Kitabı oku: «Sehnsucht nach Glück - im Gestern, im Morgen, im Jetzt!», sayfa 2

Yazı tipi:

Der alte Mann war im Begriff die Zeitung zusammenzufalten und zeigte sich jetzt interessiert. Jule schwieg. Sie senkte den Kopf und schaute etwas verlegen zu Boden. Als Jule länger nicht antwortete, wollte der alte Mann sie nicht zum Reden zwingen und ging wieder auf Distanz, um Jule nicht zu bedrängen. Schließlich kannten sich beide nicht. Er breitete wieder die Zeitung aus und las weiter. Jule schwieg. Sie war einfach von Direktheit des Mannes überrascht. Sie fühlte sich etwas überrumpelt, weil ihr gar nicht bewusst gewesen war, dass die Schlagzeilen sie persönlich trafen und dass sie ein Problem hatte. Sie hat das so nicht gesehen. Sie bemerkte, dass sie sich gerade in ihrem Tonfall etwas gehen ließ. Sie kannte den Mann doch überhaupt nicht. Aber sie merkte auch, dass es ihr auch gut tat, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das hat sie sehr lange nicht einfach so spontan gemacht. Sie hatte zwar oft ein unglaubliches Verlangen am liebsten alles an die Leute rauszulassen, was in ihr schrie und weinte, aber das konnte sie nicht seit dem Tod ihrer Oma. Sie schwieg seitdem nur noch und plötzlich war wieder dieser Schmerz da und die Leere nahm ihr den Atem. Sie konnte sich nicht mehr halten und schluchzte jetzt los. Tränen liefen ihr über die Wangen, was der alte Mann auch bemerkte. Er überlegte nicht lange, nahm nur ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und reichte es Jule.

„Danke“, sagte Jule schniefend, „Ich weiß auch nicht was mit mir los ist. Ich bin einfach nur leer und traurig. Ich kann nicht verstehen, wie man Hoffnung haben kann und woher man Energie zum Leben findet. Es fällt mir alles so schwer und in letzter Zeit überfordert mich einfach alles. Entschuldigen sie.“

Der Mann legte die Zeitung zur Seite.

„Ich weiß. Sie fühlen sich schwach und sie glauben keine Kraft mehr zu finden. Das kenne ich viel zu gut. Wenn alles schwarz aussieht, man keinen Halt findet, keinen Plan hat und eine Wand vor dem Kopf sieht, die nicht zu durchbrechen ist, dann fühlt man sich so. Aber glauben sie mir, das ist nicht das Ende. Leere und Traurigkeit entstehen, wenn man von etwas vergangenem Abschied nehmen muss, aber in der Tiefe alles immer noch dagegen kämpft, es loszulassen. Lassen sie ihre Gefühle los und wenn sie weinen wollen, ist das ein guter erster Schritt.“

Der Mann machte eine kurze Pause und fügte dann noch hinzu: „Als meine Frau vor einigen Jahren verstorben ist, fühlte ich dasselbe. Ich fühlte einen großen Schmerz. Ich dachte, ich werde sterben oder wenigstens daran zerbrechen. Ich war wütend auf alles, doch ich fraß lieber alles in mich hinein. Doch sie sehen, ich lebe noch.“ Der Mann lächelte Jule aufmunternd zu.

„Aber verraten sie es mir: Wie haben sie es geschafft des Lebens froh zu werden?“, fragte Jule jetzt mit großen Augen und voller Neugierde.

„Sie wollen mein Geheimrezept erfahren?“

„Ja“, antwortete Jule aufmerksam.

„Gut, ich werde es ihnen zeigen. Haben sie jetzt etwas Zeit?“

Jule hatte in der Tat Zeit und auch nichts vor. Sie nickte nur.

„Dann kommen sie mit, ich lade sie auf einen kleinen Spaziergang durch unsere Stadt ein. Ich zeige ihnen den Beginn meines Weges zum Glück.“

Ein riesiges, altes Tor aus Holz, in welches menschliche Gestalten und undefinierbare Muster eingeritzt waren, eine massive Klinke aus Metall, die blank poliert und an einigen Stellen schon abgenutzt war, und die dunkelroten Ziegel der Wand, die dieses alte Kunstwerk in der Mitte, dieses Tor, einrahmten, beeindruckten Jule schon sehr. Da standen sie nun. An der Eingangstür zur Kirche, die sie, wie so vieles, bisher nicht bewusst wahrgenommen hat. Der alte Mann stand schweigend neben ihr und genoss lächelnd die großen Augen seiner jungen Begleiterin, bevor er die Klinke umfasste und an der Tür zog. Eine kühle Luft drang aus dem Inneren hervor und wehte einen leichten erfrischenden Hauch auf die Haut. Mit einer Handgeste lud der alte Mann die etwas unentschlossene Jule hinein. In der Kirche war niemand außer ihnen da, so dass ihre Schritte im Raum hallten. Jule hatte keine Ahnung, warum sie hier waren. Sie war nicht so oft in der Kirche. Sie fühlte sich erst einmal ziemlich unwohl und fehl am Platz, ohne sich das erklären zu können. Der alte Mann ging ein paar Schritte vor ihr. Auf einmal kniete er kurz nieder, machte ein Kreuzzeichen und schritt in eine der Bankreihen hinein. Er setzte sich entspannt in der Mitte der Bank hin, während Jule immer noch unentschlossen da stand. Der alte Mann blickte in ihre Richtung und winkte sie zu sich. Mit vorsichtigen Schritten kam sie auf ihn zu und nahm bedächtig neben ihm Platz. Da saßen sie schweigend und lauschten der Stille. Vor ihnen breitete sich der Altar aus. Bunt bemalte Fensterbilder, die durch die Sonne von draußen erstrahlten. Sie schienen Geschichten aus der Bibel zu erzählen. Der gekreuzigte Jesus war zu sehen, eine Taube, die ihre Flügel ausbreitete und einen kleinen grünen Zweig im Schnabel hielt, weinende Frauen, die ihr

Gesicht in den Händen hielten und Wolken, die sich entzweiten und brennendes Feuer. Daneben waren noch sehr viele andere bemalte Glasscheiben. Alles wirkte von weitem wie ein Mosaikkunstwerk, das der düsteren und kalten Kirche das Leben einhauchte. Nach einiger Zeit des Schweigens und Beobachtens stellte sich in Jule eine Art Gelassenheit und Entspannung ein. Sie lehnte sich zurück und war überrascht wie geborgen sie sich auf einmal fühlte. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Ruhe. Nichts als Ruhe.

„Ich komme oft hierher“, flüsterte auf einmal der alte Mann.

„Ich sitze einfach so da und genieße die Stille. Von alleine ergibt sich ein Gespräch mit Gott, der mir einfach nur zuhört. Wenn ich hier so sitze, ist es als wenn ich ihm in meinem eigenen Herzen begegnen würde, nur dass ich es mir hier mit offenen Augen besser vorstellen kann.“

„Wer ist Gott für sie?“, fragte Jule den alten Mann.

„Gott. Hm. Gott kann man nicht in Worte fassen. Es ist eine Macht, die unser Leben lenkt, die außen, innen und überall ist. Sie vereint das Leben in sich, gebärt es und nährt es. Gott, meine Liebe, hält unser Schicksal in der Hand und verschont uns vor gar nichts. Aber Gott liebt uns und alles geschieht aus Liebe, auch wenn wir das nicht verstehen oder unsere Lebensumstände uns was anderes vermitteln wollen. Es gibt eben Sachen, die können wir uns nicht wirklich erklären.“

Jule verstand nicht so ganz.

„Sie sagen, alles soll aus Liebe geschehen? Aber das kann doch nicht sein.“

„Oh doch, das ist die Wahrheit. Sie denken wahrscheinlich jetzt an den Tod, oder an schlimme Erfahrungen oder eben an die Sachen, die gerade in der Zeitung standen, nicht wahr? Aber das geschieht auch aus Liebe. Es ist nämlich in jedem dieser Geschehnisse eine Botschaft von ihm, Gott. Es sind Geschenke, die wir lernen müssen anzunehmen. Erst durch das Zulassen von Schmerz und Tränen, erst indem wir dieses Geschenk im Laufe der Zeit verstehen lernen, eröffnet sich uns das Geheimnis und die Schönheit dessen, was wir erhalten.“

„Aber ich will solche Geschenke nicht“, sagte Jule.

Der alte Mann lachte in sich hinein.

„Wer will sie schon? Wir haben keine andere Wahl, wenn wir glücklich sein wollen. Denn Gott allein weiß den Weg zu unserem Glück, wir nicht.“

„Ich will so gerne glücklich sein, wissen sie, aber es geht bei mir nicht.“

Der alte Mann betrachtete jetzt Jule von der Seite, wie sie traurig ihren Blick sinken ließ und seufzte. Er dachte kurz nach, dann griff er mit seiner rechten Hand in die Hosentasche, nahm mit seiner linken Hand die Hand von Jule und legte ihr ein 50 Cent Stück auf die Handfläche. Jule schaute in die lächelnden Augen des alten Mannes und war überfragt.

„Stehen sie auf“, sagte der alte Mann, „ich will ihnen etwas zeigen.“

Sie gingen zurück zur Eingangstür der Kirche, wo sich ein Metallständer mit vielen Kerzen befand. Der Mann schmiss ein Geldstück in die daneben stehende Box hinein, nahm sich eine der liegenden Kerzen, zündete sie an und stellte sie in einen der vielzähligen Behälter rein. Er kniete sich hin und faltete seine Hände, seinen Blick auf das Bild von der Heiligen Mutter Gottes Maria gerichtet. Jule verstand, sie sollte einfach das gleiche machen. Als sie sich schließlich die Hände gefaltet neben dem alten Mann kniend befand, sah dieser ihren fragenden Blick und holte erneut aus.

„Wissen sie was das bedeutet, eine Kerze anzuzünden? Zwar ist nicht zu verkennen, dass damit der Raum erhellt wird und Wärme entsteht, aber das Wesentliche daran ist der Akt selbst: Man zündet ein Licht an.“

Beide schauten nun aufmerksam die brennenden Kerzen an. Nach kurzem Augenblick sprach der alte Mann weiter: „Wenn ein Licht an ist, schwindet die Dunkelheit. Ungewissheit, Angst und Unsicherheit hat keinen Platz mehr. Die Hoffnung wird lebendig, das Leben kann beginnen, verstehen sie?“

„Ja. Ich glaube, schon. Es ist symbolisch gemeint, oder?“

„Ich denke, es ist zwar ein symbolischer Akt, aber in Wirklichkeit vollzieht sich da etwas ganz fassbares: Man bekommt auf einmal nämlich das gleiche Leuchten in den eigenen Augen und fühlt sich nicht mehr so einsam und im Stich gelassen. Man spürt einfach, da erwartet mich etwas, was ich nicht klar sehen kann, was ich nicht genau weiß, aber es ist da. Man spürt es.“

Jule spürte nur, wie gut ihr diese Worte des alten Mannes taten. Er schien all die Dinge in ihr anzusprechen, die sie nie zu denken wagte und die in ihrer Tiefe schlummerten, aber nie an die Oberfläche schwammen. Ob es mit den Worten dieses Mannes zu tun hatte, ist schwer zu sagen. Die kalte Leere in ihr vermischte sich mit der äußeren Kälte in der Kirche. Doch sie war jetzt in ihr nicht allein, sondern kniete neben dem alten Mann. Sie schaute den Mann schweigend an und es fühlte sich gut an. Diese Verbundenheit, die ihr Herz berührte und die Einsamkeit langsam aufbrechen ließ. Sie bemerkte noch keine fassbare Veränderung an sich. Es schien alles in ihrem Leben immer noch schwarz und dunkel zu sein, aber die Kerze, die sie gerade angezündet hatte, beruhigte sie. Der alte Mann sagte, dass mit dem Akt des Anzündens das Leben beginnen würde und sie hoffte, es wäre so.

„Wo warst Du, liebes Kind?“, fragte die Mutter Jule von der Küche aus, als sie die Wohnung betrat. „Ich bin etwas früher von der Arbeit gekommen und machte mir Sorgen wo du bleibst.“ „Ach weißt du, Mama, mir sind heute so viele Dinge passiert, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll“, antwortete Jule während sie sich auf ein Stuhl niedersinken ließ. Ihre Mutter stand am Herd und bereitete etwas leckeres zu Essen vor, keine Ahnung was, jedenfalls roch es lecker. „Ach Jule, was ist nur los mit dir? Du bist in letzter Zeit noch verschlossener geworden als du schon warst. Ich mache mir Sorgen wegen Dir, Liebes.“ Jule hatte nicht großartig Lust über sich zu reden. Wenn sie nur wüsste, was mit ihr los ist. Ihre Gefühle hatten keine Ordnung und sie hatte keinen richtigen Plan. Sie fühlte so vieles auf einmal und wünschte so vieles auf einmal. Aber nichts geschah und nichts tat sich. Sie hatte den Eindruck in einem Labyrinth zu irren. Was nützte es, darüber zu sprechen, wenn sie sich selbst noch nicht einmal verstanden hat. Die Begegnung mit dem alten gebeugten Mann tat ihr heute gut. Sie war traurig, als sie sich voneinander verabschieden mussten, weil jeder seinen Nachhauseweg angetreten ist. Er sagte ihr zum Ende mit einem zwinkernden Auge und einem selbstbewussten Lächeln, dass alles gut wird und sie ihren Weg finden wird, wenn sie nicht vergisst, ihre Gefühle loszulassen. „Mama“, sagte Jule plötzlich in die Stille hinein, „fühlst du dich nicht manchmal etwas verloren? Hast du nicht manchmal das Gefühl in dir gefangen zu sein und spürst einfach nur tiefe Trauer und kalte Leere?“ Ihre Mutter war überrascht, dass Jule anfing über sich zaghaft zu sprechen. Sie unterbrach das Kochen und überlegte, was sie ihr antworten könnte, um ihr aus dem dunklen Tal, den sie gerade offensichtlich durchmachte herauszuhelfen. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Tochter bedrückte, aber sie spürte ihr Herz. Sie setzte sich zu Jule an den Tisch und nahm ihre Hand. „Jule, du bist nun 15 Jahre alt. Du bist schon so erwachsen aber noch so jung und vor dir liegt das ganze Leben, um glücklich zu sein. Jeder Weg steht dir noch offen und du kannst alles erreichen was du willst, verstehst du?“ „Aber“, entgegnete Jule, „ich weiß doch gar nicht welchen Weg ich überhaupt gehen soll. Das ist doch mein Problem, Mama. Ich fühle mich so verloren und so einsam und so traurig, weißt du. Alles fällt mir so schwer und das Glück, von dem du sprichst, liegt ganz woanders. Es kommt nie zu mir. Es ist nicht für mich gedacht.“ Jule ließ den Kopf hängen und sie spürte wieder den Kloß im Hals. „Aber Julchen, du bist nicht einsam und das was dich gerade bedrückt – jeder sehnt sich nach Glück. Aber nicht jeder lässt den Kopf so hängen wie du.“ „Mama, ich weiß einfach nicht was ich machen soll, um meinen traurigen Zustand zu ändern. Für mich ist alles sinnlos. Weißt du, Oma hätte mich verstanden. Aber sie ist nicht mehr da.“ „Oh ja, Oma war eine kluge Frau. Sie hat dich geliebt. Ich weiß, dass du sie auch geliebt hast. Geliebte Menschen zu verlieren tut weh. Sehr weh. Ich habe mir auch damals gewünscht Deinen Vater nicht zu verlieren. Aber er entschied sich fortzugehen. Er verließ mich und auch dich. Weißt du, was weh tut wenn geliebte Menschen aus dem eigenen Leben verschwinden?“ „Sie sind einfach nicht da“, antwortete Jule nachdenklich. „Ja, sie sind nicht da. Aber viel schlimmer ist, dass mit ihrem Fortgang auch ein Teil von dir mitgeht. Die Kunst besteht darin, dass man wieder von neuem anfangen und sich für neue Dinge und Menschen offen machen muss. Man muss sich auf die Suche begeben und das ist schwer. Sehr schwer. Doch es lohnt sich!“ „Aber wonach soll man denn suchen, Mama, wenn das, was man will, nicht mehr da ist!“, fragte Jule etwas aufgebracht. „Klar, Julchen, dass das Alte und Geliebte nicht mehr da ist. Aber darin sieht man unser Schicksal, Kind. Nichts auf dieser Erde ist für die Ewigkeit. Damit müssen wir klarkommen.“ Diese Aussage der Mutter machte Jule noch mehr traurig. Gerade zu spüren, dass alles für nichts ist und einmal wieder vergehen wird machte Jule so unglücklich. Sie hasste ihren Vater, weil er wegging und die Familie kaputt gemacht hat. Sie hasste den Tod, weil er ihr die Oma wegnahm und sie hasste ihre Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, weil sie sie so lähmte. „Ich habe Angst, Mama.“ „Komm her“, sagte ihre Mutter warm und umarmte Jule behutsam. Es war nicht einfach für die Mutter alles in Worte zu fassen, weil sie selber oft verzweifelt und melancholisch war. Es stimmte sie jetzt traurig, dass ihre Tochter unglücklich war und sie nicht die Kraft hatte ihr die Geborgenheit und die nötige Liebe zu geben, die sie brauchte. Sie durchlebte auch oft tiefe Phasen, aber sie zwang sich immer wieder aufzustehen und weiterzumachen. Irgendwie geht es schließlich doch weiter. Dabei übersah sie ganz gerne, dass auch sie sich oft nach dem Sinn des Ganzen fragte. Es fehlte ihr ein Mann an der Seite, ganz klar. Sie sehnte sich nach Geborgenheit und Liebe und zarten Umarmungen. Auch sie fühlte sich einsam. Ihre Tochter damit zu belasten wollte sie nicht und so seufzte sie jetzt, während Jule in ihren Ärmel schluchzte. Aber sie hatte plötzlich eine Idee, wie sie ihrer Tochter Hoffnung spenden konnte. Sie erinnerte sich an ihr altes Tagebuch, in dem sie beschlossen hatte, dem Herzen zu folgen. Kurz entschlossen stand sie vom Stuhl auf und ging zu der alten Fotokiste hin, wo sich das alte Manuskript befand. Liebevoll strich sie mit der Hand darüber und sagte zu Jule gewandt: „Mein Liebes, ich habe eine Idee wie ich dir auf deinem Weg weiter helfen kann. Schau, das ist mein altes Tagebuch, in dem mir vieles bewusst wurde und das mir Hoffnung spendete. Da du nun Osterferien hast, findest Du sicherlich genug Zeit, um es zu lesen und dich auf die Spuren deiner Mutter zu begeben. Na? Bist du neugierig?“ Jule beruhigte sich und putzte sich noch einmal ordentlich die Nase, bevor sie das liebevoll gestaltete Tagebuch ihrer Mama in Empfang nahm: „Louise Maria und ihr Weg zum Glück“, las sie laut vor. Sie umarmte ihre Mama und dankte ihr mit einem Kuss für das Vertrauen. „Du bist ein Schatz, Mama“, flüsterte sie ihr ins Ohr und konnte es kaum erwarten in ihr Zimmer zu gehen, um sich in das geheime Werk ihrer Mutter zu vertiefen.

TAGEBUCH TEIL 1 FINGE DAS HERZ AN ZU DENKEN, WÜRDE ES AUFHÖREN ZU SCHLAGEN
23. Januar 2015/ Freitag

Ich muss das, was zwischen mir und Leon ist festhalten … Wenn ich mit ihm spreche oder bei ihm bin, habe ich das Gefühl mir selbst ganz nahe zu sein. Ich liebe mich trotz meiner Krankheit und egal wie ich bin. Ich möchte ihm ganz nahe sein und ihm doch seinen Raum lassen. Ich stelle mir vor, mit ihm eine Städtetour zu machen und freue mich, die Welt mit seinen Augen zu entdecken. Er hat so einen unversehrten Kern in sich, der mich anstrahlt und das fühlt sich unendlich gut an. Bei ihm zu sein ist wie an den eigenen Wurzeln zu fassen, die eigene Stärke zu spüren und die Lust, zu blühen zu beginnen. In seiner Nähe kann ich mich nicht verstecken, alle Räume sind hell und es wird alles darin sichtbar. Das tut zum einen weh und ist zum anderen sehr heilsam. Was nun? Ehrlich gesagt, ich habe Angst, möchte weglaufen. Doch so würde ich nur vor mir selbst weglaufen. Bin ich verliebt? Liebe ich ihn etwa? Was ist das, was ich fühle?

03. Februar 2015/ Dienstag

Da ist er, Leonard, mein Leoni. Noch vor einer Woche war da so ein Druck im Magen, dieses Kribbeln, diese Sehnsucht. Wir trafen uns heimlich in der Nacht, um sich dann früh morgens zu verabschieden, wir bekamen nicht genug voneinander. Dann waren diese Momente da, wo wir uns voreinander geöffnet haben und uns so gezeigt haben, wie wir ganz tief im Innern sind … wir weinten, weil wir da eine Seite an uns berührt haben, die lange Zeit verschüttet war. Nun liegt sie frei. Es sind nun ein paar Tage vergangen und ich merke, wie unbeholfen ich jetzt bin, wie schwer es mir fällt mit meinem Schatz zu sprechen, ihm zu begegnen. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll. Da ist zum einen das Bedürfnis zu flüchten und zum anderen ihm um den Hals zu fallen und ihn zu küssen. Ich bin dermaßen gelähmt, dass ich nicht weiß, was genau ich fühle. Ich spüre, dass es ihm genauso geht … dass wir uns eigentlich lieben, aber nun einen Rahmen brauchen. Wohin mit uns? Was ist unsere Bühne? Ist es zu früh, bereits so darüber nachzudenken? Wir haben uns einander selbst offenbart. Wir sehen uns nun ungeschminkt und pur. Trotzdem sagen wir uns ich liebe dich. Das tut gut, aber macht auch auf der anderen Seite unsicher und ängstlich. Irgendwie fühle ich mich zumindest ihm ausgeliefert. Er sieht mich, er kann in der Wunde stochern, er kann mich emotional auffangen oder mich fallen lassen, er kann mich jetzt manipulieren wollen oder mir eine Chance geben, um mich zu entfalten. Ich weiß nur, dass ich ihn brauche. Es tut gut ohne Panzer zu laufen und so gesehen zu werden wie ich bin.

16. Februar 2015/ Rosenmontag

Ich kann den inneren Schmerz kaum aushalten … phuuuuu es tut so weh! Was ist dieser Schmerz? Es ist ein alter Schmerz, ausgelöst durch den Ausflug von letzter Woche, und zwar nach Düsseldorf. Da sah ich auf einmal ganz deutlich, in was für einem abgehobenen Leben ich lebte. Lebte ich? Nicht wirklich. In Düsseldorf ist alles perfekt, alles hochgestochen, alles schnelllebig und glänzend. Ich sah am letzten Freitag dieses Leben durch die Fensterscheiben der Restaurants, der Wohnungen und beim Schlendern durch die Straßen. Plötzlich wurde mir ganz klar: Für mich mit meiner Krankheit und Herkunft ist kein Platz da. Die sieben Jahre, in denen ich in dieser Landeshauptstadt lebte, waren wie eine Seifenblase, die unwiderruflich geplatzt war! Alles ist futsch und weg, als hätte es mich da nie gegeben. Ich bin in dieser Stadt längst vergessen, als wäre ich bereits zu Lebzeiten gestorben. Nur allein dadurch, dass meine Familie mich noch kannte, dass sich eine Handvoll Freunde fanden, die mir meine Seele widerspiegelten, konnte ich etwas Halt finden und ein Gefühl für mich entwickeln. Doch aus der Düsseldorf-Zeit war niemand mehr da, um mich ganz zu verstehen. Das muss man erst einmal verkraften. Ich war in den letzten zweieinhalb Jahren zwischen den Welten verloren. Ich war plötzlich ein Niemand, eine Null, ich hatte keine Identität mehr, weder in Düsseldorf noch in Bottrop. Ich habe mein Leben restlos in eine Seifenblasen-Identität investiert und musste dann auf einmal feststellen, ich hatte nichts erreicht, alles löste sich in Luft auf; da war nichts mehr da. Wenn ich nach Düsseldorf fahre, habe ich Angst diese Seifenblasen-Welt zu betrachten. Ich sehe den Schein und ich sehe meinen Friedhof, ich spüre noch Schmerz, ich erinnere mich an die Zeit der Verblendung. Es tut weh. Ich bin ein Ruhrpott-Kind und doch zieht es mich nach etwas Höherem. Denn seit Kindesbeinen an liebe ich Kunst und Musik, liebe ich Poesie und die Wissenschaft. Doch zu welchem Preis? Ich bin in einem schwarzen Loch geboren und trotz eines harten Bodens zu einer zarten Blume gewachsen, beziehungsweise bin zu einem prächtigen Kirschbaum gewachsen und bereits aufgeblüht. Ich muss jetzt auf mich gut aufpassen, um nun nicht restlos zerrupft oder schlecht behandelt zu werden. Ich lebe, um zu wachsen, ich lebe, um es mir gut gehen zu lassen. Einfach leben, das ist was ich jetzt neu lernen muss. Nicht für Leistung, nicht fürs Gefallen, nicht für irgendeine Art zu leben … nur für mich. Ich brauche nur da zu sein. Ich bin nach der Zeit in Düsseldorf tief gefallen. Ich besuchte eine Klapse nach der anderen und fand ganz lange nicht mein Gleichgewicht. Da traf ich Leon und wir verstanden uns auf Anhieb. Wir trafen uns in der Gosse, krank, zerbrechlich, schwach und unserer Existenz beraubt. Und mitten aus dem schmutzigen Schlamm erwuchs zwischen uns eine Lilie der Liebe und sie ist wunderschön. Es ist der Schlamm, unsere Essenz, die uns verbindet und uns festen Stand gibt. Wir sind nicht in unseren Schein verliebt, in das fertige Produkt. Wir kennen die Abgründe der Welt, die wir am eigenen Leib erfahren haben, und wir haben trotzdem noch nicht aufgegeben.

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
280 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783969405529
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi: