Kitabı oku: «Sophies Vermächtnis», sayfa 3

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Der plötzliche Tod ihres künstlerischen Leiters stürzte die Kestner-Gesellschaft im Winter 1922 in eine tiefe Krise. Wie sollte die Lücke gefüllt werden, die dieser mutige Schrittmacher der progressiven Kunst hinterließ? Der blinde Dichter Adolf von Hatzfeld, ein enger Freund von Paul Erich Küppers, schrieb in der »Frankfurter Zeitung«: »Diejenigen, die diesem Leben nahe standen, können die Sinnlosigkeit seines Todes kaum fassen … Er war der ach so seltene Typus des Kunsthistorikers, der durch sein tägliches Leben die Kunst in lebendiges Leben verwandelte.«

Sophie Küppers stand in dieser schweren Zeit zum Glück nicht allein da. Die Freunde halfen, wo sie konnten. Man bot ihr an, in den unteren Räumen des großen Hauses in der Königstraße 8 Kunstgewerbe-Ausstellungen zu veranstalten. Sie konnte außerdem Arbeiten der von ihr bevorzugten Künstler wie Paul Klee, Kurt Schwitters, Christian Rohlfs und anderen ausstellen.

Zuvor hatte man ihr freundschaftlich versichert, dass man ihr die Leitung der Kestner-Gesellschaft übertragen hätte, weil man ihre Fähigkeiten und Begabungen durchaus zu schätzen wisse, aber ihre Stellung als Hausfrau und Mutter mache das unmöglich. Eine verantwortungsvolle Tätigkeit im Kunstbereich und Mutterschaft schlossen einander damals eben aus.

3. »La mère des bolcheviks«

Oft betrachtete Sophie Paul Klees »Sumpflegende«, wünschte sich hinein in diesen verzauberten Kosmos. Vielleicht war ihr geliebter Mann ja ein Teil davon geworden. Niemals hätte sie sich von diesem Bild getrennt, obwohl sie weiter Kunstwerke kaufte und andere verkaufte, sich mit Künstlern traf und Ausstellungen organisierte. Das lenkte sie von ihrer Trauer ab, die sie ganz in sich einschloss.

Erschwert wurden ihre persönliche Situation und auch die finanzielle Lage der Kestner-Gesellschaft durch die Inflation, die sich im Gefolge des Ersten Weltkriegs wie eine Epidemie ausbreitete. Die Mark war von Tag zu Tag weniger wert. Überweisungen an die Krankenkasse von 1.200.000.000 Reichsmark oder an den Kohlenhändler von 50.000.000.000 waren durchaus üblich. Sophie erinnerte sich an den Druck von Einhundert-Milliarden-Scheinen. »Wir waren fieberhaft tätig. Bis wir das Geld für Verkauftes abgeben konnten, war es schon entwertet. Wohl oder übel war ich in den Kunstbetrieb dieser halsbrecherischen Zeit geraten. Ich musste meine Kinder versorgen. Unsere ansehnliche Erbschaft zerplatzte wie Seifenblasen. Mit den Wertpapieren konnte man den Ofen heizen. Nur die Bilder, die wir erstanden hatten, stellten bald einen realen Wert dar; sie stiegen im Kurs wie Aktien, halfen mir und meinen Kindern, diese Krise zu überstehen.«

Viele häufig recht arme und noch nicht zu großem Ruhm gekommene Künstler scharten sich nach wie vor um Sophie, verehrten sie wie eine gütige und zugleich strenge Mutter. Ihrem herben Charme und der Kraft ihrer Argumente konnte kaum einer widerstehen; wenn ihr eine Arbeit besonders gefiel, bekam sie sie für wenig Geld. Wenn ihr eine nicht gefiel, sagte sie das ganz offen. Wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Künstler zu fördern, eine Ausstellung mit ihm zu veranstalten, dann war sie davon überzeugt, dass ihm eine große Zukunft bevorstand. Sie täuschte sich selten. Oft schenkten ihr die dankbaren Künstler auch Arbeiten. Scherzhaft nannte man sie »La mère des bolcheviks«. Diese Huldigung hatte sie den vielen Künstlern aus dem revolutionären Russland zu verdanken, die sie als Gastgeberin empfing und, eben wie eine Mutter, umsorgte.

Ein weiterer Spielplatz der Künste war in Hannover neben der Kestner-Gesellschaft drei Jahre lang die Galerie von Garvens in einer vornehmen Villa in Herrenhausen, die Herbert von Garvens-Garvensburg von seinen Eltern geerbt hatte. Er gehörte mit zu den Gründern der Kestner-Gesellschaft und zu den Wegbereitern der modernen Kunst in Hannover. Ihm gebührt das Verdienst, den belgischen Maler James Ensor für Deutschland entdeckt zu haben. Bei ihm durften so »unbequeme Künstler« wie George Grosz und Otto Dix ausstellen, er erwarb frühzeitig bedeutende Werke von Kandinsky, Delaunay, Kokoschka und Chagall. Bei ihm führte Kurt Schwitters zusammen mit weiteren Dadaisten 1922 sein berühmtes Dada-Revon-Spektakel auf. Das Kunstwort Revon ging als seine Umkehrung der Endsilben von Hannover in die Kunstgeschichte ein.

Man lag also auf einer Wellenlänge. Und mehr als einmal wechselten die Gäste der Kestner-Gesellschaft aus der Königstraße zum nächsten Ereignis in die Herrenhäuser Allee. Oder umgekehrt. Häufig tauschte man wechselseitig Künstler und Veranstaltungen aus.

Von Käte Steinitz, der Chronistin jener aufregenden Zeit, haben wir ein Porträt von Herbert von Garvens, der sich auch gern in der malerischen Tracht eines Zimmermanns fotografieren ließ. Sie schilderte ihn schwärmerisch als »eine Lichtgestalt mit unglaublich blauen Augen, Schönheit suchend und sie mit seinen äußerst gepflegten Händen ergreifend«.

Von Garvens war der Sohn eines wegen seiner großzügigen Spenden vom Kaiser geadelten hannoverschen Industriellen und Erbe der väterlichen »Commandit-Gesellschaft für Pumpen- und Maschinenfabrikation«. Früh hatte er sich der ungeliebten Aufgabe der Geschäftsführung entzogen und auf ausgedehnten Reisen nach Ostasien und in die Südsee bereits um 191o mit dem Aufbau einer erlesenen Kunstsammlung begonnen. Von Garvens war mit seinem Freund und Mitarbeiter Hanns Krenz, dem späteren dritten Leiter der Kestner-Gesellschaft, aus der Kriegsgefangenschaft in Südfrankreich nach Hannover zurückgekehrt, zu seinen Kunstsammlungen, denen er sich nun wieder widmen wollte. Aber er mochte nicht nur als Sammler ein Stück nach dem anderen erwerben. In den wechselnden Ausstellungen einer Galerie würde jedes Kunststück intensiver erlebt werden und mehr Leben ausstrahlen, »gespiegelt von vielen Augen«, wie er es ausdrückte.

Käte Steinitz schilderte die Umgebung, in der sich von Garvens wohl fühlte: »Zwischen prachtvollen und seltenen Möbelstücken verschiedenster Stilarten, neben großen exotischen Pflanzen sahen wir James Ensor, Paula Modersohn, Kokoschka und russische Ikonen, Chagall, Kandinsky und Schwitters, alles bis zu den Bauhaus-Künstlern Moholy-Nagy, Schlemmer und Baumeister. Wir sahen altes chinesisches Porzellan mit seltenen Chrysanthemen aus dem Treibhaus, Kinderkunst, Volkskunst, Kunst von Geisteskranken …«

Nach nur drei Jahren schloss von Garvens im Spätherbst 1923 seine Galerie, begab sich erneut auf Weltreise und zog sich dann auf die Ostseeinsel Bornholm zurück, verbittert, weil er wegen seiner Homosexualität immer wieder den Anfeindungen konservativer Kreise ausgesetzt war. In dieser Zeit stand der Massenmörder Fritz Haarmann in Hannover vor Gericht, und mit einer Mischung aus Sensationsgier und Ekel nahm die Öffentlichkeit jedes schauerliche Detail dieses mörderischen Lebens begierig auf. Haarmann selbst hatte in einem der vielen Verhöre behauptet, er habe für die Wohlhabenden unter den hannoverschen Homosexuellen als Zubringer gearbeitet und die jungen Männer im Auftrag von Herbert von Garvens getötet, um Mitwisser zum Schweigen zu bringen. Obwohl diese Behauptungen völlig aus der Luft gegriffen waren, reichten sie doch aus, von Garvens in ein Zwielicht von Gerüchten und Verdächtigungen zu stoßen.

An jenem ausgelassenen Dada-Abend im Oktober 1922 im Salon von Garvens’ war davon jedoch noch keine Rede. Schwitters war aus Paris über Holland nach Hause gekommen und hatte auf jeder Station seiner Reise einige Dadaisten aufgesammelt: die Holländer Theo und Nelly van Doesburg, den Schweizer Hans Arp, den Rumänen Tristan Tzara, den Ungarn László Moholy-Nagy, den Österreicher Raoul Hausmann, die Deutschen Hannah Höch, Werner Graeff und viele andere. Nur Sophie war der Veranstaltung ferngeblieben. »Ich war noch viel zu bedrückt, um mir den Spektakel des ›Épatez le bourgeois!‹ anzuhören, da sich doch das Zerschlagene durch nichts Neues, Positives ersetzen ließ.«

Tags darauf kam die Gruppe der Avantgardisten, bevor sie nach Düsseldorf zum großen Dadaisten-Kongress aufbrach, in die Kestner-Gesellschaft. Es wurde für Sophie Küppers ein schicksalhafter Tag.

»Kurt Schwitters eröffnete mir, dass der Russe El Lissitzky auch anwesend sei, um mir seine Arbeiten zu zeigen. Ich war sehr erfreut. Schwitters legte mir eine Mappe mit Aquarellen vor. Das waren also die Arbeiten, die mir im Oktober 1922 auf der ersten Russischen Kunstausstellung in der Berliner Galerie Van Diemen solch einen Schock versetzt hatten. Ich fühlte mich zu Hause in diesen unendlichen Räumen, spürte die Spannung der sich gleichsam vorwärts bewegenden, schwebenden Körper. Ein Aquarell hatte es mir besonders angetan. Es war eine durchsichtige Kugel aus Gelatine, die ein schwarzer Stab schwebend im Gleichgewicht hielt. Diese Arbeit musste ich besitzen! In meiner Geldschatulle, die mir als Kasse diente, kramte ich den vorhandenen Betrag zusammen, bat Schwitters, den Künstler zu fragen, ob es ihm möglich sei, mir die Arbeit für die bescheidene Summe, die ich anbot, zu überlassen. Schwitters brachte die Genehmigung. Dann nahm er Mappe und Geld und übergab sie dem bis dahin unsichtbaren Lissitzky.

Als alle gingen, verabschiedete sich von mir eine kleine, schmächtige, etwas gebeugte Gestalt. Ich schaute in schwarze, faszinierende Augen, die mir unter einer prächtigen Stirn entgegenleuchteten. ›Sie haben meine beste Arbeit ausgewählt‹, wurde mir mit festem Händedruck versichert. Worauf ich nur ›danke schön‹ sagen konnte.

Das war mein erstes Zusammentreffen mit El Lissitzky.«

Der mittellose, noch am Anfang seines Ruhms stehende russische Künstler aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, aufgewachsen in einem der wetterzerzausten Holzhäuschen im Schtetl von Witebsk, ewig kränkelnd und hustend, und die protestantische Bürgerstochter aus einer wohlhabenden Münchener Verlegersfamilie – zwei Seelenmetalle, die wohl nie miteinander verschmelzen würden.

Aber er war der erste Vertreter der russischen Avantgarde, dem sie begegnete – der neuen Kunst, die aus einem fernen, geheimnisvollen Land kam, von dem man in Deutschland noch so wenig wusste. Das schon allein machte ihn für Sophie interessant. Und da waren diese dunklen Augen, in denen das Feuer der russischen Revolution glühte. Und der Hunger auf Leben. Und diese ansteckende Energie, die El Lissitzky ausstrahlte.

Sophie behauptete zwar später, dass sie zunächst nur den Künstler in ihm gesehen habe, den sie, ohne ihm bis dahin begegnet zu sein, vorbehaltlos bewundert habe. Aber seine Augen, die sie so fasziniert hatten, ließen sie nicht mehr zur Ruhe kommen.

Lissitzky, der seinen schon damals fast kahlen Kopf gern mit einer karierten Mütze bedeckte, war ein eher unscheinbarer Gast bei den ausgelassenen Festen rund um Kurt Schwitters. »Seine Arbeiten redeten, während er selbst schwieg«, beobachtete Sophie. Sie war es auch, die den Vorschlag machte, in der Kestner-Gesellschaft eine Ausstellung mit Lissitzky zu riskieren.

Im Januar 1923 war es dann so weit. Die Einladungskarte zeigte eine schwebende Figur im Raum, die bedeutendste Arbeit der Ausstellung. Sie wurde von Dr. Alexander Dorner, dem Leiter des Provinzial-Museums, erworben. Auf einen Ausstellungskatalog musste verzichtet werden, die finanzielle Lage der Kestner-Gesellschaft verschlimmerte sich wegen der Inflation von Tag zu Tag.

Zusammen mit El Lissitzky stellte auch der Hannoveraner Expressionist Max Burchartz aus, der als Illustrator von Dostojewskjs Roman »Schuld und Sühne« bekannt geworden war. Der Gegensatz zwischen den beiden Künstlern hätte nicht größer sein können.

Damals grassierte eine wahre »Dostojewskj-Epidemie« in Deutschland. Kein anderer Schriftsteller hatte je so offen in die Abgründe der menschlichen Seele geblickt, hatte so schonungslos Wunden aufgerissen, so deutlich den tiefen Zwiespalt von Kopf und Seele, von Vernunft und Leidenschaft gezeigt. Bei den Abenden der Kestner-Gesellschaft trat häufig auch die Dresdener Schauspielerin Midia Pines, eine große Dostojewskj-Interpretin, auf. Gehüllt in ein langes, dunkles Gewand, las sie aus den Werken von Tolstoi und Gogol, aber vor allem aus Dostojewskjs Roman »Die Brüder Karamasow« und besonders dem Kapitel »Der Großinquisitor«. »Ihre Ausdruckskraft war so stark, dass sie die leicht erregbaren expressionistischen Geister noch mehr aufwühlte«, erinnerte sich Käte Steinitz.

Aber den größten Eindruck machte der erste öffentliche Auftritt des stillen Russen El Lissitzky. »Mit ihm blies der neue scharfe Wind der Konstruktivisten durch Hannover. Er fegte die expressionistischen Ekstasen weg und ersetzte sie durch Zirkel und Lineal.«

Die Ausstellung wurde ein Erfolg. Lissitzky begeisterte die Kunstfreunde Hannovers mit seiner Präzision und Klarheit. Sie ließen sich willig auf die neuen Räumlichkeiten ein, in denen der Künstler seine geometrischen Formen zum Schweben brachte, und kauften mehrere seiner Arbeiten. Daraufhin beauftragte die Kestner-Gesellschaft Lissitzky mit einer Mappe Lithographien als Jahresgabe für die Mitglieder. Es sollte die berühmte erste Kestner-Mappe werden. Lissitzky nahm den Auftrag an und versprach, zu dessen Ausführung wieder nach Hannover zu kommen. Dann reiste er nach Berlin, wo er seit zwei Jahren in der großen russischen Kolonie lebte.

4. Vom jiddischen Schtetl nach Berlin

Beinahe wäre der kleine Elisar Markowitsch Lissitzky, der am 10. November 1890 in dem Dorf Potschinok im Gouvernement Smolensk zur Welt kam, Amerikaner geworden. Sein Vater Mordochai, der als Verwalter eines Gutsbesitzers für sich und seine Familie im zaristischen Russland keine Chancen sah, wanderte, wie zuvor schon sein Bruder, nach Amerika aus. Er nannte sich fortan Mark. Als er dort nach einem Jahr ein sicheres Auskommen gefunden hatte, bat er seine Frau Sophia Lwowna, mit dem zweijährigen Lasar nachzukommen. Doch die strenggläubige Jüdin holte erst den Rat eines Rabbiners ein. Der ermahnte sie, es sei ihre Pflicht, in der Heimat und bei der Familie zu bleiben und den Ausreißer zurückzurufen.

So kam es, dass El Lissitzky, wie er sich später nannte, kein Sohn der Neuen Welt wurde, sondern dass sich seine Wurzeln tief in die kalte russische Erde gruben.

Im Schtetl des weißrussischen Provinzstädtchens Witebsk, dessen Bewohner zur Hälfte aus Juden bestanden, wuchs er auf. Der heimgekehrte Vater wurde dort Vertreter einer Glas- und Porzellanfabrik und konnte seine Familie – Elisar bekam noch einen Bruder und eine Schwester – mehr schlecht als recht ernähren.

Beide, Vater und Mutter, sollte Sophie später erkennen, konnten ihrem Ältesten zwar keine robuste Gesundheit mit auf den Lebensweg geben, aber sie vererbten ihm ihre besten Charaktereigenschaften und Begabungen. Der weit gereiste Vater, der neben Russisch und Jiddisch auch Deutsch und Englisch sprach, übersetzte in seinen Mußestunden Heine und Shakespeare ins Russische. Er liebte Bücher über alles und übertrug diese Liebe auf seinen Sohn. Während seines ganzen künstlerischen Lebens hat sich El Lissitzky immer wieder mit dem Buch und seiner grafischen Gestaltung auseinander gesetzt. Seine Mutter, eine zierliche kleine Person mit großen schwarzen Augen, war mit einem außergewöhnlich scharfen Verstand und unerbittlicher Hartnäckigkeit gesegnet, vor allem wenn es darum ging, andere Menschen von ihrer Meinung zu überzeugen.

Die Familie lebte im Schtetl in einem primitiven, aus dicken Holzbalken gezimmerten Häuschen. Wie überall im russischen Reich wurden die Juden während der Zarenzeit unterdrückt und ausgegrenzt. Ein Ereignis in seiner Kindheit hat sich dem kleinen Elisar besonders eingeprägt: ein verheerender Brand, der den Himmel nächtelang tiefrot färbte und dem vor allem die Holzhäuser im Viertel der ärmsten Juden zum Opfer fielen.

Die Frische und Naivität der jüdischen Kinderbücher, die zu seinen frühen Arbeiten zählen, mit Bauersleuten, windschiefen Häusern, Pferden, Ziegen und Hühnern, sein Interesse an der Volkskunst, wurzelten in dieser Umgebung. Allerdings sollte er seiner ersten künstlerischen Liebe nicht lange die Treue halten. Marc Chagall hingegen, der drei Jahre zuvor ebenfalls in Witebsk zur Welt gekommen war, huldigte in seinen farbigen Tagträumen seiner Heimat ein Leben lang und inspirierte damit wie kein anderer Maler des 20. Jahrhunderts die Dichter seiner Zeit. Im Grunde seines Herzens blieb er immer, ganz gleich, ob er in Paris oder St. Petersburg lebte, ein Witebsker.


El Lissitzky 1932 (Foto: M. Prechner/​Verlag der Kunst, Dresden)

Lissitzky war zunächst beeindruckt von den märchenhaften Bildern des fast Gleichaltrigen, distanzierte sich aber später von ihnen.

Nach der Russischen Revolution im Oktober 1917, in die vor allem die Künstler große Hoffnungen setzten als ein Tor zu neuen, besseren Welten, wurde Chagall zum Volkskommissar der Schönen Künste in Witebsk ernannt. Außerdem übernahm er die Leitung einer neu gegründeten Kunstakademie. Mit dem Unterricht beauftragte er wichtige Künstler der russischen Avantgarde wie Kasimir Malewitsch, Iwan Puni und auch El Lissitzky, der dort ab 1919 die graphischen Werkstätten und die Abteilung für Architektur leitete.

Schon bald musste Chagall erkennen, dass seine Kunstauffassung von sanfter Menschlichkeit mit dem Gebrauch von Zirkel und Lineal in der Kunst Malewitschs und Lissitzkys kollidieren würde. Die neue Realität eines schwarzen Quadrats oder eines roten Kreises passte nicht zu seinen grünen Kühen, fliegenden Pferden und umschlungenen Liebespaaren. Nachdem Malewitsch 1920 offen gegen Chagall revoltiert und El Lissitzky zudem verkündet hatte, dass »die Sensibilität der Seele durch die Empfindlichkeit einer Fotoplatte ersetzt« werde, trat Chagall tief gekränkt von der Leitung der Schule zurück und zog mit seiner Familie nach Moskau.

Aber noch war Elisar ein kleiner Junge. Sein mathematisches und zeichnerisches Talent blieb seinen Eltern nicht verborgen. Weil es in Witebsk kein Gymnasium gab, brachte ihn seine Mutter zum Großvater nach Smolensk. Nun lebte der Schüler des Realgymnasiums in der großen Gouverneursstadt und kehrte nur in den Ferien nach Witebsk zurück. Mit seinen unruhigen, fast prophetisch in die Zukunft gerichteten Augen beobachtete er alles, was um ihn herum vorging. Später schrieb er über diese Zeit:

»Mein Leben ist begleitet von noch nie dagewesenen Sensationen. Kaum fünf Jahre alt, steckt man mir die Gummischläuche des Edisonschen Phonographen in die Ohren. Mit acht Jahren laufe ich in Smolensk der ersten Elektrischen nach, und alle Bauernpferde fliehen vor dieser Teufelskraft aus der Stadt. Noch einige Jahre – da fliegen in Deutschland über meinem Kopf die Zeppelinluftblasen und die Aeros purzeln ihre ›looping the loop‹. Von Tag zu Tag steigert sich mein Schwingungstempo. Selbst wenn ich noch, dank einem Motorfehler, zu Fuß laufe, sehe ich doch, wie uns in einigen Jahren die heutige lumpige Paarhundert-Kilometer-Geschwindigkeit wie Schneckenlauf vorkommen wird.«

Im Haus der Großeltern, die in ihrer eigenen Werkstatt Mützen und Hüte herstellten, waren die Kinder aus der Nachbarschaft immer willkommen. Hier entdeckte El Lissitzky seine Begeisterung für karierte Mützen, die zu seinem Markenzeichen wurden. Später erzählte er Sophie von dem riesigen Holzofen, der die halbe Küche einnahm und in dem die Großmutter Fleisch und Gemüse schmorte. Es blieb die einzige kulinarische Erinnerung des ansonsten völlig anspruchslosen Künstlers. In seiner späteren Berliner Zeit, so erzählte Sophie, habe er hauptsächlich von Kakao und Brötchen gelebt, den Luxus seiner geliebten Pfeife sich jedoch nie versagt.

Seinen Lehrern in Smolensk fiel das zeichnerische Talent des Schülers Elisar auf. Sie verhalfen dem 13-Jährigen zu einem Ferienaufenthalt in der Witebsker Malschule des Künstlers Jehuda Pen, der auch der erste Lehrer von Marc Chagall war. Er hatte den realistischen Stil der akademischen Salonmalerei um die Jahrhundertwende erlernt und gab ihn an seine Schüler weiter. Den jungen Lissitzky hatte er wohl mehr durch seine warme Menschlichkeit als durch seine Malweise beeinflusst. Aber er wies ihm seinen eigenen künstlerischen Weg. In dieser Zeit entstand die erste Buchgestaltung des angehenden Künstlers, ein revolutionärer Almanach jugendlicher Rebellen in zwei handgedruckten Exemplaren mit den Zeichnungen Lissitzkys und den Texten gleichgesinnter Kameraden.

Nach Beendigung des Gymnasiums bewarb sich Lissitzky um die Aufnahme an der Akademie der Künste in St. Petersburg – und wurde abgewiesen, da er seine Aufgabe, einen Diskuswerfer zu zeichnen, nicht nach den akademischen Richtlinien gelöst hatte. Ihm war natürlich klar, dass er in Wirklichkeit abgelehnt wurde, weil er Jude war und das »Judenkontingent« an der Akademie möglichst klein gehalten werden sollte. Trotzdem geriet er in eine tiefe Krise, zweifelte an den eigenen Fähigkeiten und gab die Malerei zunächst auf. In der Heimat hielt ihn nun nichts mehr.

1909 verließ Lissitzky Russland zum ersten Mal, um wie viele andere seiner Landsleute an der Polytechnischen Schule in Darmstadt Architektur zu studieren. Dieses Studium wurde zur Grundlage seines gesamten künstlerischen Schaffens. Kein anderer Künstler hat in so kurzer Zeit so viele Talente zum Blühen gebracht wie El Lissitzky: Er war Maler, Designer, Typograf, Illustrator, Fotograf, Ingenieur, Architekt, Bühnenbildner und Gestalter von Ausstellungen.

Während seiner Studienjahre wohnte er in einem bescheidenen Zimmer bei einer Arbeiterfamilie. Viele Stunden verbrachte er dort zeichnend und aquarellierend, vergaß alles um sich herum, sogar das Essen. Da der monatliche Zuschuss von zu Hause sehr knapp bemessen war, verdiente er sich zusätzliches Geld, indem er Prüfungsarbeiten für seine Kommilitonen ausführte, die entweder zu faul oder zu unbegabt waren, ihre Aufgaben selbst zu bewältigen. Diesem unermüdlichen Einsatz von Lineal und Zirkel verdankte er seine große Meisterschaft und Schnelligkeit im Entwerfen. Aber auch seinen gebeugten Rücken und den verengten Brustkorb, der später seine Krankheit beschleunigte.

Von dem Erlös seiner »Hilfsarbeiten« kaufte sich Lissitzky ein Fahrrad, mit dem er Ausflüge bis nach Worms unternahm. Dort saß er stundenlang in der alten Synagoge und skizzierte die Löwenreliefs, die in seinen späteren Illustrationen oft wiederkehrten.

Bis zu seinem Studienabschluss 1914 lebte Lissitzky in der großherzoglichen Residenz Darmstadt, die damals als Hochburg des Jugendstils galt. Von hier aus unternahm er Reisen nach Frankreich und Italien.

In Paris streifte er mit dem Bildhauer Ossip Zadkine, einem Jugendfreund aus der Witebsker Zeit, durch die Galerien, die großen Boulevards und die kleinen Seitenstraßen der Rue de Rivoli. Gemeinsam bewunderten sie die kühne Architektur des Eiffelturms. Auf seiner Rückreise besuchte Lissitzky den belgischen Architekten Henry van de Velde, den er sehr verehrte. Im Sommer 1912 brach er zu einem längeren Fußmarsch auf. Lernend und zeichnend wanderte er durch Norditalien. In seinen Wanderstab schnitzte er all die Orte der Lombardei und der Toskana ein, die er besucht hatte. Er übernachtete in billigen Herbergen und freundete sich mit wandernden Handwerksburschen an, die dort ebenfalls ein erschwingliches Nachtquartier fanden.

Nach seinem Examen am Darmstädter Polytechnikum, das er mit Auszeichnung bestand, musste der 24-jährige Diplomarchitekt sein Gastland fluchtartig verlassen. Am 1. August 1914 hatte Deutschland Russland den Krieg erklärt – der Erste Weltkrieg war ausgebrochen!

Nach einer abenteuerlichen Reise über die Schweiz und den Balkan gelangte er schließlich nach Moskau. Alle seine Zeichnungen, Pläne und Bücher musste er in Darmstadt zurücklassen!

Erst 1923 konnte er dorthin zurückkehren. In einem Brief an Sophie Küppers nach Hannover schrieb er, damals noch mit der Distanz des heimlichen Verehrers: »In Darmstadt alles gefunden. Wunderbar, wie die Leute menschlich geblieben sind. Alte leere Tuschflaschen hat meine Wirtin aufbewahrt. Auf dem Dachboden in einer großen Kiste habe ich zwei Tage pompejanische Ausgrabungen betrieben. Das war wirklich blöd. Das Leben von einem vergangenen und vergessenen ›Ich‹ schichtweise auszugraben. Nur eines war mir interessant – ich habe Notizen von 1911 gefunden, also vor zwölf Jahren über meine Kunstanschauungen, deren Sinn und Ausdruck ich heute noch vollständig unterzeichnen kann. Komisch! Nicht wahr? Bei dem Diener der Hochschule habe ich alle meine Arbeiten von damals gefunden. Zeichnungen. Aquarelle. Einige werde ich behalten …«

In Russland musste Lissitzky erneut ein Examen ablegen, um seinen Beruf ausüben zu können. Der Ingenieur-Architekt mit Doppeldiplom wurde Assistent des Architekten Klein, des Erbauers des Puschkin-Museums in Moskau. Die berühmte ägyptische Abteilung des Museums ist Kleins Werk, und Lissitzky war daran beteiligt – und sehr stolz darauf, wie er Sophie später bei einem Rundgang durch das Museum gestand; diese Inneneinrichtung, so Lissitzky, bringe die unerhörte Schönheit und Kostbarkeit einer vergangenen Kultur klar und überzeugend zur Geltung.

Weil es, bedingt durch die Härten des Krieges, keine größeren malerischen Aufgaben für den jungen Künstler gab, beschäftigte er sich hauptsächlich mit Grafik. In den Jahren 1917 bis 1919 entstanden seine jüdischen Kinderbücher, die heute in der Tretjakow-Galerie in Moskau aufbewahrt sind. Die mystisch-expressionistische Einwirkung Marc Chagalls ist in ihnen noch spürbar, obwohl sie im Laufe der Zeit immer architektonischer komponiert sind. Später hat Lissitzky seine frühen Bilder- und Kinderbücher kaum noch erwähnt – es waren für ihn Fingerübungen gewesen. Die große Woge der russischen Oktober-Revolution im Jahr 1917 schwemmte ihn, wie so viele begeisterte Künstlerkollegen, ganz nach vorn. Als die Kugeln noch durch Moskaus Straßen pfiffen, gestaltete er die erste Fahne für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Mitglieder der Regierung am 1. Mai 1918 feierlich über den Roten Platz trugen. Jetzt endlich wurde er gebraucht, war befreit von den Einschränkungen, mit denen das zaristische Reich seine jüdischen Mitbürger drangsaliert hatte. Jetzt war er gleichberechtigt mit allen Werktätigen der neuen Gesellschaft, stellte all seine Kräfte und Talente ihrer Arbeiter- und Bauernregierung zur Verfügung.

In seiner Witebsker Zeit als Lehrer an der Architekturfakultät der Kunstakademie begann die nicht immer ungetrübte Zusammenarbeit und Freundschaft mit dem über ein Jahrzehnt älteren Kasimir Malewitsch, der mit seiner Theorie des Suprematismus großen Einfluss auf die gesamte neue Kunst und natürlich auch auf Lissitzky ausübte. Diese neue Kunstphilosophie, die die Nachahmung natürlicher Gestalten kategorisch verneinte, forderte nicht Nachbildung, sondern Neubildung klarer geometrischer Formen innerhalb des Bildrahmens. 1920 schrieb Lissitzky das Hohelied auf den Suprematismus Malewitschs, es endet mit folgendem euphorischen Satz in Großbuchstaben:

»So folgte auf das Alte Testament das Neue, auf das Neue das Kommunistische, und auf das Kommunistische schliesslich folgt das Testament des Suprematismus.«

Im Gegensatz zu dem Maler Malewitsch blieb der Architekt Lissitzky jedoch nicht der Fläche verhaftet, sondern befreite sich von ihr. Losgelöst von allen Zwängen scheinen die geometrischen Formen durch den unendlichen Bildraum Lissitzkys zu fliegen.

In seinem kargen Atelier in Witebsk arbeitete er wie ein Besessener an der Suche nach eigenen Lösungen für seine geometrisch-räumlichen Vorstellungen. Diese Experimente nannte er »Proun« (zusammengesetzt aus Pro + Unowis = Projekte für die Begründung des Neuen). Er selbst, dem die Bildleinwand zu eng geworden war, bezeichnete Proun als »Umsteigestation aus der Malerei in die Architektur«.

1921 wurde Lissitzky, der nun zu den Vorzeigekünstlern der jungen Sowjetunion gehörte, nach Moskau berufen, um dort die Architektur-Fakultät der Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten »Wchutemas« zu leiten. Sie waren auf Erlass des Rates der Volkskommissare am 19. November 1920 gegründet worden. Dort bildete sich mit WIadimir Tatlin, Alexander Rodtschenko, Naum Gabo, El Lissitzky und anderen die Gruppe der Konstruktivisten, die von der Schönheit neuer Techniken begeistert waren. In Moskau trat diese Gruppe zum ersten Mal geschlossen in einer Ausstellung auf. Und in Berlin, auf der ersten Russischen Kunstausstellung am 15. Oktober 1922 in der Galerie Van Diemen, Unter den Linden, wurde sie zur Sensation. Hier hatte sich Sophie in die Arbeiten des Künstlers Lissitzky verliebt:

»Von allen Werken dieser vielseitigen Schau machten die ›Prounen‹ El Lissitzkys den stärksten Eindruck auf mich. In diesen Kompositionen war etwas Neues, etwas, was ich bisher in der europäischen Kunst nirgends angetroffen hatte. Da war der in den Bildrahmen eingespannte kosmische Raum, in dem sich schwebende geometrische Körper durch ungeheure Spannungen im Gleichgewicht hielten …«

Mit dem Auftrag seiner Regierung, Verbindungen zwischen den Kunstschaffenden der Sowjetunion und Deutschlands anzubahnen, fuhr Lissitzky Ende 1921 über Warschau nach Berlin und geriet in eine von Energien und Emotionen überquellende Stadt. Als die Goldenen Zwanziger wurde das dritte Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts bezeichnet – laut, grell und schnell waren sie, und Berlin war ihr Mittelpunkt.

Berlin, eine der großen Kulturmetropolen Europas, bot nach dem Krieg einen fruchtbaren Nährboden für Expressionismus und Dadaismus. Auf ihm gedieh auch die russische Avantgarde, die die Welt mit den Mitteln der Kunst umgestalten wollte. Hier traten sich Maler, Schriftsteller, Dichter, Musiker, Regisseure, Schauspieler jeder Couleur fast schon auf die Füße, trafen sich zufällig auf der Straße oder absichtsvoll in ihren Stammkneipen. El Lissitzky war der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um Brücken zu schlagen zwischen russischen und deutschen Künstlern. Doch diese Zeit, so aufregend sie war, forderte von ihm ihren Tribut. Sein Körper war durch die rastlosen Aktivitäten, durch schlechte Ernährung und wenig Schlaf geschwächt, es zeigten sich erste Symptome einer Lungen-Tuberkulose, und die schwarzen Locken seiner Jugend, die ihm ein so romantisches Aussehen verliehen hatten, fielen allmählich aus.

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22 aralık 2023
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9783866744349
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