Kitabı oku: «Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots», sayfa 14
3.1.2 Die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Charakterisierung der Ariane Desprats
Anders als im Falle Louis Mérians wird die Pariser Wohnung der Ariane Desprats an keiner Stelle des Romans lokalisiert geschweige denn beschrieben. Lediglich ein knapper Passus, der nicht ein Zu-Hause-Sein und Geborgenheit, sondern in gespenstischer, an die Geschichte des Fliegenden Holländers erinnernder Seefahrts- und Reisemetaphorik ihre Einsamkeit und Gefährdung, aber auch ihr missionarisches, ruheloses Unterwegs-Sein evoziert, verweist auf einen Wohnsitz.1 Überaus aufschlussreich ist zudem ein Gespräch zwischen Ariane und ihrem ehemaligen Gefährten Léo, in dem sie ihm von der Geschichte ihrer Familie – ihre Großeltern mütterlicherseits wurden deportiert, ihr Vater, angeblicher Résistancekämpfer, verließ die Familie, als Ariane acht Jahre alt war – und ihrer Kindheit erzählt. Obwohl nach dem Krieg geboren, habe sie stets „[…] dans le souvenir de cette période […]“2 gelebt. Ihre Mutter habe an die Kriegszeit sogar gedacht, wenn sie nicht darüber gesprochen habe, während im alltäglichen Leben ansonsten niemand zu wissen schien, worum es sich dabei handelte. Dieser Zustand führte dazu, dass Ariane sich, wie sie Léo erklärt, in ihrem engsten Umfeld fremd fühlte: „Quand je sortais de chez moi, c’était comme si je passais une frontière pour aller dans un autre pays.“3 Ihre im Mädchenalter wohl im Wesentlichen emotional wahrgenommene Sonderstellung und die innere Verfasstheit Frankreichs vermag Ariane als Erwachsene genau zu analysieren. So erinnert sie sich an Gespräche, die Louis Mérian in seiner Sendung mit Künstlern führte, die sie zwar nicht zum Sendezeitpunkt, wohl aber heute nur noch ironisch als „[…] les piliers de la France nouvelle et ancienne, de la France éternelle […]“4 betrachten kann. Wie Ariane die von Louis Mérian interviewte Künstlerelite, mit der sie sich einst glaubte identifizieren zu können, heute einschätzt, lässt die Erzählinstanz in einer – die Sichtweise Arianes wiedergebenden – intern fokalisierten Passage durchscheinen:
Mais le château qu’habitaient les chansonniers, les comédiens de théâtre de boulevard, les acteurs de la Comédie-Française ou les chanteurs populaires, était aussi irréel que celui de la Belle au bois dormant, et le pays entier dormait sous l’effet d’un sort qu’une mauvaise fée lui avait jeté – et aujourd’hui, il n’était pas encore sorti de son sommeil.5
Arianes einstiges Bild märchenhaft idolisierter Schlossbewohner ist mittlerweile einer kritischen Sicht gewichen. Ihr ist bewusst geworden, dass Mérians Interviews jenen „[…] dicussions de café du commerce […]“ glichen, die sich durch „[…] quelque chose de paisible et de rassurant, une image réconfortante du pays qui était le sien“6 auszeichneten. Konsequent verschwiegen und verdrängt wurden dabei in dem in einen Dornröschenschlaf versunkenen Land die belastenden Momente der eigenen Vergangenheit. Ariane begreift ihr eigenes Leben daher
[…] comme un effort, une tentative permanente de se dégager de cette histoire qui l’emprisonnait, la guerre et la déportation, l’attitude des uns et des autres, et qui l’empêchait de se sentir vraiment chez elle dans un pays où elle était pourtant née, à cause de la collaboration, de la dénonciation, mais aussi à cause du silence qui se prolongeait aujourd’hui, à cause de cette volonté farouche de détourner les yeux, de poser le regard ailleurs […]7
Die Erzählstimme verstärkt diesen Gedanken noch, indem sie, wiederum aus dem Blickwinkel Arianes, die als Alibi für die „Abwendung des Blicks“ dienende Wiederaufbauphase in Frankreich mit den Voraussetzungen und Folgen der Überplanung des Ghettos in Warschau vergleicht. Dort habe man aus Zeitgründen „[…] sur les ruines de l’ancien ghetto […]“8 ein neues Stadtviertel errichtet, das ein Meter höher liege als der Rest der Stadt. Dies habe zur Folge „[…] que cette dénivellation marquait à la fois la volonté d’oubli et l’impossibilité de l’oubli“9. So sei auch ganz Frankreich wiederaufgebaut worden „[…] avec ce mètre de décalage que les gens feignaient d’ignorer mais qu’ils ne pouvaient pas ne pas remarquer“10. Für die erwachsene Ariane bedeutet dies, dass sie nicht mehr wie in ihrer Kindheit, als sie glaubte, beim Verlassen der Wohnung „[…] un autre pays“11 zu betreten, annimmt „[…] qu’il y avait deux mondes […]“12. Vielmehr ist sie zu der Erkenntnis gelangt, dass die Trennlinie nicht „[…] dans la réalité mais dans l’appréhension de la réalité […]“13 verläuft. Entscheidend sei vielmehr
[…] la question de vouloir ou de ne pas vouloir être en accord avec la réalité, et l’accord, contrairement à ce qu’Ariane avait toujours pensé, n’était pas du côté de ceux qui se taisaient mais du côté de ceux qui, comme elle, voulaient parler et parlaient. Le silence menait à la mort de Louis Mérian et la parole, elle ne savait pas au juste mais elle menait quelque part.14
Vor diesem Hintergrund werden die das Leben Arianes kennzeichnende Ruhelosigkeit, ihr Aufklärungsdrang und ihre Fähigkeit, im Leben Louis Mérians als „[…] l’instrument du souvenir […]“15 zu dienen, verständlich. So wie Ariadne – Ariane ist die französiche Form dieses griechischen Namens – es Theseus ermöglichte, nach dem Sieg über den Minotaurus mit Hilfe eines Wollfadens den Ausgang der labyrinthischen Kampfstätte zu finden, so gelingt es Ariane Desprats, mit ihren bohrenden Fragen Louis Mérian dazu zu bewegen, sich aus dem Gespinst seiner Selbsttäuschungen und Lebenslügen zu befreien. Immer und überall ist sie auf der Suche nach Klarheit. Dies ist auch der Grund für ihre starke Abneigung gegen „[…] les rues qui grimpaient […] vers les hauteurs de la ville […]“, wo sie sich als „[…] prisonnière de ces arcanes étroites et sombres“16 fühlt. Eine Anwandlung von Unentschiedenheit und Lähmung, die Arianes häufig auftretende Unfähigkeit, Straßenkreuzungen zu überqueren, verursacht, wird von der Erzählinstanz mit dem Unvermögen der Personen in Buñuels Film Der Würgeengel, nach einer nächtlichen Party das Haus der Gastgeber zu verlassen, verglichen.17 Völlig im Einklang mit ihrem Entdeckungsdrang steht hingegen ihre Begeisterung für einen im Garten der Maison de Balzac befindlichen Stadtplan, der das Paris des 19. Jahrhunderts darstellt und dazu einlädt, Balzacs unterschiedliche Adressen und die Abweichungen zwischen den damaligen und heutigen Straßennamen herauszufinden. Zu begeistern vermag sich Ariane nicht zuletzt für die Maison de Balzac selbst, die für sie „[…] l’unique havre de paix dans la succession de façades austères des années vingt ou trente […]“18 darstellt. Eine besondere Faszination geht von den auf drei Wänden in einem Zimmer des Hauses angebrachten genealogischen Tafeln mit den Namen aller Personen der Comédie humaine aus, die – […] emprisonnés dans le papier et les rayons des bibliothèques […] – auf diesem Wege „[…] le statut de personnes existantes […]“19 erlangen. Wenn die Wirkung der Maison de Balzac in ihrer Gesamtheit von der Erzählstimme als „[…] preuve matérielle du pouvoir de la littérature“ 20 eingeschätzt wird, so vermittelt damit implizit auch die Autorin Cécile Wajsbrot eine wichtige Botschaft: Die Literatur eröffnet ihr als einer Angehörigen der dritten Generation polnisch-jüdischer Einwanderer einen Raum der Erinnerung und damit eine eigene Art des Holocaust-Gedenkens. Dabei strebt sie keine reproduzierende Wiedergabe historischer Ereignisse an, vielmehr sieht sie in einer aus der Sicht der heutigen Zeit erfolgenden selbstständigen literarischen Reflexion über einen für ihre eigene Familie so verhängnisvollen Abschnitt der Geschichte die ihr gemäße Form der Erinnerungsarbeit.
3.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung
Zu Beginn der Diegese ist es, wie bereits in B 3.1 festgestellt, evident, dass die beiden Protagonisten Louis Mérian und Ariane Desprats in unterschiedlichen Semiosphären leben. Die Begegnungen zwischen Louis Mérian und Ariane Desprats bewirken jedoch, dass die Unterschiede zwischen ihren „Sprachen“, im Lotman’schen Sinne verstanden als Unvereinbarkeit der Diskurse und der Wahrnehmung von Wirklichkeit,1 eingeebnet werden.
Durch die Begegnungen mit Ariane gelangt Louis Mérian zu der ihn befreienden Einsicht, dass er nach der Trennung von Sarah ein Leben der „Uneigentlichkeit“ geführt hat. Angesichts der äußeren Ähnlichkeit und der „inneren“ Verwandtschaft zwischen Sarah und Ariane ist es in sich schlüssig, dass Ariane Louis bereits bei ihrem ersten Gespräch aus seiner inneren Erstarrung zu befreien vermag. Die Erzählinstanz bringt dies zum Ausdruck, indem sie die heilenden Auswirkungen der Anwesenheit Arianes auf die Befindlichkeiten Louis’ beschreibt. Wiederum bedient sie sich dabei einer zeitlich-räumlich geprägten Bildersprache, durch die das Sarah und Ariane Verbindende zusätzlich unterstrichen wird. Mit einem Lächeln vermag Ariane Louis von der nachwirkenden Erinnerung an seine albtraumähnliche nächtliche Unruhe zu befreien:
Elle avait souri et c’était à ce moment-là que quelque chose s’était ouvert en lui, il avait tressailli, oh, pas à cause d’un charme auquel il aurait été sensible, non, c’était la poursuite de la nuit qui s’apaisait, la route brusquement interrompue qui reprenait, une image qui se dessinait enfin, qu’il allait ressaisir et qui s’évanouit dès qu’il tendit le bras pour lui servir du jus de fruit.2
Am Ende seines Läuterungsprozesses, der erfolgreichen Aufklärung seiner für ihn selbst unter dem Schleier des Vergessens lange Zeit verborgenen Vergangenheit, beschließt Louis Mérian, sich das Leben zu nehmen. Die Erzählstimme inszeniert die Vorbereitungen seines Suizids als eine Art Wiederbegegnung zwischen Louis und Sarah.3 Für Louis ist die Entscheidung zum Suizid die radikale Konsequenz aus seinem Wunsch, sich von der Last seiner Lebenslüge, seines „Verrats“ an den von Sarah vertretenen und gelebten Idealen zu befreien, um mit ihr, wie Hugo in Atlantique, zumindest im Tode vereint zu sein. Eine Wegemetapher fasst diese Verkettung prägnant zusammen, indem sie sein ganzes Leben als eine ihn zu Sarah zurückführende Suchbewegung darstellt: „[…] sa vie avait été un long chemin pour trouver Sarah, pour la perdre et puis la retrouver.“4 So ist Louis Mérian am Ende eines langen Lebensweges dank der Hilfe der als „instrument du souvenir“ wirkenden Ariane doch noch von einer „unbeweglichen“ zu einer „beweglichen“ Figur geworden.
3.2 Nation par Barbès1 – Räume und „Nicht-Räume“ als handlungsauslösende und Gedanken und Gefühle widerspiegelnde Elemente
Der Roman Nation par Barbès handelt von den Suchbewegungen der Protagonistinnen Léna und Aniela sowie der männlichen Hauptfigur Jason, die sich bzgl. ihrer Herkunft stark unterscheiden und deren Wege zur Erfüllung ihrer individuellen Wünsche und Sehnsüchte sich gleichwohl kreuzen.
Die Analyse folgt einem deduktiven methodischen Ansatz, insofern als bekannt vorausgesetzt wird, dass die Handlung mit dem Suizid Anielas und der von Léna vollzogenen Beendigung ihres Verhältnisses zu Jason ein tragisches Ende nimmt. Ebenso ist davon auszugehen, dass die räumliche und familiengeschichtliche Herkunft der drei Figuren (B 3.2.1), die Métro (B 3.2.2) und der Parc Monceau (B 3.2.3) jene Räume, „non-lieux“ und Orte bilden, die entweder den Gang der Handlung beeinflussen oder aber verschiedene Gedanken, Empfindungen und Eigenschaften der handelnden Figuren widerspiegeln. Aus diesem Grunde erscheint es sinnvoll, die Gliederung der Analyse an den drei genannten Räumen bzw. Orten zu orientieren, da so einerseits ihre auf die Handlung bezogene Wirkmächtigkeit, andererseits ihre Bedeutung für die Personenzeichnung am besten darzustellen sind.
3.2.1 Chronotopische Markierungen der familiengeschichtlichen Herkunft Lénas, Anielas und Jasons
Léna lebt mit ihrer Mutter in einer Wohnung in der Nähe des Parc Monceau.1 Ihr aus Spanien eingewanderter Vater ist früh verstorben und hat seine Frau und seine Tochter in einem „[…] face à face implacable […]“2 hinterlassen. Obwohl Léna sich kaum an ihren früh verstorbenen Vater erinnert,3 hat sie nicht vergessen, was dieser über seinen Vater berichtet hat. Er habe erzählt, dass in der Zeit des Bürgerkriegs das plötzliche Verschwinden eines Menschen immer ein Indiz für eine Sammelhinrichtung gewesen sei. Diese Erinnerungsbilder sind, wie die Erzählinstanz berichtet, für Léna ebenso Teil ihrer Kindheit gewesen wie „[…] une autre forme de guerre civile [qui] s’était déclarée, entre la voix de son père et la voix de sa mère, entre la génération de ses parents et la sienne, entre ce qu’elle percevait du monde et ce dont elle avait envie […]“.4
Die hier angedeuteten familiären Disharmonien, die Léna während ihrer Kindheit offensichtlich stark belastet haben, beeinträchtigen in veränderter Form und in einem gravierenden Maße auch das Verhältnis zwischen der Mutter und ihrer erwachsenen Tochter. Infolge eines – von der Erzählinstanz zeitlich nicht situierten – Unfalls ist die Mutter irreversibel gelähmt und von fremder Hilfe abhängig. Léna ist damit eine Aufgabe zugefallen, die neben ihrer sie offensichtlich nicht wirklich befriedigenden beruflichen Tätigkeit „son autre vie“ ausmacht,
[…] celle qu’elle avait en horreur, qu’elle repoussait de toutes ses forces mais qui revenait à chaque fois qu’elle ouvrait la porte et qui durait jusqu’au lendemain matin, jusqu’au moment où, après avoir pris le petit déjeuner en compagnie de sa mère, dans sa chambre, sur le bord de son lit, elle rouvrait la porte.5
Die von der kranken Mutter und ihrer Tochter Léna geteilte Wohnung beschreibt die Erzählstimme aus dem Blickwinkel Lénas als einen Ort quälender Spannungen und Auseinandersetzungen, den die Mutter gleichwohl wie eine „[…] forteresse imprenable […]“6 behaupte. Die Tochter, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten mit der gierig ihr Essen verschlingenden Mutter den Blick angeekelt von ihr abwendet7 und – anders als die als Pflegekräfte engagierten Nachbarinnen und Krankenschwestern – für ihren Einsatz nicht nur keinerlei Dankbarkeit erfährt, sondern Vorwürfe und Tadel hinnehmen muss, verlässt das als Konfliktfeld erlebte Zimmer der Mutter jedes Mal als „Besiegte“.8 In ihrer Abhängigkeit empfindet sie sich als „[…] prisonnière de sa mère“9. Die Bedeutungsinhalte „Gefangenschaft“ bzw. „Gefängnis“ überträgt die Erzählinstanz in einem anderen Kontext indirekt auch von der Person Lénas auf ihre jetzige Wohnung, insofern Léna in einem Gespräch mit Jason mit großem Bedauern feststellt, dass sie in einer früheren Wohnung – manchmal sogar von ihrem Bett aus – den Mond habe betrachten können. Da der Mond für Léna zu einem „[…] signe lointain de son indépendance, mais d’une indépendance sous protection […]“10 geworden ist, das sich ihrem Blick nun gänzlich entzogen hat, weckt ihre an einer wiederum anderen Stelle der Diegese aus ihrer eigenen Perspektive als „sombre“11 beschriebene derzeitige Wohnung Assoziationen mit einer dumpfen, dunklen Gefängniszelle, sodass eine kontextübergreifende, als isotopisch zu qualifizierende Vorstellung des „Gefangenseins“ bzw. der „Unfreiheit“ entsteht. Zusätzlich gestützt wird diese Leitidee durch Lénas Erinnerung an jene „[…] appartements lumineux et spacieux […]“, die sie in ihren Kindertagen anlässlich seltener Einladungen als scharfen Kontrast zu ihrer eigenen Behausung kennen gelernt hat.12 Im Erwachsenenalter, auch und gerade in der Zeit ihrer Bekanntschaft mit Jason, hasst sie ihre Wohnung, die sie als „[…] les murs étroits d’une vie qu’elle n’avait pas choisie“13 betrachtet, also als äußeres Abbild eines durch Einschränkungen und Einengungen beeinträchtigten Lebens. Und wenn die Erzählstimme schließlich anmerkt „[…] qu’elle restait cloîtrée chez elle et qu’elle n’en sortait que pour prendre le métro et se rendre à son travail“14, so verbindet sie mit der Anspielung auf eine klösterliche Behausung sicherlich nicht die Vorzüge wohltuender kontemplativer Ruhe, sondern die Last monotoner, sich täglich wiederholender, frustrierender Pflichterfüllung.
Eine Wende in Lénas Zusammenleben mit ihrer Mutter scheint sich anzubahnen, als sie sich entschließt, sie über ihre Bekanntschaft mit Jason zu informieren. Als die Mutter auf Lénas Mitteilung „J’ai rencontré quelqu’un“15 weder verbal noch mit einer Änderung ihres Gesichtsausdrucks reagiert, deutet Léna die „immobilité“ der Mutter zunächst als
[…] un refus d’avancer dans la vie et dans l’âge […] une façon de s’arcbouter sur le passé dans une position immuable, une stagnation qui refusait le temps comme tout le monde autour refusait le temps, dans un pays où on avait l’impression que la piqûre au doigt de la Belle au bois dormant avait plongé le château dans le sommeil.16
Wenn Léna ihrer Mutter und Frankreich gleichermaßen unterstellt, sich in einem Zustand der Stagnation einzurichten, d.h. sich dem Voranschreiten der Zeit entgegen zu stemmen, so evoziert dies zugleich die Vorstellung, dass die Vergangenheit im Raum, d.h. im Falle der Mutter in der Beengtheit der mit der Tochter geteilten Wohnung, konserviert und gleichsam „eingesperrt“ wird. Raum und Zeit durchdringen sich gegenseitig. Frankreich hingegen ist, wie Léna meint, zu einem Land ohne jegliche Zukunftsvisionen geworden, da das Interesse der Politiker sich in der Erhaltung ihrer Macht erschöpft und jegliche Weiterentwicklung des Landes, einschließlich der Gestaltung des Raumes, unterbleibt. Aus welchem Grunde sowohl ihre Mutter als auch Frankreich in einen Dornröschenschlaf versunken sind, bleibt für Léna letztlich rätselhaft. Überrascht ist sie jedoch, als ihre Mutter mit einem scheinbaren Einverständnis, einer „[…] apparente acceptation […]“17, auf ihre Nachricht reagiert. Für Léna scheinen sich damit völlig neue Perspektiven zu eröffnen, die von der Erzählinstanz in einer dreigliedrigen Steigerung räumlicher Metaphern skizziert werden: „L’horizon était libre, la voie ouverte, et tant d’espace lui faisait peur, tout à coup, à elle qui avait l’habitude de marcher à pas comptés sur une bande de terre étroite.“18
Auf die spontan aufkommende Begeisterung folgen vage, böse Vorahnungen, die, wie die von der Mutter am Abend des nächsten Tages gestellten „[…] questions insidieuses […]“19 beweisen, keineswegs unbegründet sind.
Die Bulgarin Aniela unterscheidet sich zwar bzgl. ihrer Herkunft und Lebensweise recht deutlich von der gleichaltrigen Léna, ist ihr jedoch auch in mancherlei Hinsicht ähnlich. Da sie seit ihrer Kindheit den Wunsch hegte, nach Frankreich, „[…] vers un pays de rêve […]“20, aufzubrechen, war es für sie selbstverständlich, Französischlehrerin zu werden. Beim Erlernen der französischen Sprache, also auf dem Weg zu ihrem Berufsziel, überwand sie mühelos „[…] tous les obstacles […]“21. Sie lebte drei Jahre in einem spartanisch einfach eingerichteten Zimmer in einem Heim für Mädchen in der an der Donau gelegenen Großstadt Ruse,22 bevor sie sich bei einer Busreise nach Frankreich in Paris von ihrer Reisegruppe absetzt.
Obwohl Aniela – im Unterschied zu Léna – nicht in einer Großstadt, sondern in einem Dorf aufgewachsen ist, in dem ihre Eltern noch immer einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb bewirtschaften, litt sie in ihrer Kindheit und Jugend unter der das dortige Leben kennzeichnenden Stagnation und Isolation,23 mithin unter Zuständen, die unter anderen Voraussetzungen ebenfalls Léna belasten. Auch nach der Öffnung der Grenzen hält Aniela an ihrer Absicht fest, Bulgarien zu verlassen und nach Frankreich zu ziehen. Für sie ist Bulgarien „[…] un pays à l’abandon […]“24 bzw. „[…] un pays déshérité, un pays oublié de tous, oublié de Dieu […]“25 und Ruse eine Stadt „[…] d’une richesse passée […]“26. Die Erzählinstanz lässt Aniela in einem als Apostrophe an die politische Klasse formulierten Gedankenzitat ihre Verurteilung des alten Gesellschaftssystems und ihre Empfindungen in einer anklagenden Art und Weise zum Ausdruck bringen, die in ihrem Kern, dem Vorwurf der Freiheitsberaubung, an die – aus gänzlich anderen Umständen resultierenden – Befindlichkeiten Lénas erinnert:
Vous n’aviez pas le droit, avait-elle envie de crier, de nous emprisonner dans cette grisaille, cette noirceur déguisée en pompe, toutes les cérémonies, la glorification de l’héroïsme, y avez-vous vraiment cru ou n’était-ce que le masque de votre impuissance?27
In einem anderen Kontext erinnert die Erzählinstanz an eine Begegnung Anielas mit französischen Touristen, die ihr erklärten, dass sie nach Reisen auf die Balearen und nach Griechenland Bulgarien als Ziel ausgewählt hatten, da sie es als warmes Land mit langen Stränden und zudem günstigen Preisen zu schätzen wussten. Aniela, die sich in diesem Moment als „[…] prisonnière à l’intérieur de terres reléguées à l’extrémité d’un continent […]“28 fühlte, vermochte auf diese oberflächliche, die „Ungerechtigkeit des Schicksals“ ignorierende Einschätzung ihres Heimatlandes nur mit stillschweigendem inneren Protest zu reagieren.29 Ihre Abwendung von ihrer bulgarischen Heimat richtet sich daher keineswegs gegen ihr Land als solches, sondern gegen die dort – là-bas – 30 in der Vergangenheit lange vorherrschende und noch immer nachwirkende, von ihr als heuchlerisch und verlogen empfundene Ideologie.31 Ihre Begeisterung für Frankreich als ihr „pays de rêve“ bzw. eine „[…] terre mythique […]“32 wird indes auch nicht durch die ernüchternde Begegnung mit einigen mehr an ihren eigenen materiellen Vorteilen als an der inneren Verfasstheit Bulgariens interessierten französischen Touristen geschmälert. Genauso wenig vermag ihre Familie sie aufzuhalten, weil sie sich sowohl von ihrem Bruder als auch von ihren Eltern verraten fühlt. Dem Bruder wirft sie vor, noch vor ihr Bulgarien verlassen zu haben, um illegal in Italien zu arbeiten. Die Eltern kritisiert sie, weil sie den Bruder dabei finanziell unterstützt haben.33 Anders als ihr Bruder, der in Italien illegal als Mechaniker arbeitet, möchte sich Aniela nicht heimlich, sondern „[…] au grand jour […]“34 auf den Weg nach Frankreich machen.
Angezogen fühlt sie sich von diesem Land, das sich vor allem durch „[…] l’image d’une patrie des droits de l’homme […]“35 auszeichnet, daneben aber durch die von der Erzählinstanz anhand vieler Beispiele bewusst klischeehaft beschriebene Attraktivität der französischen Hauptstadt und Provinz, durch die Aniela zu der Überzeugung gelangt „[…] qu’en France […] tout était fait, accompli, chaque chose à sa place“36. Konsequenterweise repräsentiert für Aniela Paris noch vor Wien „[…] la véritable Europe […]“37, und die dort lebenden Menschen stilisiert Aniela zu stolzen, selbstbewussten, sorglos und beschützt lebenden Lichtgestalten eines freien Landes von Weltgeltung.38 Angesichts der Grobheit und Mediokrität der ihr in Ruse begegnenden Männer geht sie selbstverständlich davon aus, in Frankreich „[…] l’amoureux dont parlaient les chansons […] celui qui correspondait à ses rêves […]“39 zu finden. Gleichzeitig mischt die Erzählstimme in die enthusiastische Aufbruchstimmung Anielas jedoch proleptische Signale einer zutiefst pessimistischen Erwartung. Bei der Beaufsichtigung ihrer still arbeitenden Klasse erinnert sie sich an eine Strophe aus Lamartines Gedicht À Une Jeune Personne Qui Prédisait L’Avenir, die mit folgenden Versen endet:
Le destin n’a pour tous qu’une même réponse,
L’oubli, le silence et la mort!40
Und als sie, am Ufer der Donau stehend, sehnsuchtsvoll an die Seine und die herrschaftlichen Stadtvillen denkt, die als Zeugnisse einer glänzenden Vergangenheit die Ufer säumen, erinnert sie sich an die folgenden Verse aus Lamartines Gedicht L’Isolement:
Je parcours tous les points de l’immense étendue,
Et je dis: Nulle part le bonheur ne m’attend.41
Jason als die einzige männliche Hauptfigur der Diegese entstammt – im Unterschied zu Léna und Aniela – einer wohlhabenden Familie.42 Seine ursprüngliche Absicht, an der Sorbonne Geschichte zu studieren, hat er zugunsten eines Englischstudiums als Vorbereitung auf eine Dolmetschertätigkeit aufgegeben. Sein an mehreren Stellen der Diegese erwähntes Interesse an der Geschichte43 sieht er jedoch auch in einem Sprachenstudium berücksichtigt, da er – wie Wilhelm von Humboldt – Sprache offensichtlich nicht nur als Verständigungsmittel, sondern als ein erkenntnisförderndes, „Weltsicht“ vermittelndes Medium betrachtet: „[…] car il aimait passer d’une langue à une autre, d’un univers à un autre, comme il pouvait voir le passé à l’aune du présent ou le présent à l’aune du passé.“44 Mit seiner Begeisterung für Fremdsprachen und für Geschichte sowie seiner Entscheidung, sein Sprachenstudium in England zu intensivieren,45 ist Jason eher Aniela als Léna wesensverwandt. Während Aniela sich seit ihrer Jugend intensiv mit der französischen Sprache und Frankreich beschäftigt hat, war Léna weder an Fremdsprachen noch an einem Studium interessiert.46
Jason bewohnt als Student in Paris eine seinen Eltern gehörende „chambre de bonne“ mit einem daran angrenzenden, von den Eltern als Rumpelkammer genutzten weiteren Raum, den er der verzweifelt nach einer Schlafgelegenheit suchenden Aniela auf unbestimmte Zeit zur kostenlosen Nutzung anbietet.47 Zu den wenigen in den Text eingestreuten Angaben über die Beschaffenheit der Wohnung gehört die Beschreibung der spontanen Reaktion Lénas, als sie zum ersten Mal die Wohnung Jasons betritt:
[…] Léna eut un choc en découvrant la vue, le ciel restitué dont elle avait fini par oublier l’existence, à force de ne plus le voir, et c’était comme si l’immensité noire parsemée d’étoiles – mais où était la lune? – lui montrait la voie, lui disait l’horizon existe, il suffit de lever les yeux.48
In der Wohnung Jasons öffnet sich für Léna, der jeglicher Blick zum Himmel von ihrer eigenen Wohnung aus versperrt ist, im wörtlichen und übertragenen Sinn der verloren geglaubte Horizont. Gleichwohl setzt die Erzählinstanz mit der eingefügten Frage nach dem (nicht erkennbaren) Mond, der für Léna Freiheit und Unabhängigkeit bedeutet, ein das traurige Ende der Beziehung zwischen ihr und Jason vorausdeutendes Signal.