Kitabı oku: «Letzte Erfahrungen», sayfa 4
3. Providenz – eine Rede von der Wirklichkeit
Ungeselligkeit und Geselligkeit
Was soll die Rede von der Providenz im Kontext des herrschenden Liberalismus? Soll sie ein Widerspruch sein, eine Einschränkung von „Liberalität“? Lässt sich überhaupt eine Verhältnisbestimmung zwischen Providenz und Liberalismus ausmachen? Dann aber müssten beide Begriffe, „Liberalismus“ und „Providenz“, zu einer gewissen Deutlichkeit finden. Das, was man seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgehend von Spanien Liberalismus genannt hat, prägt seit dem 17. Jahrhundert von England ausgehend die Geschichte der Neuzeit in ihren Erfolgen und in ihren Schatten. Er hat kein von vornherein eindeutiges Programm, nicht politisch, nicht wirtschaftlich, nicht gesellschaftlich, nicht individuell biographisch, nicht religiös. Flexibel und variantenreich folgt er über drei Jahrhunderte in unterschiedlichen Situationen, an unterschiedlichen Fronten einer nicht klar bestimmbaren Idee. Vielleicht tritt diese leitende Idee als Problembeschreibung am Anfang bei Thomas Hobbes am profiliertesten hervor. Das „entbundene Individuum“ beschreibt er mit seinen bekannten Worten: „The life of man (is) solitary, poor, nasty, brutish and short“. Geschichtlicher Hintergrund dieser Diagnose sind einerseits die erfahrenen Schrecken der konfessionellen Bürgerkriege und andererseits die sich an die Naturwissenschaften knüpfenden Perspektiven und Erwartungen. Der dabei in den Vordergrund tretende Typus von Vernunft macht den einzelnen Menschen zum räuberischsten, klügsten und gefährlichsten Tier, das die Befriedigung seiner Lebensgier durch die Macht nicht nur über die Natur, sondern auch über andere Menschen gewinnt. In seinem Naturzustand gilt von ihm: homo homini lupus. Dieser friedlose Naturzustand – so schließt Hobbes – muss durch eine absolute Staatsgewalt, ausgestattet mit dem Monopol physischer Gewaltanwendung, gebändigt werden. Denn nur so kann die individuelle Willkür in Grenzen gehalten werden. Diese absolute Staatsgewalt machte allerdings den im Mittelalter bereits begonnenen Differenzierungsprozess zwischen Religion und Staat wieder rückgängig. John Locke hat aus denselben Erfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege eine andere liberale Perspektive gewonnen: die zwar das Individuum einbindende, aber auch den Staat bändigende Verfassung. Staat und Kirche sollen streng getrennt sein. Kirche wird auf private Religionsausübung reduziert und die dogmatische Wahrheitsfrage wird relativiert. Es kommt zu dem, was man dann Deismus genannt hat. Die instrumentelle, bzw. strategische Rationalität des konsequent durchkalkulierenden, individuellen Eigeninteresses, von dem auch heute noch der liberale, sich selber regelnde Markt den notwendigen Motivationsschub erhalten soll, und die Privatisierung der Religion prägen bis heute den Liberalismus. Allerdings wäre seine Erfolgsgeschichte in den vergangenen drei Jahrhunderten nicht möglich gewesen ohne seine außerordentliche Flexibilität und Lernfähigkeit.
Anders als im englischen Verfassungsstaat will Immanuel Kant den Antagonismus zwischen individuellem Gewinnstreben und Gemeinwohl bändigen, nämlich durch die Selbstgesetzgebung. Das Streben des brutish and nasty single nach Glück wird nicht erst durch die Staatsverfassung, sondern früher schon durch den Menschen selber, durch den seine Zwischenmenschlichkeit regelnden Kategorischen Imperativ in wechselseitige Verpflichtungen eingebunden. So erst wird das Individuum sozialisierbar und universalisierbar. Der Schritt, den Kant über Hobbes und Locke hinaus macht, verbleibt freilich innerhalb der klassisch liberalen Vorstellung eines Gesellschafts- und Herrschaftsvertrags von Individuen, die von Interessen geleitet sind.32 Kant geht vom autonomen Subjekt aus. Dieses beinhaltet a priori die moralischen Prinzipien der Intersubjektivität und Reziprozität. Daraus ergibt sich mit dem Kategorischen Imperativ eine universalisierbare Handlungsmaxime. Bei Hobbes ist die Freiheit des Handelns von der instrumentell-strategischen Vernunft des Selbstinteresses in Spannung zum Staat geleitet. Bei Kant wird diese Zentrierung auf das Individuum insofern in Grenzen gehalten, als die Wahrnehmung dieses Selbstinteresses nicht abstrakt negiert wird, aber von vornherein an die Wahrnehmung des Selbstinteresses des Anderen geknüpft ist. So wird eine politische Vernunft denkbar, die nicht nur strategisch, sondern kommunikativ ist. In seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“33 geht Kant davon aus, dass der Hang des Einzelnen zur Ungeselligkeit und antagonistisch dazu seine Neigung zur Geselligkeit, sich also zu vergesellschaften, gleichzeitig festgehalten werden können und festgehalten werden müssen. Um den Liberalismus vielleicht an seiner stärksten Stelle sichtbar zu machen, soll dieser Antagonismus bei Kant mit seinen eigenen Worten in Kürze dargestellt werden. Der Mensch hat einen „großen Hang, sich zu vereinzelnen (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles nach seinem Willen richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, dass er seinerseits zum Widerstand gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Eifersucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die ihn nicht wohlleiden, von denen er aber auch nicht lassen kann.“34 Ohne solche Eigenschaften der Ungeselligkeit würden in einem „arkadischen Schäferleben“ alle Talente auf ewig verborgen bleiben. Es bedarf geradezu des Wettbewerbs zwischen den Individuen. „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! … Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“35
Die Not, es nicht lange miteinander auszuhalten, zwingt zu einer allgemeinen das Recht tragenden bürgerlichen Gesellschaft, das heißt zu einer gerechten Verfassung. Diese kann aber auch nur gelingen, wenn die zwischen Staaten nochmals auftretende Ungeselligkeit zu einem Völkerbund führt, in den die „brutale Freiheit“ des Imperialismus eingebunden wird. Das wäre die Idee, die einer Weltgeschichte als Leitfaden dienen könnte: eine apriorische Idee für eine empirische Weltgeschichte, die eine gemeinsame Verfassung, ein Völkerrecht im Auge hätte. „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muss als möglich, und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden.“36 Wie anders soll ein endliches vernünftiges Wesen zu einem Handeln nach einem allgemeinen Plan kommen? „Wenn man indessen annehmen darf: dass die Natur, selbst im Spiele der menschlichen Freiheit, nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und, ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung zu durchschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen, als ein System darzustellen.“37 Sie wäre eine Rechtfertigung der menschlichen Natur oder – wie Kant auch sagt – der Vorsehung. „Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Beweggrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilft’s, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreich zu preisen, … die Geschichte des menschlichen Geschlechts (aber) – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll.“38 Um in der Geschichte den Antagonismus von Geselligkeit und Ungeselligkeit zu überwinden und zu einer Eintracht zu führen, bedarf Kant der Kategorie „Vorsehung“.
Menschenrechte und staatliche Bürgerrechte
Zur Bilanz des Liberalismus gehören neben der Rechtsgleichheit der Bürger, dem offenen Markt, der Trennung von Staat und Religion vor allem die Formulierung der Menschenrechte und das Völkerrecht. Das dürfte unbestritten sein. Aber schon ein Jahr nach der Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution hat John Burke sich kritisch, und dies auf hohem Niveau, mit ihnen auseinandergesetzt. Burkes Kritik in seinen „Betrachtungen zur Französischen Revolution“39 zielte darauf, dass Rechte ohne einen sie exekutierenden Staat nichtig sind. Rechte sind nur soviel wert, als sie sich in Verfassungen niederschlagen und eingeklagt werden können. Sonst bleiben sie Abstraktionen. Auch der Mensch mit seinen Menschenrechten bleibt ein juristisches Abstractum, wenn von seinen institutionellen Zugehörigkeiten abgesehen wird. Diese Kritik wird von Hanna Arendt aufgenommen. In ihrem großen Frühwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“40 geht sie von der Erfahrung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Mögen im 18. und im 19. Jahrhundert die Menschenrechte gegen die wachsende Staatsmacht formuliert worden sein, um den Unterdrückten ein Minimum an Rechten zu wahren, im 20. Jahrhundert tritt ein neues Problem auf: Menschen werden staatenlos gemacht. Juden, Zigeuner, Exilanten sind „displaced persons“ und verlieren damit den Charakter von Rechtssubjekten. Man hatte, „wenn man von unveräußerlichen und unabdingbaren Menschenrechten sprach, gemeint, diese seien unabhängig von allen Regierungen und müssten von allen Regierungen in jedem Menschen respektiert werden. Nun stellte sich plötzlich heraus, dass in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf ein Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemand gab, der ihnen dieses Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen. Wenn andererseits wie im Falle der Minderheiten, sich wirklich eine internationale Körperschaft bereit fand, diesen fehlenden Regierungsschutz zu ersetzen, fand sie sich schneller diskreditiert, als sie überhaupt Zeit hatte, ihre Maßnahmen zu ergreifen und ihre Vorschläge durchzusetzen; nicht nur stieß sie auf den Widerstand der Regierungen, die für ihre Souveränität fürchteten, sie geriet gleicherweise in Konflikt mit den Beschützten selbst, die ebenfalls einen nichtnationalen Schutz nicht anerkannten und das tiefste Misstrauen gegen eine Protektion ihrer bloßen Menschenrechte (der ‚sprachlichen, religiösen und ethnischen‘) hegten; auch sie waren der Meinung, dass die Menschenrechte nur Teile ihrer nationalen Rechte und Forderungen seien und nur mit ihnen zusammen durchgesetzt werden können.“41
In einen weiteren Disput wurde der Liberalismus in den vergangenen 30 Jahren durch den Kommunitarismus verwickelt. Darin wurde er nochmals eindringlich auf dieselbe Schwachstelle hingewiesen: das aus seinen Zugehörigkeiten und Bedingtheiten herausgelöste Subjekt. Ausgangspunkt der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus ist die Ethik. Kant hatte zwar Hobbes’ atomistisches Single in intersubjektive und reziproke Verhältnisse eingebunden und so ein universales Prinzip ethischen Handelns gewonnen. Immer noch bleiben aber die konkreten Handlungsbedingungen unerkannt, nämlich die geschichtlichen, kulturellen, sprachlichen Bedingungen, die Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften, Kulturen und Überlieferungen. Karl-Otto Apel spricht vom „Faktizitätsapriori“42. Wohl hat Kant das Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft, das „Weltbürgertum“, herausgearbeitet, aber noch nicht die damit eröffneten und verstellten Möglichkeiten einer „post-konventionalen“ Situation, die Herausforderungen und blinden Flecken, von denen der Handelnde auszugehen hat. Dies gilt insbesondere in einer Situation, in einer Gesellschaft also, für die noch keine „Konventionen“ herausgearbeitet worden sind; in der man aber andererseits auch nicht Nichthandelnder bleiben kann: eine makroethische Situation, in der die Realisierung einer Rechtsordnung im Weltmaßstab immer noch fehlt. Sie aber würde eine entsprechende Moral überhaupt erst allgemein zumutbar erscheinen lassen und mit der Ausarbeitung der Anwendungsbedingungen einer solchen Rechtsordnung erst ein „Telos“ bekommen.43 Apel hat die Lernfähigkeit des Liberalismus nochmals als Frage aufgeworfen. Er justiert mit seiner Formulierung des doppelten Apriori, das Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft einerseits und das Faktizitätsapriori andererseits, den Liberalismus mit seinem nur abstrakten, ungeschichtlichen Verständnis des Handelnden und bettet ihn ein in eine Gemeinschaft, in eine Geschichte, eine Kultur und Tradition. Damit ist ein unreflektierter globaler Geltungsanspruch des Individuums problematisiert.
Zum Völkerrecht
Durch die nahöstlichen Konflikte ist die Debatte um das Völkerrecht in das grelle Licht der Öffentlichkeit getreten und in eins damit die Probleme einer „post-konventionalen“ Makroethik. Das heißt: Für die in der Politik dringend anstehenden Probleme stehen noch keine allgemein anerkannten Lösungen zur Verfügung. Während die so genannten „Konservativen“ mit kruden militärischen Mitteln hantieren, baut der Liberalismus auf den fiktionalen Konsens internationaler Körperschaften. Er geht von einem allgemeinen Friedenswillen aus, der in Kompromissen seine Konkretion und Mächtigkeit findet. Deshalb ist das Faktum der Kriege und der Gewalt die stärkste Kränkung des Liberalismus. Die „konservativen“ Denkschulen in den USA suchen daraus die Lehre zu ziehen, dass nur ein „hegemonialer Internationalismus“ die Macht hat, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass das ideale Handlungsprinzip „Handle so, als ob du Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeinschaft wärest“ eine vorläufig politisch nicht einholbare Abstraktion ist.44 Dieses Handlungsprinzip hat ohne Zweifel ein unabdingbares Recht als normative Unterstellung jedes moralisch verantwortbaren Handelns, es reicht aber nicht aus, weil die Kommunikationssituationen zumeist asymmetrisch sind, die Handlungspartner nicht dieselbe Unterstellung machen und dieses Prinzip jedes strategische Handeln a priori ausschließt. Für ein Handeln nach dem Ideal der Kommunikationsgemeinschaft müssten also überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen werden. Bezüglich der Diskurse verhält es sich ähnlich. Die Kommunikationsbedingungen realer Diskurse erreichen auch deshalb nie ihr Ideal, weil sie nicht völlig natur- und zeitentlastet sein können. Auch eine Chairperson übt in einer Kommunikationsgemeinschaft de facto bezüglich des Geltungsanspruchs von Argumenten immer einen gewissen Zwang aus. Nicht einmal in einer Seminarsitzung wird dieses Ideal erreicht.45 Im Ernstfall kann es also durchaus so etwas wie eine moralische Pflicht zur Anwendung von Gewalt als „Anti-Gewalt-Gewalt“, von „Strategie-Konterstrategie“ geben. Allerdings wären deren Grenzen streng einzuhalten, denn angewendet werden darf Gewalt nur, um soweit möglich die ideale Kommunikationsgemeinschaft herzustellen. Deren Regeln sind also nicht schlechthin außer Kraft.46 Apel fasst zusammen: „Alles, was … über die normative, moralische Rechtfertigung der Zwangsbefugnisse des Rechtsstaats gesagt wurde, gilt ja nur unter der Voraussetzung, dass der Rechtsstaat wirklich funktioniert (und zwar im Weltmaßstab funktioniert); und selbst dann gilt es nur in dem Teilbereich der Lebenswelt, dessen Regelungsbedarf sich verrechtlichen lässt. Somit bleibt in wesentlichen Lebensbereichen immer noch auch der von mir … thematisierte Problembestand der politischen bzw. politisch relevanten Verantwortungsethik. Er bleibt schon deshalb bestehen, weil, wie ich eingangs betonte, jeder von uns heute im Sinne einer postkonventionellen, planetaren Makroethik jenseits aller schon bestehenden Institutionen (und Sozialsysteme) mitverantwortlich ist für die Folgen unserer kollektiven Aktivitäten. In diesem Zusammenhang sind wir z. B. auch mitverantwortlich für die – möglichst durch Konferenzen und nicht durch Gewalt – herbeizuführende Institutionalisierung einer weltbürgerlichen Rechtsordnung im Sinne Kants.“47
Schicksal und Vorsehung
Die liberalen Abstraktionen eines allein sich selbst bestimmenden Subjekts oder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft sind folgenreich. Sie neigen beide dazu, sich als schicksalslos, ohne Zufall, ohne Vorgegebenheit, ohne geschichtliche Bestimmung, ohne soziale, physische und psychische Bedingtheit zu begreifen. Der Liberalismus konnte sich deshalb als „Emanzipation aus dem Schicksal“ verstehen.48 Seine verschwiegene Option gehört dem Abschaffen des Kontingenten. Das geschichtlich Überkommene hat immer den Anschein des Kontingenten, deshalb muss es sich rechtfertigen vor dem selbst Gewollten und selbst Hergestellten. In einer Zeit, in der an der Abschaffung des Schicksals gearbeitet wird, springt es ins Auge, dass dann doch sowohl Lessing als auch Kant die Rede von der Vorsehung für unverzichtbar halten. Welche Wirklichkeit wollen sie mit diesem, seiner Herkunft nach theologischen Begriff bewahren?
Am Ende seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ mündet Lessings Argumentation in ein Gebet: „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen zurückzugehen! Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist. Du hast auf deinen Wegen so viel mitzunehmen! So viel Schritte zu tun.“49 Festzuhalten ist, dass dieser Glaube an die Vorsehung „theistisch“ und „personal“ ist. In Lessings Sicht kann die Erziehung des Individuums zu seiner intellektuellen und sittlichen Selbständigkeit, wie auch damit zusammenhängend der Geschichtsprozess des Menschengeschlechts nicht der menschlichen Vernunft als einer autonomen und substantiell gleichbleibenden Vernunft allein zugeschrieben werden. Der sehr komplexe, widersprüchliche, weil konkrete Erziehungsprozess des Individuums und erst recht des Menschengeschlechts kann nicht von seinen vielfachen Bedingtheiten absehen und auf ein abstraktes Subjekt oder eine ideale Kommunikationsgemeinschaft allein zurückgeführt werden. Erziehung ist nach Lessing in ihrer geschichtlichen Entwicklung auf so etwas wie ein „Offenbarungswissen“ und damit auf göttliche Lenkung angewiesen. Im Alten und Neuen Testament sieht er weiterführende Durchgangsstadien auf dem Weg, den die Vorsehung führt. Selbstverständlich erreicht Lessing damit noch nicht zureichend den Sachverhalt, der in der Theologie als Providenz verstanden wird.
Aber erstaunlich häufig kommt auch Immanuel Kant in seinen kleineren Schriften auf die Vorsehung zu sprechen.50 Meistens geht er von der Zweckmäßigkeit der „Natur“ aus. In ihr findet sich aber eine Weisheit, die durch die Zwietracht der Menschen hindurch doch zu einer Eintracht fortschreitet,51 eine Weisheit, die die Spezies erhält, obgleich diese selber an ihrer eigenen Zerstörung arbeitet, eine Weisheit, die nicht eine des Menschen ist, sondern die sich gerade an der durch des Menschen eigene Schuld ohnmächtig gewordenen Idee stark erweist.52 „Von ihr (nämlich der Natur, H.P.S.), oder vielmehr (weil höchste Weisheit zur Vollendung dieses Zwecks erfordert wird) [nämlich einer vollkommenen völkerrechtlichen Verfassung, H.P.S.] von der Vorsehung allein, können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Teile geht, da im Gegenteil die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Teilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehen bleiben und auf das Ganze, als ein solches, welches für sie zu groß ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluss erstrecken können: vornehmlich da sie, in ihren Entwürfen einander widerwärtig, sich aus eigenem freien Vorsatz schwerlich dazu vereinigen würden.“53 Kant nimmt also an, dass in unserer praktischen Vernunft mehr als eine Idee der Vernunft, sondern eine größere Weisheit zum Tragen kommt. Der Mensch macht in der Notwendigkeit zu handeln die Erfahrung einer Weisheit, die weit über seine Ideale hinausreicht. Diese Weisheit berücksichtigt, anders als unsere Ideale, das Kontraproduktive dieser Ideale in ihrem Vorhaben mit. Im Gang der Natur (einschließlich der Vernunft des Menschen) nimmt Kant eine Weisheit an, die durch die Vielheit unserer Entwürfe, durch unsere Zwietracht, durch die Zerstörung an unseren eigenen Lebensbedingungen hindurchgreift. Er nennt sie Vorsehung. Vorsehung wird also im Gegensatz zu unseren abstrakten Idealen gesehen. Sie wird gerade dort erfahren, wo unsere Ideale sich in der faktischen Wirklichkeit als unzureichend erweisen. Festhalten möchte ich vor allem: Für Kant hat die Vorsehung eine Führungsaufgabe im Rahmen der praktischen Vernunft. Die Vorsehung ist keine apriorische Idee der Praktischen Vernunft selber. Sie übersteigt ihre Strukturen, Ideen und Ideale. Sie kommt also „von außen“. Sie bereichert diese durch ihre Kritik und trägt so dem empirischen Versagen der Praktischen Vernunft Rechnung.
Durch die Rede von der Vorsehung machen Kant und Lessing in der Zeit, in der die Vernunft sich anschickt, sich aus dem Schicksal zu emanzipieren, darauf aufmerksam, dass das sich selbst bestimmende Subjekt und die ideale Kommunikationsgemeinschaft auch einen Ort leer zu halten haben, den ihre Ideale nicht auszufüllen vermögen.
Von Lessing und Kant ermutigt möchte ich mit Odo Marquard die Frage stellen: „Trifft es wirklich zu, dass in der gegenwärtigen Welt … das Schicksal endgültig besiegt und zu Ende ist? Oder scheint es nur so? Wird die offizielle und manifeste Tendenz zur Machensallmacht des Menschen womöglich konterkariert durch eine latente und inoffizielle Tendenz: durch die Wiederermächtigung des Fatums?“54 Marquard verweist auf zwei Erfahrungen, in denen uns das Schicksal incognito schon eingeholt hat: Erstens die Unverfügbarkeit der Vorgaben. Nicht nur unsere Sterblichkeit bezeichnet unsere Endlichkeit, sondern auch die Tatsache, „dass die Menschen nie beim Anfang anfangen. Ihr Leben ist ein Interim: wo es aufhört, ist es zu Ende; aber wo es anfängt, ist niemals der Anfang. Denn die Wirklichkeit ist – ihnen zuvorkommend – stets schon da, und sie müssen anknüpfen. Kein Mensch ist der absolute Anfang: jeder lebt mit unverfügbaren Vorgaben.“55 Auch im Machen gehen wir selbstverständlich davon aus, dass wir anderes nicht zu machen brauchen, sondern es, so wie es gemacht ist, hinnehmen müssen. So gesehen gehört das „Fatum“, oder sagen wir das Faktum, sogar – wie es Apel ausgearbeitet hat – zu den Möglichkeitsbedingungen des Handelns. Es gibt einen Bedingungszusammenhang zwischen „Schicksal“ und Menschlichkeit.
Zweitens die Unverfügbarkeit der Folgen. Unserem Machen – auch dem der Kommunikationsgemeinschaft – fehlt die Allmacht; darum bewirkt es häufig, was es nicht will. „Die Folgen und Nebenfolgen entziehen sich seiner Kontrolle; sie werden unverfügbar.“56 Das Gutgemeinte ist oft nicht das Gute. Skeptischer und im Gegensatz zu Kants Vorsehungsüberzeugung formuliert Marquard: „Planung ist – jedenfalls häufig – Fortsetzung des Chaos unter Verwendung anderer Mittel. Das ist die List der Unvernunft: Die Machensallmacht des Menschen wiederermächtigt das Unverfügbare, das Verhängnis: ihr autonomer Kontrafatalismus entpuppt sich als konterautonomer Fatalismus; indem sie – machtselig – das Fatum vertreiben, rufen sie es gerade herbei.“57 Wir sind genötigt, bei aller mit Marquard gemeinsamen Kritik der Ausgangslage eine Unterscheidung zu treffen: Seine Refatalisierung ist noch nicht einmal ein gedanklicher Fortschritt. Die göttliche Vorsehung wohl. Die Refatalisierung negiert wiederum auf abstrakte Weise das abstrakte Ideal. Die Vorsehung dagegen geht an den idealen und konkreten Bedingungen des Handelns nicht vorbei.