Kitabı oku: «Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots», sayfa 8

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2.1.3 Perspektivierende Zusammenfassung

Abschließend soll die Bedeutung, die der Suchbewegung der Figuren und dem wechselseitigen Verhältnis zwischen den Schauplätzen über die Ebene der „histoire“ hinaus zukommt, näher betrachtet werden.

Paris ist der Ort, an dem sich – in der in Rückblicken erfassten Hintergrundhandlung – das sich regelmäßig sonntags treffende Quartett konstituiert hat und später auflöst. Die Auflösung der Gruppe ist, wie oben ausgeführt, „ihrem“ Überdruss an den „regards de biais“1 der drei männlichen Mitglieder des Quartetts geschuldet, deren Verhalten durch ihren Lebens- und Arbeitsraum maßgeblich geprägt ist:

 François als „ihr“ Ehemann scheint in seinem Antiquitätenladen durch die Beschäftigung mit „toten“ Gegenständen der Vergangenheit sowohl der Gegenwart als auch der Zukunft entrückt. Umgeben von Spiegeln, steht er in der Gefahr, die ihm begegnenden Personen nur in reflektierten Ausschnitten wahrzunehmen. Aus der Sicht Vincents ist er „[…] un sédentaire […] un sédentaire dans l’âme, incapable de changer d’avis une fois qu’il se fixait sur un objet, un lieu, une personne […]“2. Dass er der Einladung Gilles’ zu einem Treffen in seinem Haus am Meer ohne Begeisterung folgt, sie aber für notwendig hält,3 ist ein Zeichen für seine pragmatisch motivierte Einsicht in seine Lage. Der Tod seiner Frau, die ihn telefonisch aus Brasilien über ihre Scheidungsabsichten informiert hat,4 ist für ihn offensichtlich nicht mehr als der Schlussstrich unter einer ohnehin abgestorbenen Beziehung. Im Sinne Lotmans ist er eine „unbewegliche Figur“.

 Der Archivar Hugo, dessen Liebe von „ihr“ nicht angemessen erwidert wird, betrachtet sich als „Archäologen, Geologen“ der Zeit, eine bildhafte Formulierung, in der sich seine Sicht der Verräumlichung von Vergangenheit, aber auch sein forschendes Suchen manifestieren. Sein „ihr“ gegebenes Versprechen „Je serai ta mémoire“ löst er auf „seine“ Art ein, indem er „ihr“ im (Frei)tod bis auf den Grund des Meeres folgt, um so einerseits auf ihr Sterben und andererseits auf seine Liebe zu ihr aufmerksam zu machen. Seine Erinnerung an „sie“ findet ihren Ausdruck in seiner symbolischen Bemühung um räumliche Nähe im Tode. Aufgrund der Radikalität seines Handelns, seines selbstbestimmten Überschreitens der Grenze zwischen Leben und Tod ist er eine im Lotman’schen Sinn „bewegliche Figur“.

 Vincent, der als geschäftlich Reisender und somit von vornherein als Bewegungsfigur vorgestellt wird, „umwirbt“ seine Schwester zu einem frühen Zeitpunkt mit der Einladung, ihn auf Reisen zu begleiten. „Sie“ möchte nicht von ihm verlassen werden, doch

[…] il était parti, Vincent, le premier, la mort dans l’âme, le voyage dans

les yeux.

Vers où? Les continents ne pouvaient pas l’assouvir, il partait pour le che-

min le plus long, la recherche de ce qu’il avait, la recherche de ce qu’il

fuyait.“5

Vincent wird zu Beginn des Romans von der Erzählinstanz kryptisch als eine suchende Person beschrieben, die, wie wir durch sein Gespräch mit Hugo erfahren, das, was sie sucht, nämlich die Liebe zur Schwester, bereits besitzt, aber davor zunächst zu fliehen scheint. Während seiner und ihrer Reise von Paris nach Brasilien, die Gilles als Reise „au bout du monde“6 betrachtet, kommt es erst unter dem Einfluss der oben geschilderten Bedingungen vor Ort zum Tabubruch. Dadurch entstehen zwei durch den Atlantik und tiefe sozio-kulturelle Unterschiede getrennte „disjunkte Räume“ im Sinne Lotmans. Vincent und seine Schwester haben somit im wörtlichen und übertragenen Sinn „Grenzen“ überschritten und sind dementsprechend als „bewegliche Figuren“ zu betrachten. Auf ihre Grenzüberschreitung folgt die Katastrophe des Flugzeugabsturzes über dem Atlantik, bei dem die Schwester ihr Leben lässt. Die „doppelte Grenzüberschreitung“ des Geschwisterpaars bildet den „Sujetkern“ des Romans. Auf Hugo wirkt Vincents Offenlegung des inzestuösen Verhältnisses zu seiner Schwester wie eine reinigende Katharsis, die in der von Hugo gesuchten „Vereinigung“ mit ihr im Wasser des Atlantik symbolisch vollzogen wird.

 Der Theaterregisseur Gilles, der „sie“ zwar kennen lernt, sich von ihrer blendenden und im Spiegel reflektierten Schönheit beeindruckt zeigt und vergeblich versucht, „sie“ für ein Theaterprojekt zu gewinnen, scheint als Nichtmitglied des (ursprünglichen) Quartetts zwar nur eine Randfigur zu sein. Aufgrund seines Berufes ist er jedoch prädestiniert, zu dem Wiedersehenstreffen von Paris aus an einen Ort einzuladen, der sich durch die Nähe und Distanz zum Atlantik gleichermaßen auszeichnet und so zwischen „le large“, der Sehnsucht nach Weite und Entgrenzung des Lebens einerseits und der Gebundenheit an den Ort, vertraute Verhältnisse und Konventionen andererseits vermittelt. Er wird als Initiator des Treffens am Meer zum Regisseur einer Rekonstruktion der Suchbewegungen, die erst dort transparent und gleichzeitig beendet werden.

2.2 Le Désir d’Équateur1 – Eine Suchbewegung „zwischen Welten“

Eine summarische Analyse der Suchbewegungen in dem 1995 erschienenen Roman Le Désir d’Équateur sollte der Frage nachgehen, ob und ggf. wie Raum und Bewegung angesichts der Verschränkung realer und virtueller Ziele und der zeitgeschichtlichen Umbrüche das Verhalten der handelnden Figur(en) beeinflussen oder aber in welcher Form die Verhaltensweise der agierenden Figur(en) durch räumliche Konstellationen oder eine räumlich geprägte Bildersprache versinnbildlicht wird. Da die namenlos bleibende autodiegetische Erzählerin sich selbst in den Mittelpunkt der als Suchbewegung inszenierten Diegese rückt und alle anderen – ebenfalls namenlos bleibenden – Personen, insbesondere die Frau und der Mann, mit denen sie über einen längeren Zeitraum über eine intime Beziehung verbunden ist, nur durch ihr Verhältnis zu ihr definiert werden, ist es naheliegend, in einem perspektivierenden Rückblick die Frage der „Beweglichkeit“ auf die Erzählerin zu fokussieren.

2.2.1 Reale Schauplätze

„Je préfère aller à la piscine pour pleurer […]“1 – mit diesen Worten eröffnet die Erzählerin die Schilderung ihrer gescheiterten Beziehungen und erklärt – mit einer unüberhörbaren alliterativen Hervorhebung – das Schwimmbad zu ihrem bevorzugten Aufenthaltsort, an dem sie Trauerarbeit leistet, indem sie mit jedem Schwimmzug ihre Erinnerungen zu verdrängen versucht.2 Ihr ist sehr wohl bewusst, dass sie beim Schwimmen auf jegliche Bodenhaftung verzichtet. Beunruhigend findet sie dies jedoch nicht, vielmehr stört sie, dass sie – im Schwimmbad und andernorts – völlig unvermutet von Erinnerungen an „sie“, ihre Geliebte, heimgesucht wird.3 Gleichwohl kennzeichnet es ihre Verlorenheit und Verzweiflung, dass sie in ihrem von Krisen und Brüchen beherrschten Leben ein Schwimmbad, konkret: das Wasser als die einzige Kontinuität versprechende Umgebung betrachtet.4 Der durch das Wasser erzeugte Eindruck des Liquiden, nicht Greifbaren kennzeichnet in inhaltlicher Hinsicht die innere Instabilität, den Mangel an Beheimatung und Verortung der Erzählerin, deren Gegenwart, also die Zeit des Erzählens, überdies durch einen Eindruck der Leere und die ernüchternde mediale Wirkung des II. Golfkriegs verdunkelt wird.5 Gleichwohl generieren das Wasser, das Schwimmen und Tauchen im Verlauf des Textes eine Fülle von Bildfolgen, die eindeutig erotische Konnotationen evozieren.

Über den Wohn-, Arbeits- bzw. Aufenthaltsort ihrer bzw. ihres Geliebten teilt die Erzählerin relativ wenig mit. Um zu „ihr“ zu gelangen, fährt sie innerhalb von Paris vom Norden in den Süden und legt diese große Strecke offensichtlich hochmotiviert zurück: „Ces parcours, du nord au sud, je m’en souviens. Tout traverser, aller d’un bout à l’autre, je sais pourquoi.“6 Von „ihm“ wird „sie“ einmal in der kalten Apparateatmosphäre einer nicht lokalisierten Arztpraxis empfangen, in der sie – zunächst allein gelassen – eine „[…] tentation de partir […]“7 spürt, um unmittelbar nach seinem Erscheinen bereitwillig seinen überfallartigen sexuellen Avancen nachzugeben.8

Näher beschrieben werden die o.g. Schauplätze genauso wenig wie die sowohl mit „ihm“ als auch mit „ihr“ aufgesuchten Ziele „[…] à la mer […]“9. Dies bedeutet, dass diese Orte ausschließlich funktional als Verankerung der Handlung dienen. Eine Ausnahme allerdings bildet die Reise, die die Erzählerin mit „ihm“ nach Istanbul unternimmt.10 In der Europa und Asien verbindenden Stadt verwischen sich die Grenzen zwischen den Kontinenten – […] l’Europe comme l’Asie prenaient des contours imprécis […] – 11 und die Erzählerin stellt erfreut fest „[…] qu’il était possible de rêver ensemble, de regarder dans la même direction – la main dans la main, vouloir la même chose“12. Sowenig Europa und Asien am Bosporus in Opposition zueinander stehen, sowenig trennt die unterschiedlichen Geschlechter: „[…] la traversée nous unissait, entre Europe et Asie, dans l’un de ces villages […] nous aurions pu vivre […].“13 Die Erzählerin betont sehr bewusst die „Normalität“ der persönlichen Beziehung, indem sie dem gemeinsam genutzten Hotelzimmer mit einem „[…] lit ancien […]“ und fehlendem Anrufbeantworter den Anstrich des Altertümlichen und obendrein des sittlich Unbedenklichen verleiht: „[…] la fenêtre donnant sur le jardin abrita notre envie, enlacés nous roulions vers les rivages du soir, le village de pêcheurs et sa vie, où nous aurions abandonné la nôtre.“14

Gleichwohl gelingt es der Erzählerin in Istanbul nicht, ihre Aufmerksamkeit ungeteilt nur auf „ihn“ zu lenken. Bei der Ankunft in der Stadt am Bosporus hat sie, erotisch sensibilisiert, in seiner Begleitung mit dem Anblick von Minaretten gerechnet, schaut nun aber auch auf „[…]les coupoles des mosquées […]“15 und „[…] des dômes largement étalés […]“16, die in ihr nicht nur Erinnerungen an „sie“, sondern geradezu das sehnsüchtige Verlangen nach „[…] ses bras, son é­treinte, ses mains, et, au-delà, son corps […]“17 wecken. Dass es sich dabei um einen, wie sie sagt, einer „Obsession“ ähnelnden Zustand handelt, verdeutlicht ihre Feststellung: „S’il m’avait laissée seule, j’aurais erré, je crois, de mosquée en mosquée, à sa recherche, et je serais tombée, quelque part, en extase.“18

2.2.2 Reisebewegungen
Reiseziele und Bewegungsvorlieben des geliebten Mannes und der Erzählerin

Indem die Erzählerin sich im Kontext der Schilderung der Reise nach Istanbul über ihre eigenen und die Bewegungsvorlieben des von ihr geliebten Mannes äußert, entwirft sie rudimentäre Charakterskizzen:

Il aimait les îles désertes, les endroits isolés, les rochers escarpés, les pentes abruptes, surtout l’aridité, l’escalade – il recherchait l’exploit. Moi, je préférais le large et la navigation – qu’il appelait errance – les grandes étendues, mais pas arides […]1

Eine kurze Zeit nach der Rückkehr aus Istanbul vervollständigt die Erzählerin das Bild:

Quelque temps après le retour du pays d’été, lui me faisait peur, la vie tracée qu’il m’offrait m’intimidait, m’ennuyait, je l’avais refusée, il m’avait dit on ne peut pas passer sa vie à naviguer quand j’avais dit que j’avais besoin de naviguer, et à force de ne plus le voir, je commençais à me demander s’il n’avait pas raison.2

„Sein“ Verhalten ist – aus der Sicht der Erzählerin – folglich dadurch gekennzeichnet, dass „er“ zwar durchaus abenteuerähnliche Herausforderungen sucht, sich dabei aber stets in überschaubaren, eng umgrenzten Räumen bewegt. Wenn sein Leben dementsprechend in „vorgezeichneten Bahnen“ verläuft, ist es ihrer Meinung nach risikoarm, wenig überraschungsanfällig, langweilig. Ebendies jedoch und „seine“ Mahnung „[…] on ne peut pas passer sa vie à naviguer […]“ wirken auf die freiheitshungrige, auf eine Entgrenzung ihrer Erfahrungen bedachte Erzählerin abschreckend und frustrierend, obwohl seine Worte, sobald sie „ihn“ längere Zeit nicht sieht, ihre Wirkung auf sie nicht ganz verfehlen. Wenn sie jedoch ihre Bahnen schwimmt, schweifen ihre Gedanken in die Wüste Namibias mit ihren in den südlichen Atlantik ragenden Sanddünen oder in die Gewässer zwischen Feuerland und die Antarktis, wobei sie die letztgenannte geographische Präferenz mit einem auf der Homonymie des Lexems „glaces“ beruhenden Wortspiel begründet: „[…] ah, les glaces, je les préfère en mer plutôt que dans les cœurs.“3

„[…] ce voyage si loin hors de mes frontières […]“ – die Erzählerin und ihre Geliebte

Die Erzählerin erkennt zwar einen wesentlichen, von ihr als Rollenumkehr verstandenen Unterschied zwischen ihren Beziehungen zu „ihm“ und „ihr“,1 bedient sich aber bei der Beschreibung beider Verhältnisse einer stark räumlich bestimmten Bildersprache. Auffällig ist die dabei sehr früh offenbar werdende Ambivalenz ihrer Empfindungen, insofern sie sich bereits beim Anblick der ihr unbekannten „[…] familles dans les rues […]“ unwohl und ausgegrenzt fühlt: „[…] j’étais mal à l’aise, je ne voulais pas de leur vie mais je me sentais au bord du monde, en dehors de tout.“2 In ungleich stärkerem Maße setzt jedoch das intime Zusammensein mit „ihr“ in der Erzählerin widerstreitende Reaktionen frei. Um zu verdeutlichen, welch außergewöhnliche Gefühle der Genuss grenzenlos erlebter Freiheit dabei in ihr auslöst, bedient sich die Erzählerin eines ganzen Arsenals isotopisch aufeinander bezogener Metaphern, um sodann zu einer abstrahierenden Schlussfolgerung zu gelangen:

Entre les murs nous étions bien, d’une liberté sans frein, tous les rôles étaient permis, et les explorations sur les rives interdites, nous accostions, dans cette forêt nul encore n’avait pénétré, nous écartions les branches, les broussailles, marchant entre les serpents qui rampaient, fuyant notre venue, forêt de la confusion, de la perte, je me rendais compte que je n’étais pas pareille avec elle et avec les autres, parce qu’elle était femme et eux hommes, mais il y avait autre chose j’allais dire de plus profond, la transgression, ce serait peut-être plus proche, mais il y a autre chose encore, avec elle, j’oubliais quelque chose de moi, avec les autres, avec lui, j’oubliais ce que j’étais avec elle.3

Die Erzählerin beschreibt intime Begegnungen mit „ihr“ hier als Akte zügelloser Freiheit, die gleichwohl nur in der abgeschirmten Sicherheit eines geschlossenen Raumes vollzogen werden können. Wenn sie diese Akte bildhaft als gemeinsame Erkundungsreisen zu einem „verbotenen Ufer“ schildert, so erhöht sie damit unweigerlich den Reiz der Spannung, den sie noch zu steigern vermag, indem sie in ihrer Phantasie mit „ihr“ auf der anderen Uferseite einen undurchdringlich scheinenden Wald betritt und dort obendrein auf Schlangen trifft, die vor ihr und ihrer Begleiterin fliehen. Eine an dieser Stelle möglicherweise erwartete triumphierende Reaktion tritt nicht ein, vielmehr wähnt sie sich in einer „[…] forêt de la confusion, de la perte […]“. So schafft die Erzählerin mit Anklängen an eine abenteuerliche Dschungelepisode und – in stark abgewandelter Form – einer Anspielung auf die Selbsterkenntnis Adams und Evas und ihre Vertreibung aus dem Paradies im Buch Genesis sowie nicht zuletzt mit dem Topos des dunkel-undurchdringlichen Waldes4 eine Atmosphäre, in der sie die Erfahrung ihres Andersseins als „transgression“, als eine Grenzüberschreitung und darüber hinaus als ein „Sich Verlieren“ darstellen kann. Noch deutlicher formuliert sie diese Erfahrung an anderer Stelle:

[…] cherchant son corps et son désir, je ne savais plus ce qui était elle et ce qui était moi, j’ai oublié ma peur à cette dépossession, ce voyage si loin hors de mes frontières, ces secondes où j’avais quitté mon corps et mon âme pour rejoindre le sien ou flotter entre deux […]5

Die Erzählerin erlebt die intime Nähe zu „ihr“ jedoch nicht nur als eine die Grenzen ihrer eigenen Persönlichkeit aufhebende Extase, sondern zugleich als eine Form innerer Gefangenschaft:

Entre les murs, aussi, nous étions prisonnières de l’éternel recommencement, l’extrême liberté et l’extrême prison se confondaient, inéluctablement, au bout d’une semaine, d’un mois, un an, je prenais sa main ou elle prenait la mienne et après, il n’y avait plus rien à faire. Et puis au cœur de la forêt, il y avait ce territoire, abordé une fois, et depuis, jamais reconnu, quelques semaines passées, du printemps à l’été, l’extrême péril.6

So mutiert der abschirmende, Intimität ermöglichende geschlossene Raum im Laufe der Zeit zu einer Zelle, in der die Erzählerin und ihre Geliebte ihre zunächst als „extrême liberté“ erlebte und gelebte gegenseitige Hingabe als „ex­trême prison“, d.h. als einen äußersten Mangel an innerer Freiheit oder als eine Form von Abhängigkeit erfahren.7 Ohne dass die Entwicklung zu diesem Punkt hin restlos klar wird, verdeutlicht die in drei Nominalphrasen einmündende Syntax den dramatischen Prozess, der die Erzählerin vom vermeintlichen Gipfel des Glücks zur Einsicht in die für sie lebensbedrohende Gefährdung führt.

2.2.3 Der Äquator als virtuelles Ziel

Die zwischen „ihr“ und „ihm“ schwankende Erzählerin – […] je veux elle, je veux lui, elle pour me perdre et lui pour me sauver, ou l’inverse je ne sais pas […] – 1 glaubt, ein ideales Reiseziel gefunden zu haben, um der Kalamität ihrer Unentschiedenheit zu entkommen:

Quelque chose me guidait vers l’équateur, presque machinalement, comme les mouvements que je fais sur le ventre – sur le dos, l’effort est plus grand, les gestes moins familiers – après, on peut reconstruire, analyser, l’équateur me mettait à équidistance du pôle Nord et du pôle Sud, Quito, quitter, pour ce que je voulais quitter, il y avait l’embarras du choix. J’imaginais, davantage que les hauts-plateaux, les côtes du Pacifique, et bien sûr, l’archipel des Galapagos, malgré l’avertissement de Melville, la sinistre découpe de ses Encantadas, „royaume de la solitude“.2

Der Äquator, Ecuador und Quito – die Aussprache des Namens der Hauptstadt klingt in dem zweifachen Echo des französischen Verbs „quitter“ nach – stellen für die Erzählerin ein Ziel dar, das eine ihren „embarras du choix“ neutralisierende Wirkung ausüben könnte. Die Anspielung auf Herman Melvilles aus zehn philosophischen „Sketches“ bestehende Novelle The Encantadas or Enchanted Isles – der achte Sketch handelt von der lange Zeit auf der Norfolk Isle in völliger Isolation lebenden Mestizin Hunilla – bringt zudem die Suche der Erzählerin nach Einsamkeit und Unabhängigkeit zum Ausdruck. Dieser Eindruck scheint sich jedoch schnell zu relativieren. Wenn sie nämlich feststellt: „Au Nouveau Monde, croyais-je, disparaîtraient les questions de l’ancien“3, so verbindet sie damit durchaus auch hoffnungsvolle Gedanken an eine gemeinsame Zukunft mit der erträumten Idealfigur eines „[…] Andin au teint sombre, aux cheveux noirs, aux lèvres épaisses […]“, der ihre erotischen Phantasien auf lebhafte Weise anregt.4 In dem heruntergekommenen Ambiente des für die Einreisegenehmigung zuständigen Verwaltungsgebäudes fühlt sie sich dann jedoch wieder „[…] loin de l’Andin, à vrai dire loin de tout.“5

Nach einem sich über mehrere Tage erstreckenden Zögern beschließt die Erzählerin, nicht nach Ekuador zu reisen, ohne dies konkret zu begründen. Allerdings erfahren wir in demselben Kontext über das Verhältnis zu „ihr“, dass „[…] la distance de Paris à Quito n’était rien face à celle qu’elle instaurait entre nous“.6 So bleibt Ekuador für die Erzählerin ein Ziel, das durch seinen rein virtuellen Charakter ihre Lage als ausweglos erscheinen lässt. Die Entfremdung von „ihr“ empfindet sie daher als „[…] la chute dans le gouffre, la sensation de vide, l’arrachement physique à une chaleur douce, le rejet dans un monde froid […]“7. Mit den raum- und bewegungsbezogenen Metaphern der „chute dans le vide“ und des „rejet dans un monde froid“, aber auch der plastischen Beschreibung des „arrachement physique à une chaleur douce“ – der metonymisch gebrauchte Ausdruck „chaleur“ ist ungleich ausdrucksstärker als eine pronominale Referenz – verleiht die Erzählerin ihrem Gefühl, ausgegrenzt, verstoßen und vereinsamt zu sein, eine geradezu dramatische Intensität.

Wenn die Erzählerin die Welt am Ende der Diegese mit „[le] vide, l’océan, l’île et mon appartement muet“ assoziiert,8 mag dies neben totaler Vereinsamung (le vide, mon appartement muet) zugleich die Sehnsucht nach dem Gegensatz zwischen der Weite des Ozeans und der Geborgenheit einer Insel und damit einen latenten „désir de départ“ offenbaren. Allerdings bekräftigt sie zugleich ihren Willen, den Verführungskünsten jener „[…] qui me piègent avec leurs yeux clairs et leurs fausses hésitations, leurs mains fines qui effleurent la vie et qui portent des gants, leurs tourments intellectuels […]“9 nicht länger nachzugeben, da sie nicht mehr von ihnen fehlgeleitet und instrumentalisiert werden will und sich zudem ihrer eigenen Schwächen bewusst ist:

[…] je ne les suivrai pas, les yeux clairs sont des gouffres infinis où rien n’arrête la plongée, je n’irai plus, ils boiront leurs alcools sans moi, je ne fais plus semblant d’être un repère dans leur longue traversée, en ne dévoilant rien de moi, surtout pas mes faiblesses, en n’affichant que certitudes, je ne suis pas plus solide qu’eux.10

Gleichwohl fühlt sie sich beim Schwimmen im Hallenbad von Erinnerungen an „sie“ und „ihn“, ihre Hoffnungen und Illusionen, die Mauer (mit ihrer symbolischen Bedeutung) eingeholt und hofft, sie mit jedem Schwimmzug verdrängen zu können.11 Dies wird ihr jedoch nicht gelingen, da, um im Bilde zu bleiben, die Erinnerungen sich wie das nach jedem Schwimmzug zurückflutende Element Wasser immer nur für einen sehr begrenzten Zeitraum beiseite schieben lassen. Auch denkt sie zurück an Reisen, die sie allein unternommen hat und bei denen sie weit in das offene Meer hinausgeschwommen ist in der Annahme, es befinde sich niemand am Strand. Als sie jedoch einmal zum Strand zurückkehrte, traf sie auf eine alte Dame, die ihr sagte: „[…] vous étiez allée loin, un moment, je ne vous voyais plus – il y a toujours quelqu’un qui veille“12, eine Erfahrung, die ihre Überzeugung, auf sich allein gestellt zu sein, zumindest in Frage stellt. Gleichwohl tun sich vor ihren Augen Traumbilder auf, die eine von Melancholie nicht freie Sehnsucht nach Weite und Freiheit und den Wunsch ungehinderter Bewegung zum Ausdruck bringen.13 Die Suche nach dem „irdischen Paradies“ ist, wie die von der Erzählerin aufgezählten legendären Beispiele belegen, ein uralter Menschheitstraum:

On a cherché les continents engloutis, le paradis terrestre, le pays des rois mages, le royaume du prêtre Jean, l’Eldorado, sur terre, sur mer, on a voulu perdre de vue l’étoile polaire et franchir, toujours, tracer la ligne d’équateur qui partage le monde et la franchir.14

Sie macht sich diesen Traum zu eigen, wenn sie im Schlusssatz des Textes sagt: „Un jour, un navigateur viendra, et il découvrira un autre monde.“15 Ihre Hoffnung auf einen „Nouveau Monde“, in dem „les questions de l’ancien“16 verschwinden, hat sie also keineswegs aufgegeben.

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