Kitabı oku: «Das Mädchen und die Nachtigall», sayfa 2

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Bei der folgenden Haltestelle, der von Ria, knöpfte diese ihren Mantel zu, nahm ihre Handtasche und machte mir ein Zeichen, mich bereitzuhalten. Die anderen Reisenden taten es ihr gleich und ich fragte mich, ob sie über alle diese Leute verfügte, ob der Himmel mich unter den Schutz einer Familie gestellt hatte, die sich gegenüber allen durchsetzte. Es gab einen kleinen Ruck, der Zug blieb stehen und die Leute folgten uns auf den Bahnsteig.

Dieser Bahnhof war weit weg von allem, er lag verlassen auf einer kleinen Hochebene, die von hohen Felsen umgeben war. Es war kaum vier Uhr nachmittags und die Dunkelheit brach über den Vorplatz herein, die Sonne erhellte nur noch ein Stück Felsen ganz oben auf den Bergen. Ein feuchter und kühler Wind wehte in der Talmulde, und ich zitterte in meinem abgenutzten Mantel. Doch es war nicht der Moment, sich gehen zu lassen: Ich umklammerte den Griff meines kleinen Koffers, biss entschlossen die Zähne aufeinander und folgte Madame Puech auf der Straße, die vor dem Bahnhof begann. Sie führte auf einer Steinbrücke über einen Fluss, den der Zug mehrere Male überquert hatte.

»Die Têt, hörst du?«, sagte Madame Puech, ohne stehen zu bleiben, und wandte sich ausschließlich der Strömung zu.

»Die Têt«, wiederholte ich und bemühte mich, mir dieses neue Wort einzuprägen.

Frauen und Männer waren vor und hinter uns auf der Brücke unterwegs, bogen am Ende rechts ab und gingen an einer Steinmauer entlang, die von der Böschung hinaufragte. Ich erkannte einige Reisende aus unserem Abteil wieder, entdeckte aber auch Frauen in Schürzen und Arbeiter in Latzhosen, die ich weder im Zug noch auf dem Bahnsteig gesehen hatte. Waren das Bauern? Oder Eisenbahner, die von ihrer Arbeit zurückkehrten?

All diese Leute redeten, pfiffen, machten Späße, grüßten meine Chefin, und ich zitterte. Vor Kälte und von der quälenden und sich immer wiederholenden Erinnerung an den Aufstieg nach Perthus unter den Schusssalven der nationalistischen Luftwaffe. Ich zitterte wegen der feuchten Kälte, die vom Fluss her aufstieg, und der Kälte, die diese Bilder in meiner Seele hervorriefen. Und zwar gegen meinen Willen. Im Gegenteil, ich bemühte mich, den Gesprächen um mich herum zu folgen, die Vorfreude an diesem Weihnachtsabend zu teilen. Aber immer tauchten dieselben Szenen wieder auf: der überstürzte Aufbruch im Feuerschein, die Leichen von Papa und Mama, das Blut an den Mauern und auf dem Straßenpflaster. Es war stärker als ich.

Ich versuchte meine Gedanken wieder auf Bilder von schönem Feuerschein in einer Küche und von warmem Brot auf Regalen in einer Bäckerei zu lenken, doch das Grauen setzte sich durch, und mir wurde langsam schlecht. Schließlich ging ich auf die Mauer zu, an der wir entlangliefen, und ließ mich an ihr hinuntersinken, mit dem Rücken gegen den Stein. In diesem Augenblick, ja, da hätte ich gewollt, dass alles aufhört und dass Gott mich zu sich nimmt, zu den meinen.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte eine Frau und kam zu mir.

»Die Kleine hier fühlt sich nicht wohl«, sagte eine andere direkt neben mir.

»Du, misch dich da nicht ein«, entgegnete Madame Puech, ohne sich deshalb um mich zu kümmern.

Sie war vom Bahnhof an zusammen mit einer Frau ihres Alters und Ranges gelaufen, die wie sie in einen halblangen dunklen Mantel gehüllt war. Sie trat ein wenig auf der Stelle, als sie mein Unwohlsein bemerkte, machte jedoch keine Anstalten, mir zu Hilfe zu kommen, und ich konnte ihr nicht böse sein: Jeder an ihrer Stelle hätte sich dieses Schmutzfinks geschämt, der die Leute verjagen würde und vielleicht völlig unfähig war, eine Faulenzerin, eine Diebin, wer weiß, die vielleicht eher begabt dafür war, ihre Hand in die Kasse zu stecken, als Brot einzuwickeln und die Kunden freundlich zu bedienen. Ich verstand ihre Worte nicht, aber ihre verstohlenen Blicke und ungeduldigen Gesten bedurften keiner Übersetzung.

Es gelang mir, wieder aufzustehen, zu ihr zu gehen, und als ich sie eingeholt hatte, sah ich durch das Geäst, das vom Flussufer aufragte, die lange hellgraue Stadtmauer. Es war dasselbe leicht rosafarbene Hellgrau wie bei dem Felsen am Engpass, der Schutzmauer am Fluss, dem Brückenbogen unterhalb des Bahnhofs. Eine lange grau-rosa Mauer, von ihrem Schieferdach durch den schwarzen Streifen einer Galerie förmlich getrennt, von zwei Türmchen flankiert und ungefähr in der Mitte von einem Tor durchbrochen, dessen stark ausgearbeitete Details die schreckliche Nüchternheit des Ganzen noch betonten.

Mit jedem Schritt wurde das Bauwerk größer und nahm einen immer umfangreicheren Teil meines Blickfeldes ein, und im selben Maß wuchs meine Furcht. Als ein Auto über eine der Steinbrücken fuhr, fiel sein Scheinwerferlicht für kurze Zeit auf das Mauerwerk. Dein neues Gefängnis, sagte ich mir, als das Licht verschwand, von dem dunklen Loch des Tors verschluckt. Ich schaute noch eingehender hin. Die Mauer kam mir gigantisch vor, das Tor winzig klein, der Abgrund am Fuß der Bastion von einer unglaublichen Tiefe.

»Der Fluss Cady«, sagte Madame Puech und wandte sich mir ein wenig zu.

Ich folgte ihr in das Dunkel des Tores und sagte mir, dass ich nun von einem Lager in das nächste kam, das noch furchterregender war als das erste und dessen Türen sich augenblicklich hinter mir schließen würden. Wir befanden uns direkt an der Stadtmauer; ich erriet im Halbdunkel der hereinbrechenden Nacht die Einzelheiten des Mauerwerks und wurde immer mehr von einer dumpfen Angst erfüllt.

»Versuch, dich zu benehmen«, murmelte sie, als wollte sie meine Sorgen bestätigen.

Es war das erste Mal, dass ich in eine solche Festung kam, und ich fragte mich, ob sich der Zug von Perpignan nicht in der Zeit zurückbewegt hatte, um uns am Tor zu einer anderen Welt abzusetzen. Was war das für eine Stadtmauer? Fand das Leben nur innerhalb dieser Mauern statt? Aber die Menschen mussten doch auf ihre Felder. Wo brachten sie ihre Tiere und ihre Ernte unter? Fragen stürzten auf mich ein, aber ich hätte mich nie getraut, sie Madame Puech zu stellen. Denn ich wollte nicht dumm wirken und auch nicht die Bedrängnis vergrößern, in der sie sich offensichtlich seit dem Verlassen des Bahnhofs befand und die ich mir eigentlich nicht erklären konnte. Hatte ich einen Fehler begangen, ohne es zu merken? War sie, als sie mich während der Zugfahrt beobachtete, zu der Ansicht gekommen, dass ich nicht die von ihr erhofften Qualitäten besaß?

»Die Porte de France«, sagte sie, als wir in diesen Tunnel hineingingen, der auf mich wie das Maul eines Drachens wirkte.

»Die Porte de France«, wiederholte ich und betrachtete die bedrohlichen Spitzen des Fallgitters, die riesigen Glieder der Kette und die großen Holzräder des Laufwerks.

Hinter dem Tor lag ein Platz, in seiner Verlängerung eine Straße und eine weitere rechterhand ganz am Ende des Platzes. In diese Richtung wendete sich Madame Puech. Sie ging plötzlich sehr schnell und erwiderte kaum den Gruß der Leute. Es wurde immer dunkler, die Fenster in den Stockwerken der Häuser wurden erleuchtet, eine Frau verließ mit einem Baby auf dem Arm ihr Haus, schloss die Fensterläden und summte dabei unaufhaltsam vor sich hin. Madame Puech bog in die Straße am Ende des Platzes ein, stieß eine Glastür mit dem Ladenschild der Bäckerei auf, und ich begriff, dass wir angekommen waren.

»Ist alles bereit, Arlette?«, wandte sie sich ohne Begrüßung an die Person hinter dem Ladentisch.

»Es ist alles bereit, Madame. Wir haben zwei Kessel, die zusätzlich erhitzt werden können, für alle Fälle.«

Arlette gab einem kleinen Mädchen das Wechselgeld heraus. Dann waren noch zwei ältere Männer im Laden, in schwarzen Cordhosen und dunklen Jacken. Der kleinere von ihnen hatte eine Wollmütze auf dem Kopf. Sie drehten sich zu uns um und betrachteten mich schweigend, wie man etwas Seltsames anschaut. Auch im Zug und auf dem Weg zum Bahnhof hatten mich die Menschen gemustert, jedoch flüchtig und wie im Vorbeigehen. Seit wir die Porte de France durchschritten hatten, war es anders: Die Blicke richteten sich gezielt auf mich, musterten mich von oben bis unten und wanderten dann zu Madame Puech, als forderten sie von ihr Rechenschaft. Wer war diese Fremde, dieses schmutzige Wesen, das ihr wie ein Schatten folgte? War es eine gute Idee, ein Mädchen, dessen Eltern keiner kannte, in die eigenen Mauern hereinzulassen? Ich sah mich mit ihren Blicken und schämte mich. Schämte mich meiner fleckigen Kleider, meines zerlöcherten Mantels. Schämte mich meiner nackten Füße in meinen zerschlissenen Schuhen.

Ich verstand den Sinn des Gesprächs mit Arlette erst, als ich Madame Puech auf den Fersen in das folgte, was die Backstube sein musste. An der Wand entlang standen Arbeitstische bedeckt mit Zinkplatten, ein Backtrog und ganz hinten Jutesäcke. All das war von weißem Staub bedeckt. In der Mitte des Raumes stand ein großer, dampfender Holzzuber auf dem Boden, ein Badehandtuch lag auf einem Stuhl, und über der Lehne hingen saubere Kleider.

»Komm!«, sagte sie zu mir und zog ihren Mantel aus. Sie schnürte eine große Schürze, die an einem Haken gehangen hatte, um ihre Hüften und krempelte die Ärmel ihrer Bluse bis zu den Ellenbogen hoch. Dann beugte sie sich über den Zuber und griff nach dem Schwamm darin.

»Nun!«, wandte sie sich noch einmal an mich und drehte sich dabei zu mir um.

Eine angenehme Wärme erfüllte die Backstube, und die Aussicht, mich zu waschen und saubere Kleider anzuziehen, entzückte mich. Es würde seit meiner Flucht aus Tarragona vor zehn Monaten das erste Bad sein. Doch es gab da einen Haken: Ich musste mich vor einer Fremden ausziehen, in einem Raum, den Arlette oder sonst irgendjemand jeden Moment betreten konnte.

Madame Puech war meinem Blick gefolgt. Sie zuckte mit den Schultern und ging, um die zwei Riegel an der Tür zum Laden hin zu verschließen und dann die an der Tür am anderen Ende, die nach draußen führen musste. Nun also zog ich meinen Mantel und mein Kleid aus, das ich seit meiner Flucht aus Spanien trug. Ich zögerte erneut, als ich meine Unterwäsche – das, was davon übrig war – auszog, doch Madame Puech hatte bereits die Tür des Ofens geöffnet und warf meine Lumpen nach und nach hinein.

Plötzlich erleuchtete ein wilder Schein die Wände. Ich wandte den Kopf und erstarrte: Sie hatte meinen Koffer ergriffen und schickte sich an, ihn ins Feuer zu werfen.

»Nein!«, schrie ich.

Mit einem Satz war ich am Ofen, riss den bereits brennenden Koffer aus Madame Puechs Händen und tauchte ihn in den Zuber. Weißer Rauch stieg aus dem Dampf hoch, die Flammen flackerten an die Decke, und Madame Puech stieß einen überraschten Schrei aus.

»Was tust du? Hör auf, du Unglückliche! Du wirst das Haus in Brand stecken!«

Das kümmerte mich nicht. Sie konnte schreien, so viel sie wollte, dass das ganze Viertel zusammenlief, es war mir egal. Ich warf den Koffer auf den Boden, sobald die Flammen erloschen waren, und öffnete ihn, um die einzigen Reliquien meiner Kindheit herauszuholen: das Gebetbuch von Mama und meine Perlenkette, eine Erinnerung an mein erstes Konzert, in der hölzernen Schatulle, die Papa extra für diesen Anlass angefertigt hatte. Sie war von den Flammen geschwärzt, das Buch und die Kette aber unversehrt. Ich nahm mir die Zeit, sie auf einen in der Nähe stehenden Tisch zu legen, dann ergriff ich das, was von dem Koffer übrig war, und warf es selber in die Flammen.

Madame Puech beobachtete mein Tun mit starrem Blick, wie jemand, der seinen Augen nicht traut. Regungslos, mit leicht geöffnetem Mund und zitternden Lippen. Doch plötzlich kam sie wieder zu sich und zeigte mit einer Handbewegung auf die Kleidungsstücke über der Stuhllehne.

»Du ziehst bei dem Tausch nicht den Kürzeren.«

Ein Kleid, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte: hellblau, mit einem Kragen und Manschetten aus weißer Baumwolle. Und dann noch ein Unterkleid mit Spitzenbordüre, weiße Kniestrümpfe und eine hübsche Mütze.

»Das müsste dir passen«, sagte sie, die Hände auf den Hüften.

Als ich mich nicht entschließen konnte, mein altes Unterkleid auszuziehen, kam sie zu mir, griff nach dem unteren Saum und zog es mir mit einem Ruck über die Schultern. Ich stieß einen Schrei aus und kreuzte die Arme über meiner Brust.

»Los, denkst du, ich habe sonst nichts zu tun?«

Ich sah ein, dass Widerstand zu nichts führen würde, zog meine letzten Lumpen aus und stieg über den Rand in den Holzzuber.

Weihnachten

Ein Duft von Weihnachten hatte auf unserer Fahrt die Luft in den Bahnhöfen erfüllt, und als ich durch die Bäckerei lief, hatte ich Zeit, auf dem Fenstersims des Schaufensters eine kleine Krippe zu bemerken, die mit falschem Schnee gepudert war. Es würde einen Weihnachtsabend und eine Mitternachtsmesse geben. Darum kreisten meine Gedanken, als ich Madame Puech in den leeren Verkaufsraum folgte, der von dem Licht, das durch eine kleine Tür links vom Ladentisch fiel, nur schwach erleuchtet wurde. Hinter dieser Tür führte eine Treppe in den ersten Stock, in eine große Küche, in deren Mitte ein massiver Tisch mit einer Wachstuchdecke stand. Rechts der Eingangstür befand sich an der Wand zwischen den beiden Fenstern ein Buffet, gegenüber ein gusseiserner Herd mit seinem Zinkrohr, auf der linken Seite ein Sofa und in der hinteren Ecke ein Spülbecken aus Stein. Die weiteren Türen führten sicher in andere Zimmer … Das ist von nun an deine Welt, sagte ich mir.

Die Lippenbewegungen, die ich seit unserer Abreise aus Argelès bei Madame Puech beobachtet und ihrer Beunruhigung wegen der Reise zugeschrieben hatte, diese Bewegungen hatten sich, seit wir bei ihr zu Hause waren, in eine Art Murmeln verwandelt und wurden von einem Schulterzucken begleitet, das ihre Umgebung vielleicht als eine ihr eigene Art nicht mehr wahrnahm. Ich bemerkte es wieder, als sie zum Küchenschrank ging. Sie holte eine mit Mohnblumen bestickte Leinentischdecke heraus und forderte mich auf, den Tisch für vier Personen zu decken: sie selbst und ihren Mann, ihren Sohn Charles und seine Verlobte Agnès. Arlette und ich würden in der Küche essen, zwischen den einzelnen Gängen.

»Charles? Sie haben mir doch gesagt …«

»Was habe ich gesagt?«

»Dass er mit der Armee fortgegangen ist.«

»Ja, er ist weg, natürlich ist er fort«, erwiderte sie verwirrt, »aber man weiß ja nie.«

Dann fing sie sich wieder: »Als ob ich mich dir gegenüber rechtfertigen müsste! Tu, was man dir sagt, arbeite, statt tausend Fragen zu stellen. Und lass dir das ein für alle Mal gesagt sein: Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein! Verstehst du mich? Das gilt auch für dich«, wandte sie sich an Arlette, die am Spülbecken beschäftigt war.

Sie stieß plötzlich eine der Türen auf, die von der Küche wegführten, und drehte an einem Schalter. Licht fiel von einem fünf- oder vielleicht auch sechsarmigen Leuchter in ein Esszimmer, dessen Mobiliar mich sprachlos machte. Es waren nur ein Tisch und sechs Stühle, eine Kommode und ein Buffet, die aber wie neu aussahen und in einem mir unbekannten Stil gearbeitet waren. Diese Pracht erinnerte mich an ein Möbelgeschäft in Tarragona, das ich eines Tages mit meiner Mutter betreten hatte und dessen Duft nach Wachs, dessen spiegelnder Glanz und goldene Beschläge einen lang anhaltenden Eindruck von außergewöhnlichem Komfort und unglaublicher Erhabenheit bei mir hinterließen.

»Und, worauf wartest du?«

Ich stand wie angewurzelt auf der Schwelle zu diesem Zimmer, mit der Tischdecke über dem Arm, und versuchte mich davon zu überzeugen, dass diese Möbel ein wenig mir gehörten, dass ich sie so lange bewundern könnte, wie Madame Puech mich in ihrem Dienst haben wollte, sogar schon sehr bald, wenn ich auftragen würde.

»Soll sich die Arbeit etwa von alleine machen?«

Allerdings musste Madame Puech mich wollen, sagte ich mir. Und ich gab mir noch größere Mühe, mir den richtigen Platz des Bestecks, des Geschirrs und der schmiedeeisernen Kerzenhalter auf dem Tisch einzuprägen …

Woher ich die Kraft nahm, den Tisch zu decken, kann ich mir nicht erklären. Die Übelkeit kam in Wellen; die Gerüche, die aus den Töpfen aufstiegen, drehten mir den Magen um. Ich konnte mich nur aufgrund meines Willens, einen guten Eindruck zu machen, aufrecht halten. Gewissermaßen ein Überlebensreflex. Zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir, und ich führte noch weitere kleinere Arbeiten aus, die Arlette mir auftrug.

Ich saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln, als Schritte auf der Treppe zu hören waren, die zu den Schlafzimmern führen musste. Zwei abgetragene Pantoffeln, eine braune Cordhose, eine Jacke in demselben Farbton mit Flicken an den Ellenbogen: In dieser Reihenfolge nahm ich Monsieur Puech wahr. Ein kleiner untersetzter Mann mit einem argwöhnischen Gesichtsausdruck. Er blieb auf der letzten Stufe stehen und schaute mich lange an, mit einem Blick, wie unsere Nachbarn in Tarragona mich angesehen hatten, als ich auf das Gymnasium ging und mein Po und meine Brüste sich entwickelt hatten. Eine ganze Weile taxierte er mich auf diese Weise.

»So ist das also?«, sagte er schließlich mit einer Art höhnischem Grinsen.

»So ist es, wie Sie sagen«, erwiderte Arlette, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben.

»Hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt?«, brummte er.

Schließlich stieg er die letzte Stufe hinunter und wandte sich dabei schwankend um, was mir zeigte, wie gebrechlich er war. Er nahm die Zeitung, ging hinkend auf mich zu und setzte sich am Tischende ganz dicht neben mich. Er saß da und schaute mich an, ich spürte seinen Blick auf mir, auf meinem von Unterernährung gezeichneten Gesicht, auf meinen kranken Augen, meinen Musikerhänden, die so gut wie zu nichts nutze waren. Er sagte nichts, blieb völlig ausdruckslos, versenkte sich nur in die Zeitung, doch ohne zu wissen warum war ich davon überzeugt, dass er sein Urteil über mich gefällt hatte, gleich auf den ersten Blick. Und ich verlor das Bewusstsein.

Als ich meine Augen wieder aufgeschlagen hatte, brauchte ich eine ganze Weile, um den Faden wiederzufinden, der mich mit den Dingen und Geräuschen um mich herum verband. Ich war weder in unserem Haus in Tarragona noch in unserer Baracke im Flüchtlingslager. Schließlich kamen mir die Ereignisse des Tages bruchstückhaft wieder in den Sinn: die Abreise aus Argelès, das Umsteigen in den anderen Zug in Perpignan, die Befestigungsmauer …

»Fröhliche Weihnachten!«, hörte ich eine Stimme neben mir sagen.

Auf diese Weise machte ich Bekanntschaft mit Agnès, der Verlobten von Charles. Sie beugte sich über mich, streichelte mir die Stirn, ließ ihre Finger durch meine Haare gleiten, und ich sagte mir, dass nicht alles verloren war, dass sich vielleicht einiges bessern würde.

»Die Kartoffeln …«

»Sind gemacht, ruh dich aus«, antwortete sie auf Katalanisch mit einem lauten, hellen Lachen, das ihre schönen weißen Zähne zum Vorschein kommen und ihre Augen strahlen ließ.

»Weißt du, schon seit Ewigkeiten wissen sie sich in diesem Haus auch ohne dich zu helfen, da kommt es auf einen Tag nicht an.«

Ich lächelte, und Madame Puech entschied, dass dies ein Zeichen war: Meine Unpässlichkeit war vorbei, ich konnte den Dienst wieder aufnehmen.

»Zu Tisch!«, sagte sie mit vorgetäuschtem Schwung.

»Und Charles?«, fragte Monsieur Puech spöttisch grinsend.

»Du weißt doch, dass er niemals pünktlich ist. Wenn wir auf ihn warten müssten, würden wir niemals essen.«

»Nun, mein Mädchen«, fuhr sie fort und warf Agnès einen dieser ausweichenden Blicke zu, die ich seit Argelès beobachtet hatte. »Ich möchte nicht kalt essen.«

Agnès tat, als würde sie aufstehen, doch sobald ihre Schwiegereltern ihr den Rücken kehrten, setzte sie sich wieder neben mich.

»Ich werde dir meine Freunde vorstellen«, sagte sie zu mir halblaut auf Katalanisch. »Wir haben eine kleine Truppe zusammengetrommelt … eine Truppe, das ist ein großes Wort. Es ist schon gut, wenn wir bei den Vorstellungen sechs Jungen und Mädchen sind. Wir singen katalanische Lieder und tanzen in traditionellen Kostümen in den Dörfern des Conflent, manchmal auch weiter weg.«

»Des Conflent?«

»Das ist der Name der Region hier. Das Tal der Têt und seine Umgebung zwischen dem Roussillon und der Cerdagne, zwischen der Ebene und den Bergen.«

»Sie ist nicht einverstanden«, sprach sie weiter mit einer Kopfbewegung in Richtung Esszimmer. »Aber das ist uns egal«, fügte sie schulterzuckend und mit einem schalkhaften Lachen hinzu.

Ich hatte in Madame Puechs Stimme eine leichte Gereiztheit bemerkt, als sie ihre zukünftige Schwiegertochter erwähnte. Wenn sie den Namen ›Agnès‹ aussprach, hörte es sich an, als hätte sie ›Schlampe‹ oder ›Flittchen‹ gesagt. Nun verstand ich.

»Und Charles?«

»Was, Charles? Er … er hat seinen Platz am Tisch«, stammelte sie, als hätte sie einen Fehler begangen.

»Charles wird nicht kommen«, sagte sie nervös. »Er ist … ist an der Front und … anscheinend hat er uns vergessen. So ist es, er lässt nichts von sich hören, sagen wir es so.«

»Entschuldigung …«

»Du konntest es nicht wissen.«

Sie schaute mich einen Augenblick lang mit leicht geneigtem Kopf an und legte ihre Hand erneut auf meine Stirn.

»Das überkommt sie manchmal«, sagte sie mit einer Handbewegung zu ihrer zukünftigen Schwiegermutter hin. »Sie tut so, als wenn nichts wäre, als ob Charles immer noch da wäre«, fuhr sie fort und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, als wollte sie sagen, dass die Hausherrin in dieser Hinsicht ein wenig den Verstand verlöre.

»Manchmal …«

»Wir warten auf Sie«, schimpfte Madame Puech von der Schwelle des Esszimmers her. »Was heckt ihr aus?«

Agnès stand rasch auf; sie fürchtete sicher, dass Madame Puech unsere Unterhaltung mit angehört hatte. Wir waren beide so versunken gewesen, dass wir ihr Kommen nicht bemerkt hatten.

»Ich bin gleich da«, antwortete sie betreten. »Ich bereite nur noch einen Teller für Marie zu.«

»Kommen Sie. Arlette wird sich darum kümmern, wenn sie aufgetragen hat.«

Arlette hatte schlechte Laune. Fast schon ein dauerhafter Charakterzug von ihr, aber das wusste ich damals noch nicht und fragte mich, was ich falsch gemacht hatte, um diese Gereiztheit zu verdienen. War es wegen meines Schwächeanfalls? Weil ich ihr nicht die Hilfe zukommen ließ, die sie erwartete?

Wenn ich Arlette besser gekannt hätte, hätte ich gewusst, dass sie murrte wie andere atmeten, dass es keinen besonderen Grund für ihre Haltung mir gegenüber gab. Weil ich aber wollte, dass an jenem Abend alles vollkommen war, dass nichts diesen Heiligabend und meine Ankunft in diesem Haus trübte, setzte ich mich auf, sammelte meinen begrenzten Wortschatz zusammen und versuchte, sie in einem Gemisch aus Französisch und Katalanisch auszufragen.

Sie tat, als verstünde sie mich nicht, zwang mich aufzustehen, gab mir eine dampfende Suppenschüssel in die Hände und drängte mich zum Esszimmer hin.

Agnès war die Erste, die vom Tisch aufstand. Sie sang im Kirchenchor und hatte außerdem zugesagt, zu Beginn und am Ende der Messe Geige zu spielen. Eine Premiere in Villefranche, erklärte sie mir, als ich die Dessertteller abräumte.

»Geigenspiel in der Kirche! Das ist unglaublich«, sagte Madame Puech.

Sie sprach das Wort ›Geige‹ wie den Namen ihrer zukünftigen Schwiegertochter aus: mit einer missbilligenden, ja fast angeekelten Miene.

»Es wird doch auch Harmonium gespielt.« Zu mir gewandt fragte Agnès: »Kommst du mit?«

»O ja«, antwortete ich und trocknete mir die Hände vollends ab.

»Das ist nicht euer Ernst«, sagte Madame Puech und erhob sich so unvermittelt, dass ihr Stuhl umfiel.

»Ich kümmere mich um sie«, entgegnete Agnès. »Und ich bringe sie Ihnen zurück. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Kümmern Sie sich lieber um Ihre Angelegenheiten. Dieses Mädchen ist völlig erschöpft, sehen Sie das nicht? Sie muss sich ausruhen und braucht morgen all ihre Kräfte. Am Weihnachtstag mit der Arbeit zu beginnen ist nicht ohne.«

Sie ging uns mit klappernden Absätzen voran in die Küche … und ihre Selbstsicherheit schwand, als sie sah, dass das Geschirr gespült und Schüsseln und Gedecke weggeräumt waren.

»Émile«, rief sie verzweifelt.

»Hmm«, erklang ein Murmeln aus dem Esszimmer.

»Sag du es ihnen. Du bist doch das Oberhaupt der Familie.«

»Der Familie!«, erwiderte er und lachte schallend. »Das Oberhaupt der Familie! Von welcher Familie?«

»Von der Familie eben«, sagte sie irritiert. »Du, ich …«

»Du, ich, Charles … ist es so?«, entgegnete er mit einem unheimlichen Hohngelächter.

»Pah«, antwortete sie nur, zuckte mit den Schultern und drehte uns den Rücken zu. Sie senkte den Blick, wandte den Kopf und machte sich plötzlich am Herd zu schaffen, als wollte sie eine Schwäche verbergen, deren Ursache ich nicht ahnte.

»Was glaubst du?«, sprach er weiter und erschien auf der Schwelle zur Küche. »Dass du eine Spanierin an Weihnachten daran hindern wirst, in die Kirche zu gehen? Es ist heute viel günstiger, denk doch mal nach. Morgen hat sie Besseres zu tun.«

»Los, geht schon«, sagte er und machte eine Handbewegung, als wollte er uns aus seinem Haus jagen. »Und grüßt den Herrn Pfarrer von Émile Puech«, fügte er mit diesem höhnischen Lachen hinzu, das zu ihm zu gehören schien.

Woraufhin Agnès ihren marineblauen Umhang von der Garderobe nahm und nach kurzem Zögern auch ein großes schwarzes Tuch, das dort hing, und es mir über die Schultern warf.

Sobald wir draußen waren, hakte sie sich bei mir unter, und es war, als würde mir das Leben wieder zulächeln. Oh, es war ein zaghaftes Lächeln, blass wie die Wintersonne und noch verschüttet von der Verzweiflung über Teresas Tod und das Schwinden der letzten Dinge, die mir im Leben einen Halt gegeben hatten. Doch da war dieser Arm auf meinem Arm, dieser Mensch an meiner Seite, die Fürsorglichkeit, die ich von den Bewohnern Villefranches erhoffen konnte. Ich blickte zu den Fenstern auf und erahnte sie am Tisch in ihren Küchen sitzend, in dem bläulichen Licht, das von der Luftschutzbehörde vorgeschrieben war. Sicherlich würden sie alle ebenso hilfsbereit sein wie Agnès, genauso offen mir gegenüber. So flogen meine Gedanken dahin, während wir wie die Hirten zur Krippe in Bethlehem zur Kirche gingen, von einem Lichtschein geleitet, der die Dunkelheit vom oberen Teil der Straße her durchbrach und der Anordnung des Ministeriums trotzte. Er kam von einer Maueröffnung im Giebel der Kirche, die von innen erleuchtet war, und erinnerte an den Stern, der die Könige zu dem Stall geführte hatte, in dem das Jesuskind lag. War ich nicht auch eine Art König? Eine Reisende, die weit entfernt von ihrem Land ihren Weg suchte?

Auf der rechten Seite tauchte ein Platz auf, der mit kleinen kahlen Bäumen bepflanzt und von großen Häusern eingerahmt war. Dort schien die Dunkelheit undurchdringlich zu sein. Ich griff nach Agnès’ Arm und folgte ihr an einer Blendmauer entlang, durch ein von Steinsäulen flankiertes Tor, durch eine Tür, deren Angeln noch lange nach dem Aufstoßen quietschten, bis zu einem großen Kirchenschiff, das einige Stufen tiefer lag als der Platz und dessen Decke im Dunkel verschwand. Ein sanfter Windhauch zog durch das Bauwerk und trug Düfte von Wachs, Weihrauch und Bohnerwachs mit sich, als wolle er die Nüchternheit des nackten und massiven Steins mildern. Deine Kirche, sagte ich mir, von nun an ist das deine Kirche!

Agnès ging zu ihrem Chor, und ich setzte mich in die vierte oder fünfte Reihe, natürlich auf der Seite der Frauen. Der Chor begann sich einzusingen, und ich erkannte sofort Agnès Stimme in dem Missklang. Es hörte sich nicht wirklich falsch an, aber die Melodie war auf eine völlig ausdruckslose Reihe von Tönen reduziert, dominiert von den harten und trockenen Akkorden des Harmoniums. Das war in keiner Weise mit den professionellen Chören zu vergleichen, die ich in Konzerten und bei Proben im Verlauf meiner musikalischen Ausbildung gehört hatte.

Das Ende der Probe wurde von einem Vorfall überschattet, der mir im Gedächtnis haften blieb. Zwischen der Organistin und dem Pfarrer, der den Chor dirigierte, kam es zu einem Disput, als die beiden Sonaten für Geige und Orgel geprobt werden sollten, die für den Beginn und den Schluss der Zeremonie vorgesehen waren und den Spott Madame Puechs erregt hatten. Die Chorsänger hatten sich hingesetzt, Agnès ihre Geige ausgepackt, alle warteten … und die Dame weigerte sich zu spielen.

»Das Gotteshaus ist kein Konzertsaal«, wiederholte sie immer wieder als Antwort auf die Aufforderungen des Pfarrers.

»Sie waren aber einverstanden. Wir haben mehrere Male darüber gesprochen.«

»Nun, dann habe ich meine Meinung geändert.«

»In letzter Minute?«

»In letzter Minute.«

Die Diskussion wurde durch das Eintreffen der ersten Gläubigen unterbrochen. Sie nahmen in den Bankreihen Platz, die Frauen rechts, die Männer links, wie bei uns zu Hause. Schließlich trat der Pfarrer begleitet von zwei Chorknaben aus der Sakristei und die Messe begann. Ich folgte ihr mit ganzer Seele. Gott hatte meine Schwester und meine Eltern zu sich gerufen, aber er hatte mich aus dem Lager herausgeholt, in dem ich letztlich gestorben wäre. Er hatte mich in dieses Dorf geführt, zu dieser Agnès, die sich so um mich bemühte. Er hatte mir eine Schwester genommen und mir eine andere gegeben. Aus tiefstem Herzen betete ich und ergab mich seinem Willen. Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht hätte im Lager bleiben und einfach sterben sollen. Das wäre sehr viel einfacher gewesen: kein Monsieur und keine Madame Puech, keine Einsamkeit in einem fremden Dorf, keine Sorgen über die Zukunft. Doch die Menschen um mich herum machten es sich zur Aufgabe, mich – ungewollt – in die Realität zurückzubringen: Ich war am Leben, kniete in der Kirche eines Dorfes, das bald meines sein würde. Ein neues Leben tat sich vor mir auf.

Am Ende der Messe stimmte der Pfarrer das Lied Minuit, chrétiens an, und die Gemeinde antwortete im Chor mit einer Überzeugung, die mir andere Weihnachten in Erinnerung rief, auf der anderen Seite der Berge. Dann bekreuzigten sich alle, verließen ihre Bankreihen und strömten durch die Gänge wie die Fluten dreier Bäche zum Ausgang hin. Sie beäugten mich im Vorübergehen, und einige lächelten mir zu.

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