Kitabı oku: «Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots», sayfa 9

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2.2.4 Die Figurenkonstellation im Spiegel chronotopischer Beziehungen

Die Erzählerin rückt ihre Trennung von „ihr“ – […] il fallait que je cesse de la voir […] – und ihre Überzeugung, dass „er“ an einer Beziehung zu ihr nicht mehr interessiert ist – […] de lui, il n’y avait pas grand-chose à attendre […] – 1 in einen chronotopisch geprägten Rahmen. Sie berichtet, am Jahrestag des Mauerfalls in einer grenznahen, aber „in ihrem Land“ gelegenen Stadt gewesen zu sein „[…] où des écrivains parlaient d’exil“.2 An demselben Tag trifft sie im Nachtzug auf eine Frau, die ihr eine abenteuerliche Geschichte über ihren Sohn erzählt, und des Nachts plagen sie Alpträume, in denen sich eine absurde und ansonsten blutrünstige, in ihr Schuldgefühle wachrufende Szenen abspielen.3 Der Moment ihrer Entscheidung, sich von „ihr“ und „ihm“ zu trennen, wird somit in den Kontext eines realen, umstürzenden historischen Ereignisses und erdachter, von der alltäglichen Normalität stark abweichender Geschehnisse gerückt. Die in ihrem Traum aufkommenden Schuldgefühle mögen durch ihre Trennungsentscheidung hervorgerufen werden.

Angesichts der zum Teil wortgleichen Wiederholung der auf den Jahrestag des Mauerfalls bezogenen Erinnerungen und eines erneuten Verweises auf dieses Ereignis am Ende des Romans ist davon auszugehen, dass die Erzählerin die Zäsur in der Diegese des Romans auf diese Weise nicht nur zeitlich situieren, sondern in einen auf ihr persönliches Dilemma bezogenen Rahmen stellen will. Da der Fall der Mauer jedoch weit über Deutschland und Europa hinaus überwiegend als ein glückliches historisches Ereignis betrachtet wird, wirken die von der Erzählerin imaginierten negativen Konnotationen auf den ersten Blick irritierend. Hilfreich für das Verständnis ist die bereits in B 2.2.2 zitierte Beobachtung der Erzählerin, dass für sie und ihre Geliebte „Entre les murs […] l’extrême liberté et l’extrême prison se confondaient […]“.

Für die Erzählerin dürften die beiden Teile des wiedervereinigten Deutschlands den von ihr in ihrer Beziehung zu „ihr“ erlebten Gegensatz zwischen „liberté“ und „prison“ widerspiegeln. Der Westen steht dabei für „extrême liberté“, der von Mauer und Stacheldraht eingehegte Osten für „extrême prison“. Diese Gegenüberstellung ist allerdings nicht auf eine Opposition zwischen „Gut“ und „Böse“ zu reduzieren, sondern bedeutet vielmehr den Gegensatz zwischen bis ins Extreme gesteigerten Haltungen.4 So werden die oben erwähnten Konnotationen verständlich: Prostitution und Mord, wo immer sie geschehen mögen, dienen als Beispiele für libertäres und kriminelles, die Würde des Menschen und sein Recht auf Unversehrtheit verachtendes Verhalten. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Erzählerin die Teilung Deutschlands, deren Ende sich mit dem Fall der Mauer ankündigt und tatsächlich zum Zeitpunkt des ersten Jahrestages besiegelt ist, als Spiegelung der Spaltung ihrer eigenen Person betrachtet. Diese manifestiert sich einerseits in ihrem sowohl „ihr“ als auch „ihm“ zugewandten erotischen Interesse, andererseits jedoch in ihrer sich zwischen den extremen Polen der „extrême liberté“ und der „extrême prison“ bewegenden Beziehung zu „ihr“ oder, anders ausgedrückt, ihrer zwischen „[…] l’ivresse d’errance et la gravité du destin“ bzw. „[u]ne liberté extrême, une solitude infinie“5 schwankenden Emotionalität. Wenn sie sich daher „[…] en exil de [sa] vie, de lui […] et elle“ sieht, so bedeutet dies – am Ende einer einjährigen Klärungsphase – „[…] que c’était terminé“ 6. Sie erlebt den Abschied von ihrem bisherigen Leben als eine Zeit des Rückzugs und Sich Verschanzens, des „[…] se barricader, se retirer sur ses terres, dans ses meubles, ne pas oublier de verrouiller les portes pour être sûr de verrouiller les cœurs“7. Für sie, die „le large, la navigation“ liebt und von sich selbst sagt „[…] que rien nulle part ne [la] retenait, dans aucun pays, ni celui que j’allais quitter ni celui où j’allais arriver. Une liberté extrême, une solitude infinie.“8, scheint diese Form der Immobilisierung und Abschottung zunächst den Verzicht auf jegliche Form einer „terre promise“ oder, anders gewendet, eine neue Art des selbstgewählten Exils zu bedeuten. „Beweglich“ hingegen sind die Schriftsteller, die über Exil sprechen, nicht im politischen Zentrum des Landes, sondern in einer grenznahen Stadt, um politischer Einflussnahme zu entgehen und grenzüberschreitendes Denken, das auch zur Aufgabe der Heimat führen mag, zu praktizieren. Unklar bleibt allerdings nicht nur, um welche Grenze es sich handelt, sondern auch, warum die Schriftsteller das Thema zu diesem Zeitpunkt aufgreifen. Ohne dass der Text einen Beleg dafür liefert, mag man – angesichts der spezifischen historischen Situation – nicht ganz ohne Grund spekulieren, dass die Erzählerin an Schriftsteller denkt, die – an der Grenze zwischen den ehemals getrennten Teilen Deutschlands – für einen „dritten“ gesellschaftlichen Weg plädieren und sich aus diesem Grunde von der Hauptstadt an die Peripherie begeben. Dies entspräche der Lotman’schen Theorie von der Ambivalenz der Grenze, die nicht nur trennt, sondern auch verbindet und zwischen den Kulturen der aneinander grenzenden Semiosphären vermittelt.9

2.2.5 Perspektivierende Zusammenfassung

Die Frage, ob die Erzählerin, die nicht von einem festen Ausgangspunkt, sondern schwimmenderweise über ihr Leben reflektiert, als eine im (frühen) Lotman’schen Sinn „bewegliche“, also die Grenze zwischen „disjunkten Räumen“ überschreitende Figur betrachtet werden kann, erfordert eine differenzierte Antwort. Ohne sich auch nur ansatzweise in expliziter Form mit den Moral- oder Wertvorstellungen der Gesellschaft, in der sie lebt, auseinanderzusetzen, betrachtet sie ihr eigenes Sexualverhalten als eine „transgression“. Sie überschreitet also eine, wie sie zu glauben scheint, durch anerkannte Normen gesetzte Grenze. Diese Wertung erfolgt unter Bezugnahme auf die durch die Erzählerin implizit vorgegebenen Normvorstellungen. Sie möchte sich als bisexuell lebende Frau jedoch aus ihrer Notlage befreien, indem sie sich in eine topographisch symbolisierte Äquidistanz zu beiden Geschlechtern begibt. Der ihren Wünschen gerecht werdende Ort liegt in in der Nähe von Quito, der Hauptstadt Ekuadors. Ungefähr zwanzig Kilometer nördlich befindet sich ein „La mitad del mundo“ genanntes Denkmal, an dem eine gelbe Linie den Äquator und damit den, wie man bei der Errichtung des Denkmals annahm, exakt gleichen Abstand zum Nord- und Südpol markiert.1 Wenn sie in diesem Kontext an Touristen denkt „[qui] se font photographier un pied de part et d’autre, un pied dans chaque hémisphère“2, verdeutlicht dieses Bild ihre illusionäre Wunschvorstellung eines durch eine „naturgegebene“ Linie normierten, quasi legalisierten Verhaltens. Somit ist es gerechtfertigt, ihren – nicht realisierten – „désir d’Équateur“ als eine angestrebte Form der Grenzüberschreitung im Lotman’schen Sinn zu betrachten, insofern ihr Ausgangs- und ihr Zielort zwei nach ihrer Vorstellung unterschiedlichen Wertvorstellungen verpflichtet sind. Da sie jedoch am ersten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer die Beziehungen zu „ihr“ und „ihm“ beendet, scheint sie auf den ersten Blick zu einer „unbeweglichen Figur“ geworden zu sein. Dieser Eindruck ist jedoch im Lichte des Romanendes zu relativieren, insofern ihr „désir d’Équateur“ keineswegs erloschen ist, vielmehr in ihren Träumen weiterlebt. So mag man angesichts des Erscheinungsdatums des Romans (1995) und der damals allgemein vorherrschenden Intoleranz gegenüber „besonderen“ sexuellen Orientierungen durchaus vermuten, dass die autodiegetische Erzählerin in Le Désir d’Équateur mit diesem von ihr nicht für realisierbar gehaltenen „Wunsch“ (auch) die Hoffnung auf eine Änderung der Haltung der Gesellschaft gegenüber dieser Frage zum Ausdruck bringt, ohne dass der individuelle Charakter ihrer Suchbewegung in Frage gestellt wird.

2.3 Mariane Klinger1 – Auf dem Rückweg von der Neuen in die Alte Welt

Die Vordergrundhandlung ist auf einen einzigen Schauplatz, die legendäre Queen Mary2, den Ozeandampfer, mit dem Mariane Klinger innerhalb von sechs Tagen von New York nach Southampton reist, konzentriert. Aufgrund der Bewegung des Schiffes auf ein bestimmtes Ziel hin ist der Rückweg Mariane Klingers von den USA nach England in Anlehnung an K. Lewin und O.F.Bollnow durchaus als hodologischer Raum bzw. als „Wegeraum“ zu bezeichnen, obwohl der Begriff i.d.R. nicht auf Seewege bezogen wird.3 Für die Frage nach der Funktion von Raum und Bewegung für die Handlungsweise der Figuren, insbesondere der nach einer Neuorientierung ihres Lebens suchenden Titelheldin, ist dies bedeutsam, da ihr Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht von einem fixen, unbeweglichen Punkt, sondern von einem sich stetig auf ein Ziel hin bewegenden Schiff seinen Ausgang nimmt.

Für Mariane Klinger, die sich die Zeit im Rückblick verräumlicht als eine Kreuzung unterschiedlicher Straßen und Flüsse vorstellt, ihre ihr aufgezwungene Wahlheimat in New York fluchtartig verlassen hat und nicht weiß, ob sie ihren Sohn verloren hat, bedeutet sein Verschwinden eine todesähnliche Erfahrung.4 Vor diesem auch durch andere Faktoren belasteten persönlichen Hintergrund und angesichts der chronotopischen Bedingungen vier Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs ist ihre Suche nach einem neuen Leben in der Alten Welt nicht vergleichbar mit ihrem abenteuerlichen, von großen Hoffnungen begleiteten Aufbruch in die Neue Welt im Jahre 1929.

Im Rahmen einer summarischen, die wesentlichen Leitfragen (B 1.2) integrierenden Analyse soll die Suchbewegung Marianes transparent dargestellt werden. Die Erinnerungen und die Zukunftsplanung der Protagonistin werden durch örtliche Fixpunkte oder zumindest durch grobe Zielvorstellungen gelenkt. Die von ihr reflektierte Vergangenheit gliedert sich in ihre der Abfahrt nach New York vorausgehende Zeit in ihrer Heimat Heidelberg und die Hinreise nach New York einerseits und die zwanzig in den USA verbrachten Jahre andererseits. Ergänzt wird die Retrospektive durch Reflexionen über Gegenwart und Zukunft.

2.3.1 Heidelberg und die Hinreise nach New York

Die Erzählinstanz widmet Heidelberg als der Herkunftsstadt Marianes und ihrer Freundin Judith nur wenige Zeilen, die sich gleichwohl im Tenor deutlich unterscheiden.1

Im ersten und zweiten Kapitel erscheint die Stadt im Kontext der Erinnerungen an die Abfahrt. Hier ist zu erfahren, dass die beiden Mädchen nur wenige Häuser voneinander entfernt in derselben Straße wohnten2 und gelegentlich die Neckarbrücke überquerten „[…] pour parvenir jusqu’au chemin des philosophes et là, en voyant les ruines du château sur l’autre rive veiller sur la ville comme un memento mori, elles se racontaient la vie qu’elles imaginaient, des voyages et des rêves“3. Das „romantische“ Heidelberg wird auf diese Weise konnotiert mit einer Erinnerung an die Vergänglichkeit allen Seins, zugleich aber auch mit den Zukunftsplänen und -träumen Marianes und Judiths, die durch den Anblick der Schlossruine nicht nur nicht unmöglich gemacht, sondern sogar angeregt werden. Die Zeugnisse der Vergangenheit fungieren in der Gegenwart als Brücken in die Zukunft. Positive Erwartungen weckt überdies der Neckar. Wenn die Mädchen sich auf dem Philosophenweg in südlicher Richtung auf seine Quelle zu bewegten, wandten sich ihre Gedanken und Träume gleichwohl in die umgekehrte Richtung, weit über jenen Punkt hinaus, an dem der Fluss bei Mannheim in den Rhein einmündet. Es scheint, als ob sich ihr Aufbruch in die Ferne, aber auch ihre Suche nach einem eigenen Weg bereits am Horizont abzeichneten:

Remontant vers la source, le fleuve approchait de la mer pourtant, s’élargissait, et les bateaux convergeaient, plus nombreux, pour aboutir au port où les chantiers navals construisaient les paquebots qui viendraient hanter d’autres mers, habités de passagers à la recherche d’eux-mêmes et de fuites, émigrants, voyageurs.4

In einem seltsamen Kontrast zu dem zwar nur sehr skizzenhaft, aber unmissverständlich positiv dargestellten Ambiente Heidelbergs, das dem stark verbreiteten „Image“ der zum Träumen einladenden Stadt entspricht, steht das Projekt der „mariages arrangés“, die, wie nur aus Randbemerkungen zu erfahren ist, auf Seiten beider Familien wirtschaftlich motiviert sind.

Mariane und ihre Freundin Judith sind, als sie im Februar 1929 nach New York aufbrechen, 18 Jahre alt. Die Erzählungen eines Passagiers, dass sich zu dieser Jahreszeit riesige, sich von den Gletschern Grönlands abspaltende Eisberge den Schiffen auf der Transatlantikroute in den Weg stellen könnten, und sein Hinweis auf historisch belegte Havarien vermögen sie nicht zu beunruhigen, wirken im Nachhinein jedoch wie eine proleptische Ankündigung künftigen Unheils. Den beiden jungen Frauen vermag dies nichts anzuhaben. „[…] pendant la traversée de l’Atlantique, entre l’Ancien et le Nouveau Monde, sur le bateau, j’ai cru à la liberté […]“5, erinnert sich Mariane auf der Rückreise. Und als die beiden Freundinnen – noch vor dem von Judith angeregten Tausch der ihnen zuge­dachten Ehemänner – beim Anblick der Fotos ihrer künftigen Partner wohl nicht so recht an „[…] l’aventure avec lui […]“6 zu glauben vermögen, zerstreut Judith alle Bedenken mit ihrem Lachen und der Bemerkung: „[…] il y aura plus d’air qu’à Heidelberg“7, einer Aussage, die vermuten lässt, dass das geistige Klima in der Stadt nicht nur durch ökonomische Zwänge eingeengt, sondern obendrein durch den autoritären Erziehungsstil der Eltern belastet war. Die Unbekümmertheit und Sorglosigkeit der beiden jungen Damen scheinen indes während der Überfahrt keine Grenzen zu kennen – Elles riaient de tout, du passager du Gallia ou de leur fiancé […] – 8, allerdings deutet die Erzählinstanz auch feine Unterschiede zwischen den beiden an:

Judith laissait ses cheveux flotter, et sous la bise de février elle se sentait au printemps, et quand elle se penchait pour regarder l’océan, ses yeux se teintaient d’un vert plus sombre, un peu de mystère voilait son regard – à la recherche de quelque chose. Elle relevait la tête et Mariane lui enviait la force qu’elle paraissait puiser dans les eaux tumultueuses.9

Die Umstände der Überfahrt lassen nicht nur Judiths größere Härte und Belastbarkeit hervortreten, es umgibt sie auch ein Schleier des Geheimnisvollen, Undurchdringlichen und Unberechenbaren. Der sich zwei Jahre nach der Ankunft in New York vollziehende Bruch zwischen den beiden Frauen wird damit proleptisch vorweggenommen.

2.3.2 New York vs. Heidelberg

Ein weiteres Mal taucht Heidelberg im zweiten Kapitel auf.1 Mariane erinnert sich, dass ihr Sohn John sie einige Male gebeten hat, ihm von Heidelberg zu erzählen. Allein der Name der Stadt habe ihr Herz höher schlagen lassen und in ihr den Wunsch geweckt, mit jemandem Deutsch zu sprechen. Da dies mit John nicht möglich war, vermochte sie seine Fragen nicht so zu beantworten, wie sie es eigentlich wollte: „[…] elle ne parvenait pas à lui répondre […].“2 Sie lieferte nüchterne Informationen, ohne in ihrer Muttersprache „ihr Herz sprechen lassen“ zu können. So wurde Heidelberg in ihrer Antwort zu „[…] une ville comme une autre […]“3 degradiert. Wenn John besonders drängte, erwähnte sie auch noch die Schlossruine, den Neckar und den Philosophenweg und sogar das etwas weiter stromaufwärts gelegene Tübingen mit Hölderlins berühmtem Turm. Und wenn John Worte wie Hölderlin und Tübingen wiederholte, als schlössen sie ein Geheimnis ein, dann hatte Mariane den deprimierenden Eindruck „[…] qu’elle aussi, comme le poète, se trouvait enfermée dans une tour, depuis bien des années“4. In diesen Momenten begreift sie, wie stark sie sprachlich und kulturell in ihrer Heimatstadt Heidelberg verwurzelt und wie radikal sie in New York von dieser sie prägenden Verbindung getrennt ist.

Das Beispiel Heidelbergs zeigt sehr deutlich, wie sich Marianes Blick auf die Welt durch ihr Leben in New York verändert hat. Dass sie ihre innere Mitte verloren hat, wird ihr – unter dem noch frischen Eindruck der von Judith angeregten und von ihr hingenommenen Vertauschung der ihnen zugedachten Ehemänner – bereits bewusst, als sie Harry Loom zum ersten Mal sieht. Am Tag ihrer Hochzeit ist sie davon überzeugt „[…] que ce oui ne lui était pas destiné, qu’elle vivait en dehors de sa vie – mais sa vie, où était-elle?“5. Den Namen „Mariane Loom“ empfindet sie als „[…] un masque supplémentaire posé sur sa vraie vie“6. Im Rückblick auf die sie frustrierende Helferinnentätigkeit in der Praxis ihres Mannes bilanziert sie, dass „[…] de vingt années à New York il ne lui restait rien, pas une rue, une maison, un magasin, pas un être à qui elle se serait attachée, pas une aventure, la grande ville était un grand désert, l’erreur était plus vaste“7. Die von ihr erlebte Wirklichkeit steht somit in schärfstem Kontrast zur Erwartung eines „[…] espace inconnu, qui laissait cours à l’inspiration“, die Judith in Heidelberg im Anblick eines „[…] horizon […] bas, cerné par la forêt […]“8 auch in ihr geweckt hatte. Die Begriffe „espace inconnu“ und „un grand désert“ veranschaulichen, dass Marianes Hoffnungen auf eine ihren Geist anregende, ihr Leben bereichernde Zukunft in einer Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten und ihre Bewertung der erlebten Zeit in krassem Gegensatz zueinander stehen. Durch den Gebrauch einer räumlichen Begrifflichkeit unterstreicht die Erzählerin, dass Mariane, wie oben bereits angedeutet, ihre zwanzig Jahre in New York als eine Zeit der inneren Gefangenschaft betrachtet.

2.3.3 Eine Reise in die Ungewissheit

Inspiriert durch die endlos wirkende Weite des Meeres, erlebt Mariane den Beginn ihrer Rückreise als einen fast sakral anmutenden Akt der Reinwaschung ihres Lebens, als eine Auslöschung der bedrückenden Erinnerungen an ihr persönlich-berufliches Umfeld und als ein Einatmen von Freiheit.1 In einem Gespräch mit dem Engländer John Dee erklärt sie dieses Gefühl der Befreiung mit den Worten: „[…] j’ai l’impression de sortir de prison et de voir le soleil pour la première fois […].“2 Nachdem sie eine Rückkehr nach Amerika kategorisch ausgeschlossen hat und John Dee sie daraufhin auf ihren zurückgebliebenen Mann anspricht, erklärt sie unmissverständlich: „Il fait partie de ce que je ne veux plus retrouver […].“3 Gänzlich unbestimmt bleibt indes zunächst das Ziel ihrer Reise. Mit nur einem Koffer unterwegs – […] moins chargée qu’au départ – et plus libre – stellt sie lapidar fest: „[…] je ne vais vers rien.“4

Es entspricht Marianes Bedürfnis nach Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung des Lebens, dass die Rückreise nach Europa, anders als die Hinreise, „[…] dans le sens du temps […]“5 gerichtet ist. Gleichzeitig jedoch wird sie sich ihrer Unsicherheit bewusst, die von der Erzählinstanz in räumlich inspirierter Metaphorik zum Ausdruck gebracht wird. So spürt sie in der Nähe des Exilanten Thomas Mann „[…] l’immensité du gouffre qui séparait la vie qu’elle avait menée de la vie que menaient d’autres, l’impossible rencontre des sphères […]“6, und bei der Frage Peter Lemms, ob sie etwas in New York zurückgelassen habe, fühlt sie sich, eingeholt von der Erinnerung an den von ihr verlassenen Ehemann und den Sohn, wie von einem mächtigen Strudel in einen tiefen Abgrund gezogen.7

Mariane leidet jedoch nicht nur unter der aus „[…] vingt années de mensonge […]“8 resultierenden Veränderung ihrer Persönlichkeit, sondern auch unter den gravierenden Folgen des Krieges, die sie bis in den Schlaf verfolgen:

Dans les draps blancs où elle ne dormait pas, elle voyait le monde se diviser en deux, les gens plutôt, les innocents et les autres, ceux qui avaient cédé à la tentation et ceux qui n’avaient pas cédé […] Harry était un innocent, John Dee aussi, mais pas elle, pas Judith […] Et dans ce bar où elle avait vu Thomas Mann, elle se demandait à cet instant si la division n’était pas entre vainqueurs et vaincus, de la guerre, certes, mais d’une autre guerre aussi, plus intérieure.9

Die Teilung der Welt lässt sich, folgt man der Argumentation Marianes, durchaus unterschiedlich erklären, je nachdem, ob man Kriterien der persönlichen Schuld bzw. Unschuld anwendet oder aber sich an der durch das Ergebnis der Kriege geschaffenen Unterteilung in Sieger und Besiegte orientiert. Dass Mariane davon ausgeht, dass die Sieger gemeinhin als unschuldig, die Besiegten als schuldig gelten, erhellt aus ihrer an Dee gerichteten Bemerkung: „[…] la vie est simple pour vous, vous faites partie d’un pays vainqueur.“10 Als Dee ihr entgegnet: „Vous aussi […] l’Amérique“11, distanziert sich Mariane von dieser – sicherlich freundlich gemeinten – Zuordnung mit den Worten: „En vingt ans, il n’est pas une seconde où je me sois sentie chez moi. J’ai vu disparaître la statue de la Liberté avec un soulagement, vous ne pouvez pas imaginer.“12 Auf den ergänzenden Hinweis Dees, dass sie während der fraglichen Zeit nicht in Deutschland gewesen sei, gibt Mariane zu bedenken: „Je n’étais pas là-bas mais je suis de là-bas, de ce pays, de cette langue.“13 Und sie fügt hinzu, dass sie sich gedrängt fühle, ihr in Ruinen liegendes Land, das von amerikanischen Offizieren mit Pompei verglichen werde, zu besuchen. – Mit ihren Äußerungen beklagt sie nicht nur erneut die von ihr als eine Zeit der Gefangenschaft empfundenen Jahre in New York, sie distanziert sich darüber hinaus von dem ganzen Land, dem sie implizit vorwirft, seinen Einwanderern bei ihrer Ankunft mit dem in Bronze gegossenen Pathos der Freiheitsstatue ein utopisches Bild vom Leben in den USA zu vermitteln. Gleichzeitig identifiziert sie sich mit ihrem Herkunftsland Deutschland und seiner Sprache als einem wesentlichen Merkmal kultureller Identität und lässt damit deutlicher erkennen, was sie unter jener in dem Gespräch mit John Dee erwähnten „guerre intérieure“ versteht. Sie war zwar während der Schreckensjahre nicht in ihrer Heimat, betrachtet diese Zeit jedoch als eine „[…] vie de fausseté“14 und sucht daher nach einem neuen Weg.

Dabei erweist sich für Mariane ein Blick auf die Gesellschaft an Bord des Schiffes eher als verwirrend.15 Während Joan Hawks und andere Angehörige der Schickeria sich in oberflächlicher Selbstzufriedenheit einem trivialen musikalischen Vergnügen hingeben – […] chacun paraissait se contenter de la surface sans chercher à voir dessous – 16, diskutieren Hans Vögli und John Dee ernsthaft über die Einheit Deutschlands, die der Eine befürwortet, der Andere strikt ablehnt. Mariane entdeckt Bezüge zwischen dieser röntgenhaft „unter die Haut gehenden“, tiefschürfenden Analyse und der europäischen Trümmerlandschaft und sieht sich selbst als Gefangene, eingeschlossen und ohne Hoffnung auf Befreiung: „[…] elle se sentait cernée, entourée de grillages ou de fils barbelés, et frapper à une porte qui ne s’ouvrirait pas puisqu’elle n’existait pas.“17 Ihre Suche nach Wahrheit droht zu scheitern, auch angesichts ihrer eigenen Vergangenheit und im Anblick einer lächelnden, alle Umgangsformen respektierenden Gesellschaft: „Sa quête de vérité se désintégrait – quelle vérité, vingt années de mensonge et les ruines, partout – et au milieu du désastre, tout le monde souriait, en tenue impeccable.“18

In ihrem eigenen Innern tobt eine „guerre intérieure“ um die Frage nach persönlicher Schuld und Verantwortung, die in einen Entschluss zum Handeln einmündet. Für Mariane bedeutet dies die Verpflichtung zum Aufbruch in die Richtung ihrer alten Heimat. Die Erinnerung an ihren Sohn John wirkt immer wieder belastend, vermag sie aber nicht zurückzuhalten.

Wie sehr die Teilung der Welt in zwei Hälften gerade auch die Deutschen in ihren konkreten Lebensvollzügen treffen wird, sagt John Dee voraus, wenn er der sich nach dem Gebrauch ihrer Muttersprache sehnenden Mariane erklärt: „[…] et dans votre pays, Mariane, ce qui va se passer, un pays coupé en deux, une ville coupée en deux. Il y aura des familles, des amis qui ne pourront plus se voir ou qui devront traverser une frontière, présenter des papiers pour parler la même langue.“19

Mariane, die zum Zeitpunkt ihrer Rückreise seit 20 Jahren nicht mehr Deutsch gesprochen hat, erinnert sich, vor sechs oder sieben Jahren die Bände I und II von Thomas Manns Joseph und seine Brüder in einer Bücherei in Manhattan erstanden zu haben.20 Für sie war dieser Kauf, obwohl es sich um eine englische Übersetzung handelte, „[…] le signe qu’elle attendait depuis des années, une lumière dans ses ténèbres […] comme la terre d’un nouveau continent que l’on va aborder“21. An Bord des Schiffes ist der Exilant Thomas Mann, Autor eines Romans über den alttestamentarischen Exilanten Joseph, dessen Auslieferung durch seine Brüder an einen ismaelitischen Sklavenhändler der Exilant Peter Lemm mit den „mariages arrangés“ Marianes und Judiths vergleicht, für sie eine Person, deren Anwesenheit „[…] lui indiquait la voie à suivre“22. Als einziges Buch hat sie diesen Roman mitgenommen, da die in ihm bezeugte „[…] existence de voies impénétrables, de chemins détournés […]“ ihrer „[…] vision du monde […]“23 entspricht. So stellt sie sich vor, dass, sollte sie Thomas Mann auf der Schiffsbrücke treffen, sie ihm folgendes sagen würde:

C’est en lisant Joseph […] que j’ai compris qu’il fallait partir pour vivre. […] Joseph est parti, il a quitté son père, et puis ses frères, et lui qui, dans son pays, n’était qu’un membre de la famille, là-bas, en Égypte, descendu au plus bas il montait au plus haut, il observait les dieux, leurs coutumes et leurs songes, il expliquait les choses autrement, et son regard étranger éclaircissait le monde. Car le départ ne suffit pas, il faut en faire quelque chose, et moi, je n’ai rien décidé au cours de ma vie – ma première décision (Hervorhebung H.H.), je l’ai prise il y a quelques jours, et ce fut de partir, aussi. Vous voyez, c’est pour cela que je crois que John a eu raison.24

Mariane fühlt sich dem Schicksal Josephs verbunden, insofern sie und er im Alter von 18 Jahren ihre Heimat verlassen mussten. Darüber hinaus wird er für sie zu einem beneideten Vorbild, da er sich, anders als sie, die sich in ihrer Ehe und in ihrem ganzen Leben in New York unfrei fühlte, in seiner neuen Heimat Ägypten nicht von der Gesellschaft isolierte, sondern die Autoritäten und Bräuche des Landes achtete und bekanntlich bis zum angesehenen Berater des Pharaos aufstieg. Als seine Brüder in einer Zeit der Hungersnot nach Ägypten kamen und ihn um Hilfe baten, fanden sie bei ihm „[…] la nourriture matérielle et spirituelle […]“25, also eine nicht nur den leiblichen, sondern auch den geistigen Hunger stillende Nahrung. Und als die Brüder ihn schließlich zu ihrem Vater Jakob kurz vor dessen Tod in die Heimat zurückführten, bedeutete dies für alle, dass „[…] l’unité s’était reformée […]“26. Vor diesem Hintergrund bedeutet die Entscheidung Marianes zum Aufbruch ihren – verspäteten – Eintritt in die Selbstständigkeit des Erwachsenenalters. Ihre verständnisvolle Hinnahme des Verschwindens ihres Sohnes ist nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie: Da sie ihrem Sohn ein Leben des Stillstands und der Erstarrung ersparen will, das dem ihrigen ähnelt, heißt sie seinen unangekündigten, die Eltern in Ratlosigkeit stürzenden Aufbruch nachträglich gut.

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