Kitabı oku: «Letzte Erfahrungen», sayfa 6

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4. Lebensstile unter der Providenz

Der Liberalismus hat anders als der Sozialismus kein in sich konsistentes Programm. Er hat sich als erstaunlich wandlungs- und anpassungsfähig in unterschiedlichen geschichtlichen Situationen erwiesen und sich immer wieder an anderen Gegnern neu definiert. Er ist eine Art sich globalisierender Bewegung. Deshalb stellt sich die Frage, ob es in dieser Bewegung etwas gibt, das sich durchgehalten hat, ob es einen Kern gibt, den man die eigentliche Einsicht des Liberalismus nennen könnte. Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir in dieser Sache nicht von außen her urteilen können, sind wir doch alle liberal. Die political correctness ist in unseren Breiten liberal und auch wer sich in dieser oder jener Frage davon absetzt, geht doch davon aus. Unter liberaler Lebenshaltung versteht man im Allgemeinen: aufgeklärt, progressiv, weltoffen, tolerant; negativ gewendet: beliebig, gleichgültig gegenüber der Wahrheitsfrage, fortschrittlich, eher blind gegenüber den dunklen Seiten konkreter Wirklichkeit. Nicht-liberal – was keiner so richtig sein möchte – erscheint dann leicht als nicht tolerant, nicht lernfähig, nicht reformfähig, fremdenfeindlich, unfähig zum Diskurs. Es gibt selbstverständlich eine Bandbreite von Schattierungen. Es gibt zugespitzte Klischees, die zur Sortierung und Diffamierung taugen. Oder gibt es in liberalen Lebenshaltungen vielleicht Maximen einer Selbstverständigung, die problematisierungsbedürftig sind?

Erbesein

Ein Jahr nach der Französischen Revolution entfachte Edmund Burke mit seinen Betrachtungen „Über die Französische Revolution“76 einen Streit, auf den sich ein Jahr später Thomas Payne mit seiner Schrift „Die Rechte der Menschen“ einließ. Die beiden brachten meines Erachtens die Unterschiede zwischen Liberalismus und Konservativismus im Streit um die Menschenrechte auf den Punkt. Hannah Arendt und Alain Finkielkraut haben ihn aufgenommen und fortgeführt. Burke kritisierte an der Menschenrechtserklärung, dass sie aus konkreten Menschen mit ihren vielfältigen Zugehörigkeiten abstrakte Individuen herausdestilliere. Finkielkraut fasst das so zusammen: „Im Gegensatz zur stolzen Vernunft der Aufklärung vertraut die konservative Klugheit den Toten, das heißt der in den Gewohnheiten, Institutionen und vorgefassten Meinungen verborgenen Vernunft. Der Konservative stellt den Menschen im Allgemeinen die besonderen Traditionen gegenüber, sowie der Abstraktion die Autorität der Erfahrung. Und dem schimärenhaften Individuum die tatsächliche Wirklichkeit des sozialen Wesens, den Ansprüchen der Gegenwart die Verehrung der Vergangenheit und schließlich der Philosophie die Soziologie und Geschichte.“77 Payne setzt einem solchen Konservativismus entgegen: „Ich streite für das Recht der Lebenden und dagegen, dass einer es dem anderen vermacht oder dass es durch die willkürlich angemaßte, geschriebene Autorität der Toten beherrscht oder verhökert werde.“78 Der in den Überlieferungen und Kulturen etablierten Erfahrung wird eine abstrakte Vernunft entgegengestellt. Hannah Arendt nimmt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kontroverse zwischen Burke und Payne wieder auf und sucht zu zeigen, dass ein Mensch, der nur Mensch ist, kein Mensch mehr ist. Denn das erste, was die Totalitarismen diesen Menschen antaten, war, dass sie ihrer Heimat und angestammten Kultur beraubt, entwurzelt, Staatenlose wurden. Sie (z. B. die Juden, die Roma und die Sinti) verloren mit ihren Zugehörigkeiten auch eine Macht, die ihre Rechte wahrnahm. Sie waren ein Nichts.79 Es geht Hannah Arendt nicht, wie vielleicht der Romantik, um die Eingliederung „in die substantielle Einheit irgendeines Volksgeistes“80, sondern darum, dass sie als ihrer Tradition Enterbte zu keiner Selbstbestimmung finden können. Es geht Hannah Arendt nicht um die Sehnsucht nach einer alten Ordnung oder gar um ihre Wiederbelebung und nicht um die Tradition als einer Verhaltensform. „Es geht um die Frage, wie viel Wirklichkeit auch in einer unmenschlich gewordenen Wirklichkeit festgehalten werden muss, um Menschlichkeit nicht zu einer Phrase oder einem Phantom werden zu lassen.“81 Der Mensch ist Erbe.82 Er darf um seiner Menschlichkeit willen nicht aus seinem Erbe herausgelöst werden. „Die Weitergabe ist für die Freiheit notwendig.“ Freiheit geschieht im Austausch auch mit den Alten. Die Erfahrungen der Alten und ihre Überlieferung sollen auch heute ihre Stimme behalten. Chesterton nannte „die Tradition die Demokratie der Toten.“83

Zugehörigkeiten

Der Liberalismus ist die Fiktion einer nur von sich selbst bestimmten Subjektivität, herausgelöst aus intersubjektiven Bedingtheiten, die in der Geschichte zum Tragen kommen.84 Mit dieser Fiktion scheint mir der Liberalismus in seinem Kern charakterisiert zu sein. Konkrete Freiheit löst sich nicht aus den geschichtlichen Zusammenhängen, sondern findet ihre Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit ihnen. Es fehlt dem Liberalismus chronisch der Sinn für das Konkrete und für die Differenzen, für die geschichtliche Bedingtheit von Vernunft und Moral. Apel sucht durch das Faktizitätsapriori, Habermas durch das Quasi-apriori der Lebenswelt diesen ungeheuren Realitätsverlust zu kompensieren. Hannah Arendt verlangt als Jüdin von den Schriftstellern, „der unheimlichen Realitätslosigkeit der reinen Menschlichkeit zu widerstehen.“85

Nochmals zurück zum Liberalismus in Religion und Theologie. Wenn es stimmt, dass der harte Kern des Liberalismus in der „Fiktion von der freien, religiösen Subjektivität“86 zu finden ist, dann werden verständlicherweise dem Liberalen die Zugehörigkeiten, etwa zu Gemeinde, Vaterland und Kirche, Geschichte, Kultur und Tradition zuwider sein. Die Zugehörigkeit zu einer besonderen partikulären Geschichte und Gemeinschaft widerspricht seiner Auffassung von sich selber und von seiner Religiosität. Das starke, aber nur historisierende Interesse des Liberalismus an der Geschichte zielt auf die kritische Abarbeitung ihres Anspruchs auf Verbindlichkeit. Fremd ist dem Liberalen auch der Wahrheitsanspruch. Bekenntnis und Dogma sind ihm deshalb widerwärtig. Schließlich kann er die unterscheidbare Deutlichkeit einer kirchengebundenen Religiosität nicht als eine Bringschuld des Christen in der Öffentlichkeit sehen. Zeugenschaft und Mission sind peinlich.

Bekehrung

Die liberale Haltung wird ganz und gar durch eine Konversion konterkariert. Der Liberalismus bietet für eine Konversion keine Voraussetzung; denn einem Konvertiten können die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zu ihrer Tradition und Geschichte, ihre Wahrheitsansprüche und ihre Stellung in der Öffentlichkeit nicht gleichgültig sein. Newman sah sich zu einem solchen nicht-liberalen Schritt genötigt. Und er glaubte, sich dahin trotz mancher Zweifel von den geschichtlichen Voraussetzungen seiner Entscheidung, durch seine Biographie und durch die Kirchengeschichte geführt. Er sah sein Leben unter den nicht verallgemeinernden, sondern konkretisierenden Augen der göttlicher Providenz: „Du, o Gott, siehst mich.“ Ganz ähnlich hatte Augustinus in Bezug auf 1 Kor 13,12 formuliert: „Ich werde dich erkennen, der du mich erkennst, ich werde erkennen, wie auch ich erkannt bin.“87 So sucht Newman in den Reflexionen auf seine Erfahrungen etwas einzuholen von dem providentiellen Blick, den er auf sich gerichtet erfuhr. In diesem Blick weiß er sich in seiner Konkretheit erblickt, gewinnt aber zugleich eine Distanz von seinen eigenen und eigenwilligen Wünschen und Plänen, von einem Diktat der eigenen Biographie und ihrer Zugehörigkeiten, von den „Faktizitätsaprioris“, in die er hineingeboren und hineinerzogen wurde. Sein Glaube an die Providenz entzieht sowohl nach der anglikanischen als auch nach der katholischen Seite hin manchem Geltungsanspruch auch kirchlicher Institutionen Autorität. Er findet in der Providenz Hilfe bei der Verarbeitung von Schicksalsschlägen. Er kann Berufungen wahrnehmen und wagt im Vertrauen darauf einsame Schritte in eine unübersichtliche Zukunft. „Sicher“, im Sinn kartesianischer Sicherheit, kann er sich dieses „Du, o Gott, siehst mich“ durchaus nicht sein, aber er erfährt sich in seiner komplexen Konkretheit und Widersprüchlichkeit wie Hagar als „gefunden“.

Dankbarkeit

Die Fülle der Zugehörigkeiten und Bedingtheiten ergibt die Möglichkeit dankbar zu sein. Geradezu signifikant für ein Leben unter der Providenz ist es, für die Bestimmtheit durch die in Gottes Ruf sich zeigende Freiheit dankbar sein zu können. Wer sich strikt liberal definiert, hat keinen Grund jemandem dankbar zu sein, es sei denn sich selber. Für ein bewusstes Leben unter der Providenz dagegen sind die lebensgeschichtlichen Vorgegebenheiten unübersehbar. Sie sind die geschenkten Möglichkeitsbedingungen der eigenen und der gemeinsamen Lebensführung. Andere und ein anderer sind mit am Werk, gehen voraus, sind an den Kontingenzen fügend mitbeteiligt. Leben unter der Providenz ist deshalb in vollem Sinn „eucharistische Existenz“. Das gilt natürlich gegenüber der fügenden, berufenden und versöhnenden Aufmerksamkeit, die der Blick des Glaubens gewährt, die aber das Leben „eines jeden“ – so Newman – begleitet. Dies gilt aber noch in einem anderen Sinn. Wir leben auch unter den Augen der Mutter, der Lehrer, der Freunde. Sie und viele andere Aufmerksamkeiten gehören zu den Vorgegebenheiten unserer Existenz. Sie sind als Ausgang und als Begleitung in unser Leben eingegangen und in sie eingefügt. Es gilt dies auch von unseren Lehrern und Begleitern im Glauben. Wir haben alle aus den Überlieferungen geschöpft und stehen selber empfangend und gebend in diesem Überlieferungsprozess. Wir sind, um nochmals mit Hannah Arendt zu sprechen, auf fundamentale Weise Erben und haben erst darin unsere Menschlichkeit. Die Kultur der Dankbarkeit gegenüber Lebenden und Toten ist Ausgangsbedingung und Folge der Providenzerfahrung. Denn im dankbaren Umgang damit tritt uns die fügende, die rufende und weisende Autorität der Providenz selber entgegen.

76 Edmund Burke / Friedrich Gentz, Über die Französische Revolution, Akademie Verlag Berlin 1991.

77 Alain Finkielkraut, Die Undankbarkeit. Gedanken über unsere Zeit, Ullstein Berlin 2002, 118.

78 Zitiert ebd. 119.

79 H. Arendt, Elemente [Fn. 39]. Vgl. dazu: Sabine Rothemann, Aufweichung der Menschenrechte [Fn. 40], 60–63.

80 A. Finkielkraut [Fn. 76], 122.

81 H. Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, Piper München 1989, 32.

82 Ebd. 92.

83 Gilbert K. Chesterton, Orthodoxie, Paris Gallimard, Idées 1984, 170; zitiert bei Finkielkraut [Fn. 76], 126.

84 Wolfgang Huber, Die Spannung zwischen Glauben und Lehre als Problem der Theologie, in: Georg Picht (Hg.), Theologie – was ist das? Stuttgart Kreuz Verlag 1977, 219.

85 H. Arendt, Menschen in finsteren Zeiten [Fn. 80], 27.

86 W. Huber [Fn. 83], 219.

87 Augustinus, Confessiones 10, 1.

5. Zwei Essays zum Begriff der Erfahrung
Proof of Theism

John Henry Newman macht sich vor allem in zwei Zusammenhängen Gedanken zu dem, was in der deutschen Theologie „Erfahrung“ genannt wird. In seinem „Essay in Aid of a Grammar of Assent“ reflektiert er „Erfahrung“ in dem weitgespannten Problemkreis der Glaubenszustimmung. Anders in seinem „Philosophical Notebook“. Darin sind eine Reihe kleinerer Essays gesammelt. Einer thematisiert die Möglichkeit einer Erfahrung Gottes. Er findet sich unter dem Titel „Proof of Theism“. Mit diesem zweiten möchte ich beginnen, weil er wohl der für Newman elementarere Denkversuch ist.

Am Anfang des „Proof of Theism“ macht Newman die Richtung seines Nachdenkens deutlich erkennbar. Er geht durchaus neuzeitlich davon aus, dass das Bewusstsein (consciousness)88 nicht nur das eigene „Sein“ erfasst, sondern mit diesem auch das Gefühl moralischer Verpflichtung, das er Gewissen (conscience) nennt. Um Gott wissen wir, weil wir immer schon in eine moralische Pflicht genommen sind. Nicht gemeint ist damit die Verpflichtung zu einer konkreten, besonderen Moral. Was Newman im Blick hat, ist die elementare Gewissheit des Gefühls, unter einem moralischen Anspruch zu stehen. Dieses Gefühl verweist auf Gott. Newman weist also ausgehend von dem Phänomen einer existentialen „Befindlichkeit“ – um ein Idiom Heideggers zu verwenden – auf einen „transzendentalen“ Weg. Die Gegend, in der dieser Weg zu beschreiten ist, ist die moralische Verfassung des Bewusstseins. Ist diese geleugnet, wird die Suche nach einem Gott gegenstandslos. In diesem Sinn muss wohl die Überschrift des Essay „Proof of Theism“ verstanden werden. Der Aufweis Gottes findet sinnvollerweise nur in einem mit der moralischen Existenz „erprobenden“ Sehenkönnen statt. Es wird kein objektiver, vom Subjekt unabhängiger Beweis geliefert. „Such is the argument for being of God which I should wish, if it were possible, to maintain.“89 So kann die eigene Lebenshaltung und Lebensgeschichte durchaus mit in den „erprobenden Aufweis“ Gottes gehören.

Die Probleme eines solchen Aufweises sind dann die Fragen, ob der Rückgang zum Grund des Gefühls einer moralischen Verpflichtung eine Folgerung ist und welcher Art diese Folgerung ist, oder ob es sich und in welchem Sinn es sich um eine unmittelbare „Erfahrung“ handelt. Newman beginnt durchaus neuzeitlich mit dem Bewusstsein seiner selbst. Das eigene Sein ist im Bewusstsein unmittelbar gegeben. Diese Selbstgegebenheit kann sinnvollerweise nicht bezweifelt werden. Sie ist „self evident“.90 In seinem Bewusstsein ist der Mensch bei sich selber. Er ist sich selber unmittelbar. Ein schlussfolgerndes „ergo“, wie es Descartes formuliert, scheint Newman Anlass zu einem Missverständnis zu sein, denn dieses „ergo“ lege eine deduktive Folgerung nahe, die von einer Proposition zur anderen fortschreitet.91 Newman legt alles Gewicht darauf, dass das eigene Dasein in der Unmittelbarkeit des Bewusstseins mitgegeben ist und somit unbezweifelbar und unhinterfragbar da ist. Nur zu „glauben“ oder zu „meinen“, dass ich bin, und dass diese primäre Gewissheit eines Beweises bedarf, ist absurd.92 Ich weiß es immer schon.

Die Frage ist, ob möglicherweise die Selbstgegebenheit des Daseins nicht das einzige ist, was im Bewusstsein unmittelbar gegeben ist. Newman hält auch das Empfinden, das Denken, die Erinnerung für solche ursprüngliche Mitgegebenheiten des Bewusstseins. Sie sind vor jedem Schlussfolgern. „Thought and being, or sensation and being, are brought home to me by one of consciousness, prior to any exercise of ratiocinatio.“93 Sie sind mit dem Dasein dem Bewusstsein unmittelbar gegeben. „If this be so, it follows that, where as all such acts, as memory, sensation, reasoning etc. are bound up in the original object of consciousness, and are the mode in which my existence is known to me and inseparable from it.“94 Es gibt ein erstes, originales Objekt des Bewusstseins: „I exist“, aber in eins damit noch eine Reihe sekundärer Objekte, die in demselben Akt des Bewusstseins mitgegeben sind. Vor allem gehört das Denken dazu: „for reasoning is very breath of my existence, for by it I know that I exist.“95 Ebenso der Schmerz, er gehört unmittelbar zum Bewusstsein, wie die Erinnerung. Es wäre absurd zwischen diesen Phänomenen und dem Bewusstsein selbst eine skeptische und argumentative Distanz anzunehmen. Es wäre absurd zu sagen: ich glaube, dass ich denke, dass ich Schmerz fühle, dass ich mich erinnere. Das sind „Modi“ des Daseins und als solche dem Bewusstsein unmittelbar. Sie sind involviert in die Selbstgegebenheit des Daseins im Bewusstsein.96

Wie aber unterscheiden sich diese von den Gegebenheiten, die bezweifelbar sind, also einer argumentativen Versicherung bedürfen und deshalb Gegenstand des Meinens und Glaubens sind. Die Selbstgegebenheiten sind eine Innenwahrnehmung, eine „Intuition“. Sie haben in der Ausdrucksweise Newmans den Charakter einer „Idee“ im Gegensatz zu den Gegenständen. Die Gegenstände kommen von außen und sind deshalb kontingent. „I would draw a broad line between what is within us and without us and apply the word ‚faith‘ to our reliance ‚certainty‘ of things without and not within us.“97 Die Erfahrung, von der die Rede sein soll, ist also eine innere Erfahrung, so wie das Transzendieren oder die Sehnsucht.

Zu den im Bewusstsein unmittelbar an das Dasein gebundenen und sich selbst zeigenden Innenerfahrungen zählt Newman auch das Phänomen des Sollens, also der absoluten moralischen Verpflichtung, als das, was Newman conscience, Gewissen nennt. Mit allem erdenklichen Nachdruck unterscheidet er dabei zwei Bedeutungen von Gewissen: den Akt des moralischen Urteilens, von dem hier die Rede sein wird und in dem er die Begründung einer Gotteserfahrung sieht, und das „besondere Urteil“, das schuldig spricht und lobt, das schlechte und gute Gewissen. Das besondere Urteil kann sich irren und ist auf Argumente und Gründe angewiesen, die sich aus meinem Dasein noch nicht ohne weiteres ergeben.98 Es wendet die moralische Verpflichtung im besonderen Fall an. Anders das Wort Gewissen in seiner grundlegenden Bedeutung. In diesem Sinn meint es „Empfinden“ (sensation). Darin nimmt sich das Dasein wahr als unter einen absoluten Anspruch gestellt. Auch dieses Empfinden nimmt das Dasein unmittelbar wahr. Es gehört zu den grundlegenden „Modi“ des Daseins, zu seinen Innenerfahrungen. Es ist eine Selbstgegebenheit des Bewusstseins, so unbezweifelbar wie das Dasein selber.

Obgleich das Gewissen in diesem grundlegenden Sinn eine Selbstgegebenheit des Bewusstseins ist, schließt es doch auch eine Beziehung ein. „Conscience implies a relation between the soul and a something exterior, and that moreover, superior to itself; a relation to an excellence which it does not possess, and to an tribunal over which it has no power.“99 In dem Anspruch des Gewissens spricht für das Bewusstsein eine unabhängige Autorität. Das Bewusstsein vom Gewissen schließt ein Äußeres, Unabhängiges ein. Ist dies ein Paradox? Oder wie beschreibt Newman dieses Phänomen? Das Gewissen ist eine Relationalität. Es ist im Bewusstsein als ein Bestimmtes präsent, ohne dass das Bestimmende in gleicher weise unmittelbar präsent ist, es ist „something exterior“. Zum unmittelbaren Phänomen dieses Bestimmtseins des Daseins im Bewusstsein gehört aber auch die Bestimmung durch eine vom Dasein unabhängig urteilende Autorität. Je mehr das Gewissen respektiert und befolgt wird, umso klarer wird dieser unabhängige Anspruch, das unnahbare Wesen der „supreme autority of That, whatever it is, which is the object of the minds contemplation.“100 Glaube ist das noch nicht, aber die Grundlegung von Religion im Bewusstsein. Die Verfügung, die von dort ausgehend in die Pflicht nimmt, mag nicht immer klar sein, „but what I am insisting on here is this, that it commands; that it praises, blames, it promises, it threatens, it implies a future, and it witnesses of the unseen. It is more than a man’s own self. The man himself has not power over it, or only with extreme difficulty; he did not make it, he cannot destroy it. He may silence it in particular cases or direction; he may distort its enunciations, but he cannot, or it is quite the exception if he can, he cannot emancipate himself from it.“101 Das Gewissen will Newman nicht missverstanden haben als absolut unabhängige Selbstgesetzgebung. Es spricht ein unbeeinflussbares Urteil. Es ist eine über alle Interessen erhabene Instanz, und dies gerade, weil sein Spruch nicht vom Menschen selber kommt. Das Gewissen weist über des Menschen eigenes Selbst hinaus.

Newman geht noch einen Schritt weiter. Er belässt es nicht bei dieser bis hierher durchaus einsichtigen „Transzendenzerfahrung“. Er nimmt die der alltäglichen Erfahrung entnommene Begrifflichkeit in ihrer analogen Tragweite. Die Stimme verweist auf den, der sie verlauten lässt, das Pochen an der Tür auf den, der um Einlass bittet. Das Phänomen des Gewissens nötigt den Menschen hartnäckig über sich hinaus zur Annahme eines von ihm selber unabhängigen Seienden, einem anderen.102 Er zitiert aus einer von ihm selber verfassten Novelle: „My nature feels toward it as toward a person. When I obey it, I feel satisfaction; when I disobey, a soreness, – just like that which I feel in pleasing or offending some revered friend … the echo implies a voice; a voice a speaker. That speaker I love and fear.“103

Mit welcher Berechtigung wendet Newman solche Analogien aus dem Bereich personaler Erfahrungen auf das Gewissen an? Um das Phänomen begrifflich strenger zu fassen, schließt er sein Argument an seine Beobachtung des Bewusstseins von den inneren Erfahrungen an. Er geht davon aus, dass das Bewusstsein – wie wir gesehen haben – nicht nur das Dasein, das Denken und das Erinnern, sondern auch das Gefühl als primären Gehalt impliziert. Die Besonderheit des Gefühls oder der Empfindung trägt im Gegensatz zum Geschmack den Geist aus sich selbst hinaus, stellt es neben sich selber und impliziert ein Tribunal, eine richterliche, kritische Instanz neben sich. Dies ist doch wohl dem ähnlich, was wir einer Person gegenüber fühlen, die wir verletzen: „there is a tenderness almost tearful on going wrong, and a grateful cheerfulness when we go right, which is just what we feel in pleasing or displeasing a father or revered superior.“104 In diesem Gefühl hat das Bewusstsein – so darf Newman verstanden werden – ein Organ für den Andern in seiner Andersheit, für den Fremden, für Nähe und Ferne, für Identität und Differenz. Die Unabhängigkeit einer anderen Person ist Sache des Gefühls. Weil das Gefühl so fühlt, wird man vernünftigerweise auf einen unsichtbaren Anderen als einer eigenen Person schließen dürfen. Die Erfahrung einer Person im Gefühl des Gewissens ist dann analog zur Erfahrung einer Person im Alltag. So kann man sagen, dass Dasein, Denken, Gefühl und damit auch Gewissen als Modi des Bewusstseins eine anfängliche Erkenntnis, eine Erfahrung Gottes implizieren. Sie bedarf allerdings einer Erleuchtung durch Überlieferung und Lehre. „The being of a God being once brought home to me, illuminated, as it will be, in its various aspects by reflection, tradition, ect. ect., I have a guiding truth, which gives a practical direction to my judgement and faith as regards a variety of other truths or professed truths which encounter me, as the truthworthness of the senses, our social and personal duties, the divinity of Christianity ect. etc. It teaches me how to use evidence which is imperfect, and why I must not be sceptical.“105 Damit hat, so scheint mir, Newman nicht nur das Dasein Gottes, sondern seinen Begriff von Providenz und dessen biographischen Gebrauch exakt eingeholt. „It has been my own chosen proof of that fundamental doctrine for thirty years past“.106 Providenz ist nicht Verhängnis, Schicksal. Providenz ist Erwählung, freies Geleit. Sie zeigt sich und spricht im Gewissen. Sie drängt auf Entscheidung, auf Wahl bisher nicht denkbarer Alternativen.

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