Kitabı oku: «Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots», sayfa 3

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Sowohl Matteo Majorano als auch Fabien Gris setzen sich mit Caspar-Friedrich-Strasse auseinander. Matteo Majorano charakterisiert den Roman als „[…] un enchevêtrement d’histoire (l’écroulement du mur de Berlin), de réflexion sur l’art, à partir des tableaux de Caspar Friedrich (sic!), et d’un amour impossible, à cause du mur infranchissable qui existe en chacun de nous“46.

Am Ende seines gedanklich vielschichtigen Aufsatzes fasst Fabien Gris die Art und Weise, in der Cécile Wajsbrot die Reflexion über Kunst und Geschichte fiktionalisiert hat, folgendermaßen zusammen:

Avec la fiction élaborée dans Caspar Friedrich Strasse, Cécile Wajsbrot fait partie de ces auteurs qui ont contribué à redéployer les canons de l’histoire de l’art selon de nouvelles logiques – anachroniques, fantomales et figurales –, qui échappent a priori au seul décryptage des intentions du peintre. En cela, n’a-t-elle pas suivi Friedrich lui-même qui, fidèle à l’esprit du romantisme, donnait ce conseil: „L’un des plus grands mérites et peut-être le plus grand mérite d’un artiste [est] de stimuler intellectuellement et d’éveiller des pensées, des sentiments et des sensations chez le spectateur, quand bien même ce ne serait pas les siennes“?47

Valeria Gramigna arbeitet in ihrer Studie über Stadtromane die besondere Bedeutung heraus, die in Fugue der Beziehung zwischen dem Text und den Fotografien von Brigitte Bauer sowie der Funktion der „écriture“ für die Erzählerin-Protagonistin zukommt.48 In einem Aufsatz mit einer ähnlichen Thematik konzentriert sich Teresa Baquedano Morales in dem auf das Werk von Cécile Wajsbrot bezogenen Abschnitt in Anlehnung an Augés Theorie der „non-lieux“ auf die Art und Weise, in der in Nation par Barbès das Schicksal Anielas mit der Métro als einem klassischen „non-lieu“ verknüpft ist.49

Obwohl Cécile Wajsbrot die Bedeutung des Raumes für ihr Schreiben deutlich betont hat50 und R. Böhm und M. Zimmermann das Erzählwerk Wajsbrots bereits 2010 als „literarische Suchbewegung“ bezeichnet haben, hat die Forschung die Romane und Erzählungen der Autorin bislang nicht systematisch unter diesem Aspekt in den Blick genommen. Die vorliegende Studie erfüllt folglich ein Desiderat, das umso dringender erscheint, da die Bedeutung von Raum und Bewegung für die Literatur insgesamt seit geraumer Zeit verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist.

1.4 Anmerkungen zur Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots in Frankreich und Deutschland

Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann haben bereits ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich bzgl. der Rezeption der Romane Cécile Wajsbrots deutliche Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland abzeichnen.1 Da eine gründliche und belastbare Antwort empirische Studien, die im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten sind, voraussetzte, seien hier nur zwei Beobachtungen zitiert, die erkennen lassen, dass die Erinnerung an den Holocaust in Frankreich und Deutschland bis in die jüngere Vergangenheit sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrief.

Bereits 2001 vermutete Katja Schubert, dass ein Roman wie La Trahison aufgrund der „[…] direkte[n] Auseinandersetzung im Frankreich der 90er Jahre zwischen einer Jüdin und einem Nichtjuden […] von einem französischen Publikum auch als eine Provokation und als eine neuartige, jedoch weitgehende Hinterfragung der eigenen Geschichte gelesen werden [konnte]“2. Das besondere deutsche Interesse für jene Romane Cécile Wajsbrots hingegen, die sich mit einer historischen Thematik auseinandersetzen, mag sich aus einem Phänomen erklären, das sie selber sehr bewusst wahrgenommen hat. Im ersten Kapitel ihrer Essaysammlung Berliner Ensemble zeigt sich die zwischen Paris und Berlin pendelnde Autorin angesichts des Berliner Stadtbildes dermaßen beeindruckt „[…] par la présence du passé, des plaques commémoratives rapportant les événements les plus sombres et par la croyance – concrétisée par le nombre de grues et de chantiers – en un avenir“, dass sie sich fragt: „Où est le présent?“3 Und in einem Gespräch mit Hélène Cixous stellt sie in einem Rückblick auf ihre inzwischen dreizehn Berliner Jahre fest, dass es in dieser Zeit wohl keinen einzigen Tag gegeben habe, an dem die Zeitungen oder das Radio nicht auf den Nationalsozialismus oder die Judenvernichtung – l’extermination – hingewiesen hätten. Zumindest zu Beginn habe sie für diese Einstellung eine stärkere Affinität empfunden als für „[…] l’amnésie et la bonne conscience – ou faut-il dire l’inconscience mauvaise – françaises“4. Unstrittig ist, dass in Deutschland aufgrund der historischen Schuld des Landes die Sensibilität für Themen, die auf den Holocaust bezogen sind, stärker ausgeprägt ist als in Frankreich, das seine durch die Kollaboration herbeigeführte Verstrickung in den Holocaust bekanntlich lange verdrängt hat.

Im Hinblick auf L’Île aux musées, den zweiten Haute Mer-Roman, stellen R. Böhm und M. Zimmermann die Frage, ob die schwache Resonanz in Frankreich der „[…] allzu radikalen ‚Verstimmlichung‘ und ‚Entkörperung‘ der Protagonisten, die für manchen Leser blass und konturenlos bleiben“,5 geschuldet sei. Im Übrigen dürfe man „gespannt sein“, ob das Interesse für die Romane Cécile Wajsbrots auf französischer Seite wachse, sobald der – mittlerweile immerhin in vier Bänden vorliegende – als Pentalogie geplante Haute Mer-Zyklus vollständig vorliege. Angesichts der Experimentierfreudigkeit der Autorin, die sich im Laufe ihrer Entwicklung immer stärker einer abstrakt-theoretischen Thematik zugewandt hat und deren sich von Roman zu Roman verändernde Erzählweise dem Leser eine beträchtliche Verstehensleistung abverlangt, ist (leider) weder für Frankreich noch für Deutschland zu erwarten, dass die Romane Cécile Wajsbrots Auflagenrekorde erzielen werden.

2 Darstellung des literarischen Raums

Ansgar Nünning hat den Terminus „Raumdarstellung“ als „[…] Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaften, Naturerscheinungen und Gegenständen in verschiedenen Gattungen“1 bezeichnet. Unter Bezugnahme auf Jurij Lotman weist Nünning darauf hin, dass die Funktion der Raumdarstellung in literarischen Texten sich keineswegs in einer „[…] Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds“2 erschöpfe, sondern, wie Natascha Würzbach betone, vielmehr auch als „[…] fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung […]“3 fungiere. In ähnlicher Weise argumentiert Karin Wenz, wenn sie feststellt, dass der literarische Raum zwar „als Kulisse für Handlungen“ diene, aber darüber hinaus „[…] zum Resonanzboden für Emotionen und Stimmungen und somit zur Projektionsfläche geistig-seelischer Inhalte […] oder […] zum Medium für symbolische oder mythische Weltentwürfe [werde]“.4 Wenn man sodann berücksichtigt, dass der Begriff „Raum“ grundsätzlich zunächst auch philosophisch zu hinterfragen ist, tut sich ein überaus weiter Frage- und Problemhorizont auf, der eine Konzentration auf die für die Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit relevanten Aspekte erfordert. Dabei geht es darum, jene Aspekte der Raumkonstitution zu beleuchten, die als Matrix für die Formulierung von Leitfragen im Hauptteil der Arbeit dienen können.

2.1 Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung

„Raum“ bzw. „Räumlichkeit“ haben nicht nur die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt,1 sie sind als eines der konstitutiven Elemente des Romans seit jeher auch Forschungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Allerdings wurde das Erkenntnisinteresse der „[…] historischen, archäologischen und philologischen Wissenschaften […]“ nach 1800 – nicht zuletzt unter dem Einfluss Hegels und des deutschen Idealismus – in stärkerem Maße „[…] durch temporalisierende Wissensformen […]“2 gelenkt und geprägt. Vor diesem Hintergrund hält Birgit Neumann das Urteil Böhmes, dass der „Raum wie ein unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde“, für nachvollziehbar.3 So spielt sowohl in älteren als auch in neueren Texten zur Erzähltheorie „Raum“ als eine der Grundkategorien der Erzähltheorie kaum eine Rolle,4 obwohl Doris Bachmann-Medick zu Recht darauf hinweist, dass „[i]n der Literaturwissenschaft […] der „erzählte Raum“– von der Phänomenologie bis zur Semiotik des literarischen Raums – schon längst vor dem spatial turn behandelt worden [ist]“5. Als unumstößliche Tatsache hat jedoch auch zu gelten, dass im Zuge der Integration der Philologien in den Bereich der Kulturwissenschaften die Bedeutung des Räumlichen in der Literatur im Allgemeinen und im Roman im Besonderen verstärkt in den Blick gerückt und neu akzentuiert und bewertet worden ist. Den ersten Anstoß dazu gab bereits im Jahre 1967 Michel Foucault in einem vor Architekten in Paris gehaltenen Vortrag über Heterotopien, den er mit einer klaren Abgrenzung des 20. vom 19. Jahrhundert einleitete:

Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte: Themen wie Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen, die gewaltige Zahl der Toten, die bedrohliche Abkühlung des Erdballs. […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.6

Ein Wandel hat auch im Hinblick auf das Verständnis der Kategorie „Raum“ an sich stattgefunden. Wenn Doris Bachmann-Medick allerdings unter Berufung auf „[…] postmoderne Geographen […]“ wie z.B. Edward W. Soja feststellt, dass „[…] in der neuen Konzeptualisierung […] Raum gerade nicht Territorialität, Behälter von Traditionen [meint]“, sondern vielmehr zu verstehen ist als „[…] soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten“,7 so mag man zwar die in der Definition durchscheinenden gesellschaftspolitischen Implikationen als Novität betrachten, der prozessual-dynamische Argumentationsansatz hingegen ist keineswegs neu. So hat Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen in einem großen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang,8 in nuce in einem 1930 gehaltenen Vortrag zum Thema Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum in Anlehnung an Leibniz „[…] die wahre Natur von Raum und Zeit […]“ mittels des Begriffs der „Ordnung“ bzw. der „Beziehung“ erklärt.9 Raum und Zeit sind für Cassirer, anders als noch für Kant, der in ihnen apriorisch Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis erkannte und sie zu „[…] existierenden Undingen […]“10 erklärte, durch den Begriff der „Ordnung“ der metaphysischen Kategorie der „Substanz“, also dem „Sein“, übergeordnet. „Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr ‚reale Relationen‘; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘, nicht an irgendeiner absoluten Wirklichkeit.“11 Die sich daraus ableitenden Konsequenzen sind eindeutig: Wenn Raum und Zeit keinen Seinscharakter haben, fehlt ihnen „[…] die absolute Identität, die Einheit und Einerleiheit in sich selbst, [die] den logischen Grundcharakter des Seins [bildet]“.12 Die Ordnung hingegen zeichnet sich aus durch „[…] das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit […]“ und der „[…] Mannigfaltigkeit […]“.13 Für Cassirer hat dies epistemologisch den großen Vorteil, dass „[u]nter der Herrschaft des Ordnungsbegriffs […]“14 Raum nicht mehr in seiner Dinghaftigkeit gesehen, sondern dass die Welt insgesamt als ein „[…] System von Ereignissen […]“ betrachtet wird, in dessen „[…] gesetzliche Ordnung […] Raum und Zeit als Bedingungen, als wesentliche und notwendige Momente [eingehen]“. 15 Damit praktiziert Cassirer eine große Offenheit des Denkens, deren anfängliche Unbestimmtheit und Unbegrenztheit jedoch durch den Ordnungsbegriff bestimmt und eingegrenzt werden. Dies geschieht einerseits auf der begrifflichen Ebene durch „[…] die reine Denkfunktion“, andererseits durch „[…] die Funktion der künstlerischen Anschauung und Darstellung“.16 Letztere erfüllt die kritische Funktion der „Sonderung“ und „Verknüpfung“ nicht begrifflich-theoretisch, sondern indem „[…] sie individuelle Gebilde erstehen [lässt], denen die schaffende Phantasie, aus der sie entstammen, den Atem des Lebens einhaucht, und die sie mit der ganzen Frische und Unmittelbarkeit des Lebens begabt“.17 Der autonome Charakter jedes einzelnen Kunstwerks könnte kaum stärker betont werden als durch die Hervorhebung seiner Individualität und Vitalität. Und so gilt für die Wahrnehmung und Gestaltung des Raums folgerichtig nicht eine „[…] schlechthin feststehende Raum-Anschauung […]“, vielmehr „[erhält] der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung […], innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet“.18 Diese Sinnordnung ist nicht als eine „[…] schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur […]“19 zu denken, sondern sie resultiert aus der jeweiligen Anschauungsweise, in und aus der sich Raum konstituiert. Cassirer unterscheidet den mythischen vom ästhetischen und theoretischen Raum. Der mythische Raum korrespondiert mit einer „Denkform“ und einem „Lebensgefühl“, die sich, wenn es z.B. darum geht, ein Oben und Unten oder die Himmelrichtungen zu unterscheiden, nicht an mathematisch-physikalischen Kategorien, sondern an „magischen Zügen“ und an der jedem Ort innewohnenden „eigentümlichen Atmosphäre“ orientieren.20 Sowohl die Ganzheit des mythischen Raumes als auch seine „[…] Gestaltung und Gliederung im einzelnen […]“ sind nur im Lichte der „[…] universellen ‚Sinnfunktion‘ des Mythos […]“21 zu verstehen. Der ästhetische Raum hingegen führt uns in „[…] die Sphäre der reinen Darstellung“. Und wiederum ist zu beachten, wie sich Cassirer die „Konstitution“ des ästhetischen Raums „[…] in den bildenden Künsten, in der Malerei, der Plastik, der Architektur […]“ (und sicherlich auch im literarischen Text) vorstellt. Auf keinen Fall handelt es sich um eine photographisch exakte Wiedergabe, „[…] ein bloßes passives ‚Nachbilden‘ der Welt […]“. Vielmehr entsteht „[…] ein neues ‚Verhältnis‘, in das sich der Mensch zur Welt setzt“.22 Cassirers Vorstellung vom (ästhetischen) Raum wird somit nicht von einem statischen Bild, von einer vorzufindenden Gegebenheit geprägt, vielmehr erwächst sie aus einer subjektbezogenen, das Verhältnis von Raum und Zeit systematisch aufeinander beziehenden Sichtweise.23 Verständlicherweise betont Cassirer daher auch, dass der ästhetische Raum im Unterschied zum theoretischen Raum, der nur „gedacht“ wird, echter „Lebensraum“ ist, der jedoch nicht „[…] aus der Kraft des reinen Denkens, sondern aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist“.24 Mit dem mythischen ist der ästhetische Raum insofern verwandt, als beide „[…] konkrete’ Weisen der Räumlichkeit sind“.25 Auch den künstlerischen Raum sieht Cassirer „[…] durchsetzt mit den intensivsten Ausdruckswerten“.26 Zugleich jedoch erkennt er eine gewachsene Distanz zwischen dem Subjekt und dem dargestellten Objekt, die darauf zurückzuführen ist, dass sich der Mensch durch „[…] zeitlich bestimmte, chronologische Reflexionsformen […]“ aus der „[…] Topologik des mythischen Lebensraums […]“27, d.h. aus dem „[…] Wechselspiel von Kräften, die [ihn] von außen her ergreifen und […] kraft ihrer affektiven Gewalt überwältigen“ 28, befreit. Dabei ist, wie Lüdeke betont,29 ästhetische Raumerfahrung nicht mit rational-analytischer Welterklärung zu verwechseln. Vielmehr liege der Vorzug des Ästhetischen darin, nicht der Zweckhaftigkeit und den Handlungszwängen alltäglicher Lebensbewältigung zu unterliegen, sondern „als Vermittlungs- und Reflexionsmedium“ zu dienen. Der Akt der ästhetischen Raumkonstitution ist ohne die Freiheit des Subjekts nicht vorstellbar. Cassirer hat jedoch auch die Konsequenzen im Blick, die sich aus dieser Freiheit ergeben:

Die echte ‚Vorstellung‘ ist immer zugleich Gegenüber-Stellung; sie geht aus vom Ich und entfaltet sich aus dessen bildenden Kräften; aber sie erkennt zugleich in dem Gebildeten ein eigenes Sein, ein eigenes Wesen und ein eigenes Gesetz – sie lässt es aus dem Ich erstehen, um es zugleich gemäß diesem Gesetz bestehen zu lassen und es in diesem objektiven Bestand anzuschauen. So ist der ästhetische Raum […] ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt.30

Mit dieser Definition der ästhetischen Raumkonstitution stellt Cassirer bereits eindeutig ein semiotisches Verständnis von Raum unter Beweis: Er formuliert die Vorstellung, dass ein schöpferisches Subjekt Raumsignifikation schafft oder, anders ausgedrückt, dass der Raum seine Struktur der sinnstiftenden, kreativen Tätigkeit eines „Ich“, also eines Künstlers verdankt, dann aber seins-, wesens- und gesetzmäßige Eigenständigkeit gewinnt.

Somit verdienen die folgenden Aspekte besondere Beachtung:31

 Jeder Akt der Raumkonstitution ist ein subjektbezogener Prozess. Die Raumwahrnehmung und -darstellung wird subjektiv und intersubjektiv durch mannigfaltige Prozesse beeinflusst, die ihrerseits durch zeitbedingte Faktoren, aber auch durch arbiträre Entscheidungen und unterschiedliche Gefühlslagen gesteuert werden können.

 Der im literarischen Text repräsentierte Raum wird bei jedem Leseakt neu konstituiert. Die daraus resultierende Vielfalt unterschiedlicher Raumdeutungen birgt insbesondere im Kontext der kolonialen und postkolonialen Literatur ein nicht unerhebliches Konfliktpotential.32 Dies gilt sicherlich mehr oder weniger für alle Texte, denen eine kontroverse historische Thematik zugrunde liegt.

 Die Subjektivität, Aspektgebundenheit und Zeitbedingtheit der Raumdarstellung können zur Folge haben, dass jeder an der Raumsemiosis Beteiligte „Aktant im wahrgenommenen Wirklichkeitsraum“33 ist bzw. werden kann, d.h. konkrete Handlungsfunktionen bzw. -interessen vertritt.

Der Prozess der Raumwahrnehmung und -darstellung ist ein komplexer Vorgang, bei dem die einen (künstlerischen) Raum konstituierende Person eine Vielzahl von auditiven, visuellen, olfaktorischen und haptisch-taktilen Sinneseindrücken aufzunehmen, zu verarbeiten, zu ordnen und nicht zuletzt mit früheren Erfahrungen zu korrelieren hat.34 Zu unterscheiden ist dabei u.a. zwischen der Wahrnehmung von

 Räumen, deren Erschließung Bewegung voraussetzt

 Geräuschen und Klängen, Formen und Farben, Düften und Gerüchen, Gewichten und Oberflächen

 Menschen und anderen Lebewesen, ihrem individuellen Aussehen und Verhalten

 einer Vielfalt von – symbolisch oder sprachlich-diskursiv – vermittelten Anordnungen der Raumdeutung bzw. -nutzung

Angesichts der Fülle von Eindrücken, die in den Prozess der Raumsemiosis eingehen, muss man sich den Akt der Raumkonstitution „[…] als eine komplexe kognitiv-semiotische Tätigkeit und [einen] holistischen, synästhetischen und bedeutungssynthetisierenden Akt, der zudem […] sehr selektiv ist“35, vorstellen. Das Merkmal der Selektivität gilt gerade auch für die literarische Darstellung von Räumen, da die komplexe Wahrnehmung eines Raumes, die stets auf einer Vielzahl von Sinneseindrücken sowie kognitiv vermittelter Daten und Informationen beruht, nur so sprachlich angemessen „übersetzbar“ ist. Auch wird man ein inhaltlich-darstellerisches Interesse an der Selektion bzw. an der Hervorhebung von Besonderheiten und Details voraussetzen dürfen.

Die Erinnerung an jegliche sich aus vielfältigen Sinneseindrücken ableitende Raumwahrnehmung ist eindeutig dominant visuell gesteuert. Dies berichten bereits Cicero und Quintilian in einer Geschichte über den Dichter Simonides, der an einem Festbankett teilnahm, dann aber aus dem Saal gerufen wurde. Kurze Zeit später stürzte die Saaldecke ein, Gastgeber und Gäste waren unter den Trümmern begraben und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Simonides vermochte jedoch mühelos alle Toten zu identifizieren, da er sich den Sitzplatz jedes Einzelnen eingeprägt hatte.36 Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung beschränkt sich jedoch nicht auf die detektivische Aufklärung spezieller räumlicher Gegebenheiten, sie dient vielmehr der Erschließung von Welt schlechthin. In welchem Maße dies für die Literaturwissenschaften relevant ist, hat insbesondere Jurij M. Lotman in seinen Überlegungen zur Semiotik des Raums aufgezeigt. Die Entwicklung seiner Gedanken soll daher in einem größeren Kontext nachgezeichnet werden.

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