namen verpasst«, wehrte sie sich lachend. Sie schien sich nicht so leicht einschüchtern zu lassen.

Vor dem Lokal hielt der Aschinger-Wagen und brachte die frischen Schrippen und belegten Brote aus dem Zentralbetrieb. Die Kloppke nahm die Tabletts und schichtete das Angebot sorgfältig in die Vitrine.

Nun kamen der Koch und eine Küchenhilfe. Dornbusch wies ärgerlich auf die Uhr und mahnte mit dem Zeigefinger. »Das mit euch beiden wird immer schlimmer! Wenn ick det noch mal erlebe, det ihr nich Punkt acht hier seid, dann meld ick det der Personalabteilung. Schwidiwatzki noch mal, der Warmwagen wird gleich hier sein! Spätestens um zehn muss jeder ooch ’ne warme Suppe beim Aschinger kriejen, det wisst ihr doch!« Während sich Dornbusch sonst um ein gepflegtes Deutsch bemühte, fiel er bei Ärger oder Anspannung sofort ins Berlinerische.

»Vor zehn is det noch nie vorjekommen, det eener ’ne warme Mahlzeit wollte!«, murrte der Koch.

»Ick will keene Widerrede, det is nun mal Hausordnung! Ick will hier Disziplin, jawoll, und det mir in der Küche nich wieder rumjequiekt wird. Lass die Finger von der Sattlerschen!«

Die Küchenhilfe, eine blonde Zwanzigjährige mit einem gewöhnlichen, frechen Gesicht, aber wohlgeformten Beinen, zischte: »Er macht jar nüscht! Immer müssen Se uff uns rumhacken. Wir von der Küche sind die reinsten Nejer.«

»Quatsch nicht, rein ins Kabuff!«, grollte Dornbusch.

Schon drängten die ersten Kunden herein, und die Kaltmamsell hatte gleich viel zu tun. Während Fritz Kapinske die ersten Biere in die Gläser laufen ließ, erklärte er Sebastian mit großem Ernst, wie vorsichtig der Hebel an der Zapfsäule herunterzuziehen war und wie oft er das Glas nachfüllen musste.

»Lass et laufen, janz ruhig laufen! Und achte mir daruf, dass jedes Glas ’ne schöne Schaumkrone hat! Wenn et keen Schaum hat, denken de Leute, det is Pisse und keen Pschorr, Schultheiss oder Kindl. Lass et laufen, janz ruhig!«

Es war keine Wissenschaft, und Sebastian hatte zu seiner eigenen Überraschung den Bogen bald raus. Zuerst reichte er noch ein wenig zittrig das Bier über die Theke, aber als dann der große Ansturm in der Mittagszeit kam, glaubte er, sich ganz gut anzustellen. Im Gegensatz zu Fritz Kapinske, der nur stur hinter seinem Zapfhahn blieb, sprang Sebastian auch der Kaltmamsell bei, was ihm von dieser dankbare Blicke eintrug. Da er auch ins Warmzimmer lief und dort beim Geschirrabräumen half, sich also überall nützlich anstellte und lerneifrig zeigte, unterließ man es, darüber zu stöhnen, dass man den Frischling anlernen musste.

Seinen Vornamen verlor er bereits am ersten Tag. Von nun an hieß er bei allen nur Johnny. Er spürte gar nicht, wie der Tag verging, und als die Abendgäste kamen, war er so weit, dass er das Bier wie ein altgedienter Kneipenwirt ausschenkte und dabei jeden Gast mit einem Lächeln belohnte, was Paul Dornbusch ein wohlwollendes Brummen entlockte. Aber noch hielt er sich mit Lob zurück, war geradezu misstrauisch, ob sich dieser Eifer nicht als Strohfeuer erweisen würde. Zu oft hatte er erlebt, dass ein Frischling an den ersten Tagen arbeitete, als würde ihm Aschinger gehören, um dann abzuschlaffen, wenn er erst einmal fest angestellt war. Nein, man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Erst am Ende der Woche glaubte er, mit Johnny tatsächlich einen guten Fang gemacht zu haben, und schrieb in den Beurteilungsbogen ein Gut , obwohl auch ein Sehr gut nicht übertrieben gewesen wäre. Aber das war Paul Dornbusch dann doch des Lobes zu viel.

Am Freitagnachmittag nahm sich Sebastian zwei Stunden frei, um sich beim Altwarenhändler Steinke in Berlin-Kreuzberg ein metallenes Bett, einen Schrank, einen gar nicht mal schlecht aussehenden kleinen Schreibtisch sowie einen Stuhl und einen verschossenen Sessel zu kaufen. Die Matratze und das Bettzeug kaufte er bei Tietz. Damit hatte er dem Schatz der Mutter gehörig Gewalt angetan. Die beiden Freistunden musste er natürlich abarbeiten, und deswegen war er am Freitag der Letzte, der mit Dornbusch das Lokal verließ. Er war abends todmüde, aber es machte ihm nichts aus, mehr noch, er war glücklich, denn zum ersten Mal beanstandete niemand seine linken Hände.

Am Samstagabend war er besonders fix, und dies fiel den anderen auf, zumal er dauernd auf die Uhr sah, und sie zwinkerten sich zu.

»Na, Johnny, du hast wohl heute noch etwas vor?«, brummte Kapinske gutmütig.

»Ja, eine Verabredung«, sagte Sebastian mit einer Miene, als würde er sich im Fürstenhof mit einem Ufa-Star treffen.

»Sieh mal einer an, eine Woche in Berlin und schon eine Verabredung!«, sagte die Panke, ihre Mundwinkel zogen sich noch tiefer herunter, und sie seufzte. »Ach, so jung müsste man noch mal sein!«

»Junges Blut will sich austoben!«, sagte Dornbusch grinsend. »Ick war jenau so. Schwidiwatzki noch mal, wenn man jut jearbeitet hat, braucht man ooch een bissken Freude.«

»Bist wohl een kleener Casanova!«, rief die Kloppke mit einem Flunsch rüber. »Pass nur uff, Johnny, det de nich unter de Räder kommst!«

»Wie isse denn?«, fragte Kapinske. »Hat se ordentlich Holz vor de Tür wie unsere Kloppke?« Er deutete mit den Händen an, was er meinte.

Die Kloppke schnaubte. »Ferkel! Wat jeht dir meen Busen an?«

»Verdirb den Jungen nicht!«, mahnte die Rothaarige zu Kapinske hinüber.

»Och, der Junge ist helle. Wenns so weit is, wird er schon kapieren, det man rechtzeitig die Kurve kriejen muss«, wehrte sich dieser und stellte die ausgespülten Gläser ins Regal.

»Männer!«, schnaubte die Rothaarige. »Eener wie der andere – allet Schweinehunde.«

Sebastian hatte bei dieser Unterhaltung rote Ohren bekommen. Um Punkt elf ließ man ihn gehen, obwohl noch ausgewischt und die Stühle auf die Tische gestellt werden mussten. Er lief zur Berolina hinüber. Aber von Uschi Venske war nichts zu sehen. Unruhig ging er auf und ab. Wenn sie nun nicht kam? Er fühlte, wie seine Hände feucht wurden. Zum ersten Mal hätte er gern eine Zigarette geraucht. Da kam ein Schatten von Tietz herüber. Er atmete auf.

»Da sind Sie ja!«, sagte Uschi Venske und gab ihm die Hand.

Er hatte in der Bierquelle auf der Toilette die Kleider gewechselt und die Aschinger-Uniform gegen seinen Flanellanzug mit weißem Hemd und Krawatte eingetauscht. Sie musterte ihn, als müsse sie noch einmal überprüfen, ob es richtig war, sich mit ihm zu treffen.

»Der Anzug steht Ihnen wirklich gut«, sagte sie anerkennend.

»Auch Sie sehen toll aus«, sagte er, und dies war nicht nur eine dahingesagte Höflichkeitsfloskel. Sie trug ein rosafarbenes Satinkleid, das eng anlag und ihre Brüste betonte, und auf ihrem Goldhaar thronte ein kesses kleines Hütchen in der gleichen Farbe. Er fand sie so schön wie die Stars auf den Filmplakaten.

»Wo gehen wir denn hin?«, fragte sie und schob die Unterlippe vor.

»Keine Ahnung. Sie wissen ja, ich bin noch nicht lange hier«, erwiderte er verlegen.

»Dann gehen wir ins Dixieland, gleich in der Nähe«, schlug sie vor. Ihre Frage war wohl rein rhetorisch gewesen. Woher sollte er schon wissen, wohin man in Berlin an einem Samstagabend ging! »Da wird ein prima Jazz gespielt. Jazz wie in New Orleans!«

»Jazz?«

»Sie wissen nicht, was Jazz ist?«

»Nein, bei uns zu Hause gibt es keine solchen Lokale«, gestand er beschämt. Er wusste nicht einmal, welche Lokale es in Neuruppin gab. In Schönberg hatten sie nur eine Kneipe und in Lindow nur die Ausflugslokale am See.

Das Dixieland hatte als Neonreklame einen Trompeter über dem Eingang, deren Licht in immer gleichem Rhythmus aus- und anging. Ganz Kavalier, zahlte er am Eingang für sie beide zwei Reichsmark Eintritt. Das Lokal war brechend voll. Auf der Bühne stand ein Solist, der mit vollen Backen in seine Trompete blies. Die Band hinter ihm hob und senkte im gleichen Rhythmus die Instrumente. Sebastian und seine Begleiterin drängten sich zu einem Tisch durch, an dem noch zwei Plätze frei waren. Die Musik nahm ihn sofort gefangen. Der Trompeter kündete das nächste Stück an: When the Saints go marching in.

Alles johlte begeistert, und die Musiker legten los, als wären sie in New Orleans beim Mardi Gras. Auf der Tanzfläche bewegten sich die Pärchen, als würden sie einen Marterpfahl umtanzen. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Er bestellte ein Bier für sich und für Uschi Venske, nach einem fragenden Blick, einen Likör.

»Ist das nicht tolle Musik?«, schrie sie ihm zu.

Bei dem Lärm war keine andere Art der Verständigung möglich. Es roch nach Schweiß und Bier und anderem, was er nicht definieren konnte. »So was habe ich noch nie gehört!«, gestand er.

Das war doch etwas anderes als die Märsche, die Vater und Wilfried immer im Radio aufgedreht hatten. Er wusste, dass es außer Blasmusik auch Walzer, Tango und Foxtrott gab, aber eine solche Musik kannte er bisher nicht.

»Wollen wir tanzen?«, fragte sie und deutete auf die sich windenden Paare.

»Ich kann nicht tanzen«, entgegnete er unglücklich.

»Jeder kann Jazz tanzen!«, sagte sie und zerrte ihn auf die Tanzfläche.

Ungeschickt versuchte er, so wie sie mit den Füßen zu schlenkern und seine Partnerin im Bogen um sich herumzuführen. Anfangs gelang ihm dies nicht besonders, und er rempelte andere Tanzpaare an.

»Wat haste denn da für een Landei aufjejabelt, Uschi?«, schrie ein gutaussehender Tänzer, der wie ein Derwisch hin und her hüpfte.

»Lass man, Klaus, das lernt er noch allemal!«

Und damit hatte sie recht. Je mehr Tänze er mit ihr machte, desto besser konnte er sich dem Rhythmus anpassen.

»Na also«, sagte sie schließlich, »ich wusste doch, dass Sie das können! Jeder kann es.«

Als dann der Basin Street Blues gespielt wurde, tanzten sie ganz langsam, und er spürte, dass sie ihm mit dem Becken entgegenkam. Er bekam eine Erektion und wollte von ihr abrücken, weil ihm dies peinlich war.

»Bleib hier, das ist schon in Ordnung«, hauchte sie ihm ins Ohr und schob ihr Knie nach vorn. Ihre Schenkel hörten nicht auf, gegen sein Geschlecht zu drücken, lösten sich von ihm und drückten wieder und wieder. Sie rieb sich an ihm so heftig, dass ihr Atem schneller ging und sie ein rotes Gesicht bekam.

»Wir sollten das dumme Sie lassen. Ich heiße Uschi«, keuchte sie in sein Ohr und drückte sich gegen ihn. Er entlud sich in die Hose und rückte von ihr ab, doch sie zog ihn an sich heran. »Das macht doch nichts, du hast mich eben gern.« Er wusste nichts darauf zu sagen, und sie streichelte seinen Hinterkopf. »Ist ja gut, mein Sebastian. Für mich ist es auch schön gewesen.«

Ihre Bemerkung war nicht dazu angetan, seine Verlegenheit zu mindern. So offen sprach man zu Hause nicht über diese Dinge, und er war froh, als der Tanz zu Ende war und sie ihre Plätze einnehmen mussten. Er entschuldigte sich und ging auf die Toilette und reinigte sich. So etwas war ihm noch nie passiert. Bisher hatte er sich schon geschämt, wenn er die Folgen eines feuchten Traums mit dem Handtuch beseitigen musste, in der Hoffnung, dass die Mutter nicht zu früh die Betten machte und die Folgen erotischer Träume entdeckte. Aber sie hatte nie etwas gesagt.

Als er zurückkam, sah er diesen Klaus neben Uschi stehen und beide in ein intensives Gespräch verwickelt. Es gefiel ihm nicht, wie sie sich dabei ansahen. Genauso lockend und herausfordernd hatte sie ihn vorhin auch angesehen. Er gestand sich ein, dass er den gutaussehenden jungen Mann mit seinem Mittelscheitel nicht mochte. »Da bin ich wieder«, sagte er hilflos, als er sich auf den leeren Stuhl neben ihnen fallen ließ.

»Also, dann mach et jut! Es bleibt dabei, in Ordnung?«, sagte Klaus und sah Sebastian herausfordernd an, lachte verächtlich und ging.

»Was wollte der denn? Kennst du ihn gut?«, fragte er hastig.

»Nichts wollte er!«, erwiderte sie kurz. Als sie sein verstörtes Gesicht sah, fügte sie schnell hinzu: »Na jut, wir waren mal zusammen.

Aber das ist aus, du brauchst nicht eifersüchtig zu sein. Für so einen, der noch nicht mal eine richtige Arbeit hat, bin ich mir zu schade.«

Sebastian war erleichtert. Zwar gefiel ihm nicht ihre Begründung, aber er war doch froh, dass dieser attraktive und ältere Mann keine Gefahr für ihn war. Trotzdem ging ihm das »Es bleibt dabei« nicht aus dem Kopf, aber er wagte nicht zu fragen, wobei es blieb. Später begleitete er Uschi mit der letzten S-Bahn nach Steglitz. Sie stiegen an der Schloßstraße aus, und sie führte ihn zu einem großen Wohnblock in der Zimmermannstraße.

»Hier wohne ich, oben im zweiten Stock«, sagte sie an der Haustür, zog ihn an sich und küsste ihn. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass man dazu den Mund aufmachen musste, und sie wühlte mit ihrer Zunge wie ein Quirl in seiner Mundhöhle, und er bekam wieder eine Erektion.

»Soll ich dir Befriedigung verschaffen?«, fragte sie sanft und zog ihn in die Ecke der Haustür, öffnete seinen Hosenschlitz, holte sein Glied heraus und streichelte es routiniert.

Noch machte er sich keine Gedanken darüber, wie selbstverständlich und gekonnt sie dies tat. Er keuchte bald, küsste sie und stammelte: »Es ist so schön, Uschi. Ich liebe dich!«

»Warne mich, bevor du kommst, und spritz mir das Zeug nicht auf das Kleid! Hast du verstanden?«

Als er merkte, dass er so weit war, wandte er sich schnell ab und entlud sich gegen die Hauswand. Sie streichelte seinen Kopf.

»Na siehste, Sebastian, jetzt fühlst du dich besser!«, flüsterte sie.

»Beim nächsten Mal darfst du bei mir auch ein bisschen spielen«, versprach sie, was ihn erneut erregte, und er legte die Hände auf ihre Brüste, aber sie stieß ihn sanft weg. »Nein, mein Lieber, schön langsam mit den jungen Pferden! Ich muss jetzt hoch, sonst haut mich Vater windelweich.«

Sie verabredeten sich für den nächsten Samstag, und für den langen Weg bekam er noch einen Kuss mit, der feucht und so gequirlt war wie die vorausgegangenen und für das nächste Treffen einiges versprach. Da keine S-Bahn mehr fuhr und er sich die Kosten für ein Taxi sparen wollte, hatte er einen langen Fußmarsch vor sich. Erst fiel es ihm leicht, da er an die Küsse dachte und an ihre Hand an seinem Glied. Doch je länger der Fußmarsch dauerte, desto mehr beschäftigte ihn, was dieser Klaus gesagt hatte: »Es bleibt dabei, in Ordnung?« Und nun erinnerte er sich, dass sie dazu genickt hatte, und es kam ihm der Gedanke, dass sie mit dem genau das Gleiche getan hatte wie mit ihm. Aber ihre Küsse zeigten doch, dass sie nun ihn liebte. Und wenn doch nicht? Er versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen, und war sehr verwirrt, als er im Morgengrauen am Kurfürstendamm eintraf.

Am Sonntag ließ er es langsam angehen und rückte seine Möbel zurecht, die man am Samstag angeliefert und die der Onkel in Empfang genommen hatte. Er fand, dass er nun ein gemütliches Heim hatte, und war stolz auf sein kleines Reich. Am späten Nachmittag ging er auf den Kurfürstendamm und setzte sich bei Kempinski auf die Terrasse und trank Berliner Weiße mit Schuss. Es war ein schöner, fast sommerlicher Frühlingstag, und die Berliner strömten in ihren besten Kleidern durch die Straßen, um den Frühling zu begrüßen. O ja, die Städter wussten sich herauszuputzen, und er war froh, dass er sich als Erstes mit Kleidung versorgt hatte, die ihn nicht wie ein Landei aussehen ließ. Die Bemerkung von diesem Klaus hatte doch geschmerzt. Er hatte schon mitbekommen, dass die Berliner auf alle, die nicht aus Berlin waren, mit ein wenig Verachtung herabsahen. Wenn man in dieser Stadt zurechtkommen wollte, musste man die Spielregeln kennen.

Auch im Café Kempinski erkannte er die Unterschiede: Die Reichen gingen höflicher miteinander um, hatten bessere Manieren und berlinerten zwar im Tonfall, sprachen aber grammatikalisch richtiges Deutsch. Er erkannte, dass die Sprache ein Herkunftsausweis war, und nahm sich vor, die berühmte Berliner Kodderschnauze nicht zu imitieren. Er bewunderte also die Frauen in ihren weißen fließenden Kleidern, die großen Hüte mit den Blumen darauf und die Lockerheit der Paare untereinander. Die Männer, die im Café Kempinski saßen, erschienen ihm alle sehr weltmännisch. Ihm war nicht bewusst, wie sehr er sich in dieser ersten Woche bereits verändert hatte. Es war, als hätte man einen Deckel vom Topf genommen oder ihn von Fesseln befreit.

Am Abend ging er hinunter zu seinem Onkel, der ihm eine Klaviersonate von Brahms vorspielte. Dies behielten sie nun lange Zeit bei, und so bekam er von dem Kapellmeister eine Welt zu hören, die er bis dahin auch nicht gekannt hatte. Nach einem Vierteljahr konnte er mit Fug und Recht sagen, dass er sich als Berliner fühlte. Jeden Samstag traf er sich mit Uschi Venske, und sie tat jedes Mal zum Schluss das, was sie beim ersten Mal getan hatte, ließ sich auch von ihm ihre nackten Brüste streicheln und führte dann seine Hand unter ihr Kleid an ihr Höschen und ließ sich dort reiben, aber wenn er den Stoff beiseiteschieben wollte, entzog sie sich ihm.

»So eine bin ich nicht. Ich bin ein anständiges Mädchen.« Sie stieg deswegen nur noch mehr in seiner Achtung, und er war sich sicher, sie zu lieben.

Mittlerweile kannte Sebastian alle Jazzclubs in Berlin und die Namen der wirklich großen Jazzer wie Louis Armstrong, King Oliver und Bix Beiderbecke im fernen Amerika, und natürlich beherrschte er das »Hotten«, den richtigen Dreh beim Tanzen, und machte dies nicht schlechter als die anderen. Am Sonntag ging er mit Uschi zum Tanztee unter dem Funkturm, wo auch deutsche Kapellen fetzigen Jazz spielten.

Seine Arbeit machte ihm immer noch Spaß, und da er in seinem Eifer nicht nachließ, schickte der Geschäftsführer der Bierquelle weiterhin gute Bewertungen über den hoffnungsvollen jungen Mann an die Zentrale. Ende Juli flaute das Geschäft ab, und Paul Dornbusch machte ein unzufriedenes Gesicht. »Schwidiwatzki, sind denn alle Berliner in Urlaub gegangen?«

Sie standen oft untätig herum und langweilten sich. Auch Sebastian zerbrach sich den Kopf, wie man das Geschäft beleben konnte. Als er sah, wie sich vor Wertheim beim Sommerschluss die Menschen drängten, kam ihm die Idee, wie man auch bei Aschinger das Geschäft beleben konnte – eine Idee, die nicht ohne Folgen für ihn bleiben sollte …

»Machen wir doch Aktionswochen!«, schlug er Dornbusch vor.

»Was meinste denn?«, fragte dieser und sah unwillig von dem Tisch auf, den er gerade abwienerte, als wolle als Nächstes der Kaiser aus seinem Exil in Doorn seine Bierquelle beehren. »Wir sind doch gut, billig und schnell, das weiß doch jeder!«

»Wir müssen die Kundschaft darauf stoßen, dass es bei uns immer etwas Neues gibt und es sich immer lohnt, bei uns vorbeizuschauen. Wir machen eine Fischwoche, eine Wildwoche, eine Gänsewoche oder eine Hühnchenwoche.«

»Unser Kleener!«, staunte Gisela Kloppke am Büfett. »Nun hör sich det eener an!«

»Gar nicht so dumm, Schwidiwatzki noch mal!«, brummte Dornbusch anerkennend. »Ick werde mal mit der Zentrale reden, ob die uns für eine Geflügelwoche was zusammenstellen können.«

»Wir könnten ein Plakat ins Schaufenster hängen mit der Aufschrift Gänsewoche bei Aschinger , und draußen stellen wir eine Staffelei mit unserem täglichen Angebot auf.«

»Unser Kleener!«, rief die Kloppke stolz.

Es geschah, wie Sebastian vorgeschlagen hatte. Doch an den beiden ersten Tagen tat sich nicht viel. Zwar wurde die »Junge Gans aus Polen mit Grünkohl« zu drei Reichsmark von den Stammgästen gut angenommen, aber das Publikum war nicht viel zahlreicher. Als Dornbusch schon begann, Sebastian missmutige Blicke zuzuwerfen, und dabei murrte, dass dies wohl ein Schuss in den Ofen gewesen sei und er sich bei der Zentrale wohl blamiert habe, wirkte endlich die Mundpropaganda. Sie verlängerten die Aktion um eine weitere Woche und steigerten den Umsatz um fünfzig Prozent.

Es war an einem Samstag, als wieder einmal im Lokal alles still wurde, die Angestellten eifrige Gesichter machten und sich noch schneller bewegten. Fritz Aschinger erschien. Erst stand er nachdenklich vor der Bierquelle und las das Schild, dann stürmte er herein und winkte Dornbusch zu, ihm ins kleine Büro zu folgen.

»Sie haben da eine gute Idee gehabt. Wir werden diese Aktionswochen nun überall in unseren Bierquellen durchziehen«, lobte er seinen Geschäftsführer. »Sie können mit einer ordentlichen Prämie rechnen. Ich mag es, wenn jemand selbst die Initiative ergreift. Diese Bierquelle liegt sechzig Prozent über den anderen. Sie haben mit Abstand die Spitze übernommen. Meine Gratulation!« Die Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten begeistert. »Gerade jetzt brauchen wir solche Erfolge! Die Umsätze sind seit zwei Jahren rückläufig. Den Leuten geht es halt schlecht, und die Arbeitslosenzahlen nehmen immer noch zu. Es kommen auch kaum noch Touristen nach Berlin. Sie dagegen haben gezeigt, dass man aus dem Teufelskreis ausbrechen kann. Ich bin sehr zufrieden. Noch mehr solche Ideen, Herr Dornbusch!«

»Es war nicht meine Idee«, gestand Paul Dornbusch, der ein zu ehrlicher Kerl war, um für sich allein die Meriten einzustreichen. »Es war der verflixte Junge!«

»Was für ein Junge?«

»Sie haben ihn selbst eingestellt.«

»Etwa der Bücherwurm?«

»Ja, unser Johnny.«

Aschinger kniff die Augen zusammen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Dachte ich es mir doch! Wer mit Stendhal herumläuft, an dem muss etwas dran sein. Her mit dem jungen Mann!«

Dornbusch lief hinaus und winkte Sebastian aufgeregt zu, in sein Büro zu kommen. Zögernd betrat Sebastian das kleine Zimmer neben der Küche.

Aschinger musterte ihn und reckte den Kopf. »Du also hattest die Idee mit den Aktionswochen. Wie stellst du dir das weiter vor?« Leicht nervös erklärte Sebastian seine Idee: »Die Aktionswochen könnten vielleicht noch erfolgreicher sein, wenn sie zusätzlich mit Annoncen angekündigt und begleitet werden.«

»Sieh mal an, unser Bücherwurm! Ja, die Idee ist nicht schlecht. Wie macht sich der junge Mann sonst?«

»Gut«, sagte Dornbusch zögernd. »Nun ja, vielleicht kann man ihm sogar ein ›Sehr gut‹ geben. Er ist eifrig, intelligent, höflich und flink.«

»Schön, schön. Du meldest dich morgen in der Zentrale in der Friedrichstraße. Ich kann einen fixen jungen Mann als Mädchen für alles bei mir gebrauchen. Wenn du dich gut anstellst, wirst du mein Assistent.«

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23 aralık 2023
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