Kitabı oku: «Lavanda», sayfa 2

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Kitzelnde Sonnenstrahlen fielen zwischen strahlend bunte Blätter auf saftig grüne, vom morgendlichen Herbstnebel befeuchtete glitzernde Wiesen. Restliche Nebelschwaden entschwanden in den dunkelblauen wolkenlosen, hoffnungsfrohen Himmel. Viele frostige Nächte hatte es bereits gegeben, noch unzählige mehr würden sehr bald folgen. Die angezuckerten sie umringenden Berggipfel deuteten auf einen langen Winter hin.

Lilian wandte sich ihr zu – diesem bildhübschen Mädchen.

Marina.

Ein dunkelroter knielanger dicker Stoffmantel mit einem breiten Gürtel, enge Jeans, eine schwarze Baskenmütze und edel aussehende Stiefel – seit längerer Zeit fragte er sich, woher sie diese tollen Klamotten bekam. Weder die Mädchen in seiner noch in der Parallelklasse waren so stylish gekleidet.

Er überlegte zurück.

Seit der Volksschule kannten sie sich. Viel miteinander gespielt hatten sie nie, gemocht jedoch hatte er sie seit dem ersten Augenblick. In der Hauptschule wurden sie getrennt, sie kam in die Parallelklasse. Glücklicherweise hatte man sie in zwei Leistungsgruppen gleich eingestuft, womit es ihm wenigstens in diesen Stunden erlaubt war, mit ihr in einem Raum sitzen zu dürfen.

Heute, insgesamt sieben Jahre später, war Lilians einstige anfängliche Zuneigung zu seiner wahrscheinlich ersten großen Liebe herangewachsen. Jedenfalls vermutete er dies.

Was wusste er mit seinen dreizehn Jahren schon von Liebe? Und doch fühlte es sich wunderschön an, Marina in seiner Nähe zu wissen – dann schlug sein Herz wahnsinnig schnell, seine Hände wurden feucht und manchmal gelang es ihm nicht einmal mehr, irgendetwas Vernünftiges zu erklären oder zu berichten, derart durcheinander brachte sie ihn mit ihrer Anwesenheit. Ihre seltenen gemeinsamen Gespräche hatten ihr Übriges dazu beigetragen.

»Ich mag dich sehr gern«, gestand Lilian ihr unvermittelt – und wunderte sich selbst über seine ruhige Stimmlage. »Möchtest du mit mir zusammen sein?«

Sein physischer Zustand hingegen deutete auf einen baldigen Kollaps hin: Seine Muskeln waren bis aufs Äußerste angespannt; er litt unter Kurzatmigkeit, welche er durch gelegentliches Luftanhalten zu kompensieren versuchte; seine Hände bebten, weshalb er sie in die Taschen seiner schwarzen Jacke steckte; und sein Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an.

Er hasste das.

Weshalb musste sein Körper dergestalt reagieren? Es handelte sich um eine einfache Frage, keinen Abschlusstest!

Marinas emotionsloser Blick ihrer dunkelbraunen Augen traf ihn mitten ins Herz.

Er begriff nicht, weshalb dieser Ausdruck ihn verletzte. Sie sah ihn bloß unverbindlich an. Noch keine Abweisung, Beleidigung oder Belustigung hatte ihren Mund verlassen …

»Tut mir leid … du bist echt lieb … aber –« Sie zuckte die Achseln. Der leichte Herbstwind spielte beschwingt mit ihrem schwarzen glatten Haar. »Ich bin nicht interessiert an so etwas. Und weil du mehr willst, kommt auch eine Freundschaft zwischen uns nicht in Frage. Ich halte das strikt getrennt. Und meine Eltern wollen das genauso.«

Es fühlte sich wie ein Schlag an. Nein – es war ein Schlag. Tief in seinem Herzen ging irgendetwas zu Bruch. Etwas, – solcherweise dumm es sich in diesem Moment anhörte – das niemals mehr zusammengefügt werden konnte.

Auf eine grauenhafte Weise erinnerte ihn dieser Schmerz an den durch seine Mutter tagtäglich ausgelösten.

Lange würde es dauern, bis Lilian begriff, was diese Empfindung konkret bedeutete, wie schwer es war, dieser zu entfliehen, und schlussendlich würde diese neue Facette des Lebens ihm einen beträchtlichen Teil seiner Freunde und Zuversicht rauben.

»Oh … okay.« Er schniefte. »Dann bis Montag in der Schule.«

Das wunderschöne Mädchen verabschiedete sich und entfernte sich in die gegengesetzte Richtung. Das rückenlange, glänzende Haar wehte dabei weiterhin sorglos und unbekümmert hinter ihr her.

Im Gegensatz zu Marina war Lilian nun selbst dieser letzte winzige von seiner Mutter noch nicht vernichtete Rest kindlicher Sorglosigkeit für immer abhandengekommen.

Wohin würde sein Leben nunmehr einschlagen? Wohin würde sein Lebensweg ihn führen?

Er begann sich zu fürchten.

Sollten womöglich alle positiven Dinge, nach welchen er strebte oder sich sehnte, niemals in Erfüllung oder unvermeidlich verloren gehen?

Lilian blickte zu den hochgewachsenen Bäumen, deren sonnengelbe und feuerrote Blätter durch gelegentliche Windböen von Zweigen gerissen und durch die Lüfte gewirbelt wurden – und eine furchtbare, ihn bis dahin unbekannte Trauer überfiel ihn.

Bestand das Leben hauptsächlich aus Beschimpfungen, Sorgen, Streit und Abweisungen?

Offenkundig.

Und was würde aus ihm werden, wenn Papa starb? Er war der einzige Mensch, mit welchem er über alles unbefangen sprechen durfte.

Diese fremdartige seinen Brustkorb zusammenziehende Pein verstärkte sich zusehends, und Besorgnisse legten sich bedrohlich über ihn.

Mamas Distanziertheit, Papas ständige Traurigkeit … sein eigenes Unwissen hinsichtlich seiner Berufswahl …

Monatlich schien sein Leben komplizierter zu werden, fröhliche Tage nahmen sukzessiv ab.

Noch eine lange Weile betrachtete Lilian das Farbenspiel des angrenzenden Waldes, lauschte dem beruhigenden Rauschen des durch die noch üppige bunte Belaubung sausenden Windes und dem in weiter Ferne ertönenden kratzigen Rabengeschrei. Mit einem jeden durch die Lüfte gewehten Blatt schien ein kleines Stück seines Herzens abzufallen und die Umgebung sich zu trüben.

Eine seltsame Frage bildete sich in seinem Verstand: Wie lautete diese eine Strophe des bekannten Herbstgedichts?

Wer jetzt alleine ist, wird es lange bleiben …


Scheppernde Teller, klirrende Gläser und lautstark geführte Gespräche zahlreicher Gäste überlagerten eine unmöglich einordenbare Hintergrundmusik. Hinzu gesellte sich das Lachen und Kichern hübsch zurechtgemachter Frauen unterschiedlichen Alters, welche sich vor einer Reihe nicht besetzter Tische aneinanderdrängten. Lavanda bildete das jüngste Glied dieser unförmigen, schnatternden Kette. Siebzehn Jahre alt. Stets war sie die Jüngste in einer Gruppe gewesen – und die Fremde, die nicht Zugehörige.

Im Gegensatz zu diesen beschwingten, wunderschönen, erwachsenen Frauen war ihr nicht unbedingt zum Lachen und Feiern zumute. Sie fühlte sich deplatziert, unerwünscht. Dass man sie wegzuschubsen versuchte, war ein Grund davon. Dass sie nicht hübsch, weiblich und beliebt war, ein weiterer.

Lavanda kannte keine dieser lärmenden, selbstbewusst anmutenden Frauen. Die meisten von ihnen sprachen nicht einmal ihre Sprache, geschweige denn hatte sich eine von ihnen mit ihr unterhalten. Wie üblich war sie die halbe Zeit stumm an ihrem Tisch gesessen und hatte den Gesprächen ihrer Mutter gelauscht und das ihr nicht besonders gemundete Essen hinuntergewürgt.

Bereits während der Fahrt in dieses Oberklasse-Restaurant hatte sie sich ein schnelles Vorüberziehen dieses Abends herbeigesehnt.

Sie ging nicht gerne aus – speziell abends nicht. Da schaute sie lieber fern oder schlief. Wo andere Mädchen es zu feiern und zu tanzen liebten, zog sie lieber Ruhe und Beschaulichkeit vor. Sie brauchte viel Zeit für sich, um über Erlebtes zu reflektieren – sich selbst zu verbessern, Reaktionen ihrerseits auszuwerten und schlechte Charakterzüge abzuschwächen oder gänzlich abzulegen. Nicht zuletzt deshalb verwirrte Lavanda das von der überwiegenden Zahl der Menschheit bekundete ausgeprägte Verlangen nach Abenteuer und Unterhaltung, Extremsportarten, Adrenalinkicks. Gleichermaßen verhielt es sich mit dieser unverständlichen Begeisterung nach allabendlichen Festen und Zusammenkünften, die Besäufnisse, das ohrenbetäubende Getratsche, die unsinnigen Gesprächsthemen …

All dies und noch vieles mehr würde wohl ein lebenslanges unlösbares Mysterium für Lavanda darstellen.

Was sie sich jedoch genauso sehnlichst wünschte wie jeder Mensch, waren aufrichtige Freunde und Bekannte – und einen Freund. Den ersten Freund … Unternehmungen, Kinoabende, der allererste Kuss …

Bald würde Lavanda ihren achtzehnten Geburtstag feiern, und noch kein sympathischer Junge – Korrektur: Gar kein Junge – hatte sich je mit ihr abgegeben. Lediglich über Dritte hatte sie erfahren, dass sich ein Schulkollege für sie interessieren sollte. Ob dies der Wahrheit entsprach, wusste sie nicht. Sie glaubte es ohnehin nicht. Bislang hatte man sich stets über sie lächerlich gemacht, sie großräumig ignoriert, beleidigt oder abgewiesen. Doch gleichgültig, ob dieser schlaksige Bursche Sympathien für sie hegte, sie fühlte sich ausgesprochen unwohl in seiner Nähe. Hätte er sich wenigstens einmal persönlich mit ihr unterhalten und seine Zuneigung ehrlich zugegeben, hätte sich ihre emotionale Gesinnung dahingehend womöglich sogar geändert. Und falls sie dennoch keine Gefühle für ihn aufgebracht hätte, hätten sie vielleicht beste Freunde werden können. Ein derart feiges Verhalten vonseiten des starken Geschlechts allerdings stieß sie geringstenfalls ab. Kein einziges Wort mit ihr in den vergangenen zwei Jahren zu wechseln, keine Nervosität in ihrer Nähe zu zeigen, stattdessen ihr verletzende Spottnamen zu geben, sprach nicht unbedingt von Anstand, Respekt oder aufkeimender Zugewandtheit. Entweder hegte man Interesse an seinem Gegenüber, dann stand man dazu und man suchte die Nähe desjenigen, oder man beließ es dabei – schließlich waren sie keine Volksschulkinder mehr.

Außerdem: Wie verhielte sich ein solcher Kerl erst in einer Beziehung, wenn dieser sich nicht einmal traute ein unbefangenes Gespräch anzufangen?

Nein, eine solche Person war nicht die richtige, um eine erste Beziehung einzugehen. Nach jahrelangem Mobbing und gesellschaftlichen Tiefschlägen brauchte Lavanda Geborgenheit, Sicherheit, Schutz – keine Kinderspielchen. Die Gesellschaft nahm sie ohnehin nicht ernst, dann wollte sie zumindest von einem Freund ernstgenommen und verstanden werden. Wozu sonst ging man eine Beziehung ansonsten ein? Wozu verliebte man sich?

In erster Linie wollte man mit dem meistgeliebten Menschen Zeit verbringen, einander unterstützen … einander lieben. Andere Mädchen wollten wohl ausnahmslos ihre Jungfräulichkeit verlieren, um endlich eine Frau werden zu dürfen. Lavanda hingegen wollte sich einem Mann hingeben, ihm alles überreichen, was sie ausmachte. Sie wollte wahre, echte Liebe empfinden – fehlte diese Voraussetzung, hätte sie niemals mit irgendjemandem intim werden können.

Wie sollte die schönste Sache der Welt auch schön und befriedigend ausfallen, wenn man sich vor seinem Sexualpartner ekelte?

Auf Lavandas vor zwei Jahren getätigte unbedachte Äußerung »beim Sex komme es nicht ausschließlich auf Erfahrung an, sondern vieles sei Instinkt«, erwiderte eine Achtzehnjährige, sie hätte schier keine Ahnung. Ausgelacht hatten die umringenden Frauen sie daraufhin, sie bespottet und mit angewiderten Blicken gemustert.

Natürlich besaß Lavanda keine Erfahrung, nichtsdestotrotz wusste sie: Sex war kein Leistungssport, Sex war die intimste Form, seine Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Eine Vereinigung konnte Herzen brechen oder Herzen stärken. Falls ein Junge nicht reif genug dafür war, dieses kostbare Geschenk auf Händen zu tragen, sollte ein Mädchen besser fünfmal überlegen, ob sie sich seiner hingab …

Und da kam er geflogen … wischte alle ihre Gedankenspiele beiseite.

Eher unauffällig war er – wie sie. Und relativ klein.

Eines Brautstraußes nicht würdig.

Seine elegante Flugrichtung schien Lavandas Position anzusteuern.

Näher und näher kam er, direkt auf sie zu. Sie streckte die Arme aus. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihre Finger von dem rundlichen Bouquet mit den schneeweißen und dunkelgrünen Blumen und der glitzernden weißen Schleife –

Ein brutaler Stoß versetzte ihren Körper nach rechts.

Ein ohrenbetäubendes Gekreische ertönte. Sie blickte zu dem Rudel hysterischer Frauen.

Eine dieser anmutigen Schönheiten hatte den Strauß gefangen und hielt ihn triumphierend in die Lüfte. Die sie umringenden Damen feierten sie und überhäuften sie mit Glückwünschen.

Eben gedachte Lavanda zu gehen, da trat eine sich höchstwahrscheinlich in ihren Dreißigerjahren befindliche Frau mit dunkeln Haaren und einem perfekt sitzenden Kostüm zu ihr.

»Tja, da hast du wohl Pech gehabt«, bemerkte diese amüsiert und beäugte Lavanda voller Abscheu – wie einen verdreckten Straßenköter, den man schnellstens von seinem Grundstück verjagte. »Da du den Brautstrauß nicht gefangen hast, bedeutet das, dass du niemals in deinem Leben heiraten wirst.«

Lavanda schenkte der Frau ein erzwungenes Lächeln und eilte zurück zu ihrem Tisch.

Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie, wie ihre Gesichtsmuskulatur zu zucken begann.

Sie wusste nicht, weshalb. Sie wusste nicht, wodurch diese schlagartige ihr Herz zusammenkrampfende wie durchlöchernde Traurigkeit ausgelöst wurde.

Konnte es stimmen? Würde sie niemals heiraten dürfen?

Ja, wahrscheinlich hatte diese Frau recht … Wahrscheinlich war dieser nicht gefangene Brautstrauß das maßgebliche Zeichen für ein Leben in Einsamkeit.

In ihrem Innersten hatte Lavanda es längere Zeit geahnt, dennoch würde sie in den nachfolgenden Jahren stets eine minimale, törichte Hoffnung, bald Liebe und Zuneigung spüren zu dürfen, tief in sich verborgen halten, welche schrecklicherweise nicht ihr Schicksal zu verändern wusste.

Das Schicksal, auf ewig von Einsamkeit und Kummer gemartert zu werden.


Heute


Erbarmungslos peitschte der Regen gegen Lilians zerkratzte Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, doch dies half nicht im Entferntesten, dieser biblischen Sintflut Einhalt zu gebieten.

Ein schlechtes Omen?

Er warf einen kurzen Blick auf die integrierte Achtzigerjahrecockpituhr.

12:50 Uhr.

Nervosität, Ärger und Gram schnitten ihm durch das Gedärm.

Hoffentlich würde das Wiedersehen nicht in einer weiteren Katastrophe enden.

Er brauchte keine Katastrophen mehr. Er hatte genug davon! Für den Rest seines beschissenen Lebens!

Du hast mich hintergangen! Du hast mich belogen!, hallte es schrill durch seinen pochenden Schädel.

Schlaglöcher und in weiterer Folge kaputte Stoßdämpfer in Kombination mit ebenso fertigen Spurstangen und ausgeleierten Gelenkstangen entlockten dem viereckigen, schäbigen Ford Transit aus neunzehnhundertdreiundachtzig ein Ächzen und Keuchen – Lilian ebenfalls.

Und die Stimme war verstummt.

Für den Augenblick, dachte er.

Aber nicht mehr lange, und er würde sie wieder hören … und die dazugehörige Person wiedertreffen.

Adrenalin flirrte ihm stechend durch die Brust.

Er atmete tief durch, blinzelte ein paar Mal, verdrängte weitere unangenehme aufwallende Gefühlsregungen.

Ein letztes Mal. Das letzte Mal. Dann würde er endlich Ruhe finden. Dann musste er endlich Ruhe finden!

Es musste aufhören. Er wollte frei sein. Er wollte seine rabenschwarze Vergangenheit zu einem Abschluss bringen.

Es ging ihm gar nicht mehr um einen Neuanfang, wie dieser stets in Zuversichtsfilmen hochgelobt wurde: All die belastenden Ereignisse des Lebens abhaken, Unveränderbares akzeptieren sowie sämtliche Wunschträume und Sehnsüchte loslassen und weiterziehen. Eine solche Richtung konnte der felsige Weg seines Lebens nicht mehr einschlagen. Er musste dankbar und demütig sein, noch halbwegs vernünftig leben zu können. Denn nunmehrig vegetierte er eher dahin.

Womöglich gelang es ihm mit diesem Termin, dem Horror, der Qual zu entfliehen – zumindest auf dem Papier. Die Erinnerung blieb weiterhin bestehen. Die Erfahrungen ruhten weiterhin in seiner Seele.

Der Schmerz, die Verbitterung, die Angst, die Verunsicherung, die Desillusion würde kein Mensch ihm zu nehmen vermögen. Selbst wenn sein Leben davon abhinge. Lilians Fundament war zerstört, pulverisiert. All sein Glaube, seine zage Hoffnung, seine minimalen Erwartungen – sie waren vernichtet, niedergewalzt und die Erde darunter mit Chemie verseucht worden.

Da konnte nichts mehr wiederaufgebaut werden, da half kein Ausheben des kontaminierten Materials.

Da hätte man ihm die Seele entreißen müssen – seine durch die gesellschaftliche Grausamkeit durchsetzte, vergiftete Seele.

Dabei hatte es einst so zuversichtlich angemutet …

Rote klecksförmige Bremslichter eines haushohen Familienvans vor ihm nötigten ihn, hart auf das Bremspedal zu treten.

Vermaledeiter Verkehr.

Klagenfurt.

Diese Stadt war ihm seit jeher unsympathisch.

Die Leute, die Rushhour, die Gassen und zerklüfteten Einbahnstraßen – und erst recht die Politik!

Klagenfurt ist anders.

Nein, korrigierte er sich. Kärnten ist anders … diese ganze verschissene Welt ist anders geworden!

Aggression und Hass an allen Ecken und Enden! Aber wehe, er regte sich auf! Wehe, er sprach die Wahrheit aus! Wehe, er verhielt sich einmal wie all die ihn umzingelnden niederträchtigen Idioten!

Da gab es ein Paradebeispiel, welches schlichtweg sein gesamtes Leben erklärte: Vor einigen Jahren war Lilian in einer Dienstleistungsfirma beschäftigt gewesen, dessen Geschäftsführer und dienstälteste Angestellte ständig über gewisse unverschämte Stammkunden außerordentlich gejammert hatten. Eines Tages hatte er sich in ein solches Gespräch einzubringen erlaubt und sich ebenfalls über diese geizigen, pingeligen, unfreundlichen Kundschaften echauffiert sowie seinem Chef und den beiden Kollegen eifrig zugestimmt – und was geschah? Im Handumdrehen erhielt er eine Rüge.

»Das sind nun einmal sehr wohlhabende Personen«, hatte der Chef augenblicklich seine Geisteshaltung geändert und Lilian maßregelnd betrachtet. »Das musst du akzeptieren und stets freundlich bleiben. Der Kunde ist König.«

Anfangs war Lilian tatsächlich dumm genug gewesen, sich schuldig zu fühlen, seine Meinung vor anderen Menschen laut ausgesprochen zu haben!

Nachdem sich solche Vorfälle gehäuft und viele weitere differenzierte negative Erfahrungen in ähnliche Richtungen eingeschlagen hatten, hatte er die unumstößliche Tatsache zwangsläufig zu akzeptieren gelernt: Er musste demütig, dankbar und zuvorkommend bleiben – der Rest der Menschheit durfte sich beklagen, sämtliche Eindrücke frei aussprechen und ihren Frust auf ihn abwälzen. Oder auf die Arbeitswelt gerichtet: Er hatte zu lächeln und den Mund zu halten. Seine Kollegen durften jammern, meckern und ihm tagtäglich das Herz ausschütten. Er musste freundlich sein, all die anderen Leute brauchten sich nicht zusammenzureißen. Besonders stutenbissige Drecksweiber waren befugt, sich jedwede Freiheit herausnehmen!

Zwanghaft verstaute er seinen meterdicken Groll tief in seiner pechschwarzen Seele und unterdrückte ein Gähnen.

Seit mindestens fünf Monaten rang Lilian mit hartnäckigen Einschlafstörungen. Tausendmal wälzte er sich von einer Seite zur anderen, bis er irgendwann weit nach Mitternacht in einen dösenden Halbschlaf fallen durfte. Und damit nicht genug, wurde er in solchen kurzen Phasen der Erholung von schrecklichen Albträumen gemartert.

Der Schlafentzug machte sich allmählich in all seinen finstren Lebenslagen bemerkbar: Er hatte kaum noch Appetit, seine Laune lag irgendwo unter dem Gefrierpunkt und seine Konzentration und Aufnahmefähigkeit nahmen sukzessiv ab. Insbesondere um die Mittagszeit schien sich ein gewaltiges Loch in ihm aufzutun und ihn verschlingen zu wollen. Bisher gelang es ihm halbwegs, sich dagegen aufzulehnen und nicht in einen Erschöpfungsschlaf zu sinken. Wäre ja noch schöner gewesen, von Kollegen halb komatös auf der Toilette oder im Firmenwagen entdeckt zu werden! Doch wie lange würde er noch durchhalten? Wie lange würde es ihm gelingen, diese aus Seidenpapier bestehende Fassade aufrecht zu erhalten?

Scheißdreck!

Die Ampel schaltete auf ein saftiges ihn an Frühlingswiesen erinnerndes Grün, und er beschleunigte.

Parkplatz, schoss es ihm quer durch seine erlahmten Gehirnwindungen.

Er brauchte unbedingt einen kostenfreien Parkplatz.

Scheiße.

Lilian besaß kein Kleingeld mehr – ebenso wenig Scheine, und erst recht nicht konnte er mit dem Handy bezahlen. Eine solche App sowie einen Akkumulator mit Near Field Communication benutzte er nicht.

Grundsätzlich verwendete Lilian nahezu gar keine Apps. Allein eine für seine Mails, ein Wecker-Widget sowie einen englischsprachigen MP3-Player. Alles Weitere fiel in die Kategorie ›Neumoderner, spionierender Sondermüll‹ und wurde demzufolge tunlichst von ihm vermieden.

Er bog in eine Gasse ein, deren Namen er nicht erkannt hatte und hielt Ausschau nach einer Parkmöglichkeit.

Erwartungsgemäß wurde er nicht fündig.

Er wendete und fuhr zum Siriusparkplatz. Seines Wissens nach war dieser stets kostenlos gewesen. Hoffentlich hatte sich an diesem Umstand nichts geändert. Ansonsten war er am Arsch – gelinde gesagt.

Eine weitere rote Ampel gebot ihm neuerlich stehen zu bleiben.

Er blickte zur Uhr.

13:05 Uhr.

Es wurde knapp.

Das Licht sprang um und er gab Gas.

Drei Gassen weiter bog ein dunkelgrauer Kombi vor ihm ein – und kroch mit sagenhaften dreißig Kilometern pro Stunden weiter.

Verflucht!

Falls er nicht bald eine Parkmöglichkeit fand, würde er zu spät zum Termin erscheinen.

Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern!

Er durfte sich keinen einzigen Fehltritt leisten, ansonsten sah es wahrhaftig kritisch aus für ihn und seine ohnehin desaströse Zukunft.

Der schleichende Autofahrer blinkte nach rechts und bog ab – und Lilian stieß ein Dankesgebet gen Himmel aus, stieg kräftig aufs Gas und lenkte seinen altersschwachen Wagen in den Südring, dann nochmals nach rechts – und er erreichte sein Ziel.

Eine Schranke ließ Fürchterliches erahnen.

Eine in Blau gehaltene Tafel linkerseits bestätigte seine Vermutung: Selbst diese Parkmöglichkeit war kostenpflichtig geworden.

Verfluchte Scheiße!

Lilian fuhr rückwärts, wendete und düste zurück Richtung Innenstadt.

Da half alles nichts.

Er musste in einem Geschäft darum bitten, kurzzeitig einen ihrer Parkplätze benützen zu dürfen.

Eine Druckerei – wahrscheinlich ein Familienunternehmen, der winzigen Größe nach zu urteilen – erregte seine Aufmerksamkeit.

Lilian manövrierte den Wagen in den ersten der vier freien Stellflächen, schaltete den Motor ab und hechtete zum Eingang. Eine verschmutzte ehemals weiß gewesene Schwingtür trennte den lieblos gestalteten Vorraum von der lärmenden Straße. Drei Schritte weiter tat sich eine zweite Tür auf – bestehend aus Klarglas und eingefasst aus Metall war diese wenigstens verschließbar.

Er klopfte und trat ein.

Ein bissig-stickiger Geruch aus beschichtetem Papier, Staub und Toner schlug ihm entgegen.

Lilian brauchte einen Moment, bis er sich an das dadurch ausgelöste Kratzen in seinem Hals gewöhnt hatte und das Büro genauer in Augenschein nehmen konnte.

Zuallererst fielen ihm zwei Drucker auf – einer stand beinahe direkt in Laufrichtung, ein zweiter war stiefmütterlich in die linke Ecke des quadratischen Raums verfrachtet worden.

Kaputt? Wartungsstau? Oder etwa gar ein vergessenes Abholgerät?

»Guten Tag.«

Eine weibliche Stimme holte ihn aus seiner Gedankenwelt und lenkte seine Aufmerksamkeit nach rechts.

In all den aufgetürmten Papierstapeln, Ordnern und Plakaten hätte er die Frau beinahe übersehen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie war jung.

Sehr jung.

Ihre bedrückt anmutende Tonlage hingegen sprach von ausgeprägter Lebenserfahrung und schmerzhaften Schicksalsschlägen.

Innerlich schüttelte Lilian den Kopf.

Woher kamen diese Erwägungen?

Lag es an seinem eigenen erbärmlichen Leben, Mitmenschen augenblicklich einer genauen Analyse unterziehen zu müssen?

»Verzeihung, wäre es –«

Überraschend erhob sich das Mädchen und trat aus der vollgestopften Szenerie hervor – und für einen nichtssagenden Moment veränderte sich Lilians Perzeption. Weder nahm er den Gestank wahr noch die summenden, sie beide einkreisenden Geräte oder die vor sich hin verstaubenden fertiggestellten Druckaufträge. Ausnahmslos sie sah er – ihren traurigen müden Gesichtsausdruck, das mit einem Haarstab befestigte brünette Haar, ihr eng anliegendes, dunkelblaues Businesskleid.

Eine eigenartige Verbundenheit breitete sich in seinem aufgewühlten Innersten aus … etwas wie Sicherheit, Heimatgefühl, Vertrautheit – kurz: Manipulierender, dich vernichtender Irrsinn!

Der zauberhafte Nebelschleier verschwand. An seine Stelle trat regelrechte Abscheu. Abscheu gegenüber des Mädchens Aussehen, dessen erzwungen elegante Körperhaltung und Männer einlullende große runde Augen.

Noch so eine!

Er kannte Frauen. Besonders diesen Schlag.

Sie waren durchtrieben, hinterfotzig, verlogen und egoistisch. Selbst seine Mutter gehörte dieser ausnutzenden Bagage an.

Lilian entdeckte protzige, dunkelblaue Ohrringe und eine ungleich dekadenter aussehende farblich mit ihrem Kleid harmonisierende Halskette.

Geschenke ihrer Ex-Freunde oder dem ihr alles in den Hintern schiebenden Papa?

»Holen Sie einen Druckauftrag ab?«

Des manipulierenden Miststücks Frage beendete seine Grübelei.

»Nein, ich wollte lediglich darum bitten, ob ich für eine halbe Stunde Ihren Parkplatz benützen dürfte.«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich – zeigte er Besorgnis?

Nein. Er zeigte Verdruss.

»Es tut mir leid, das geht nicht.«

Verdammte Scheiße!

Lilian warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr.

Dieser Tusse wegen würde er den Termin versäumen.

»Es wäre lediglich für eine halbe Stunde. Ist es nicht irgendwie möglich?«

Sie verneinte. »Tut mir leid.«

Ihr verdammtes Tut-mir-Leid konnte sie sich in ihr hübsches Antlitz schmieren!

»Es ist ein Notfall«, drängte Lilian und hielt sich erst gar nicht mehr davon ab, seinen aus Verzweiflung und Verbitterung entstandenen Frust zu verbergen. »Normalerweise bitte ich nicht um einen Gratisparkplatz. Allerdings sind sämtliche kostenlose Abstellplätze belegt, und ich habe nicht genügend Kleingeld dabei, um ein Ticket zu ziehen. Hätte ich das Geld, würde ich nicht hier stehen und wie ein Bittsteller auf den Knien rumrutschen. Ich habe einen dringenden Termin um halb zwei in der Richtstraße. Ich schaffe es nicht mehr, falls ich nicht sofort losgehe.«

Es war ihm unmöglich zu erklären, weshalb er ihr sein Herz ausschüttete.

War er dermaßen verzweifelt?

Ja, wahrscheinlich.

Und ebenso wahrscheinlich war es, sich von dieser verzwickten Bürotante nun Vorwürfe anhören zu müssen, welche etwa folgendermaßen lauteten: Sie müssen zeitiger wegfahren und genügend Geld bei sich führen. Alles andere ist unverantwortlich und zeugt günstigstenfalls von nicht vorhandenem Verantwortungsbewusstsein – Charakterzüge, die ein vernünftiger, erwachsener Mensch grundsätzlich aufweisen muss, möchte dieser etwas erreichen im Leben.

Typisch Weiber! Jammern, nörgeln und besserwisserisches Getue – daraus bestand ihr quietschbuntes Barbiepuppen-Leben.

Aber mit ihm nicht!

Sollte dieser Vorzimmerdrachen eine solche Anspielung wagen, würde er ihr anständig die Leviten lesen!

Er war kein pubertierendes Pickelgesicht mehr, das um Aufmerksamkeit und Verständnis kämpfen musste! Er musste gar nichts! Nichts, außer sterben!

Die Furie vor ihm blickte nach links – zu einer an der Wand hängenden runden Plastikuhr. Anschließend wandte sie sich stumm ab und schritt zurück Richtung Arbeitsplatz.

Wollte sie ihm damit klarmachen, er brauche nichts zu sagen, da sie keine weitere Zeit vergeuden wollte und ihm nicht mehr zuhörte?

Sie fasste nach … einer Tasche?

Korrektur: nach einer dekadenten goldfarbigen Tasche.

Sie kramte darin und trat wenige Augenblicke später wieder zu ihm. »Von uns aus zu Fuß bis zur Richtstraße? Sie kämen niemals zeitig an. Hier.« Sie streckte die Hand aus. Zwischen ihren Fingern hielt sie zwei Zwei-Euro-Münzen. »Parken Sie in der groß angelegten Tiefgarage in der Anderluhstraße. Dann schaffen Sie es möglicherweise.«

Blinzelnd betrachtete Lilian die schimmernden Münzen.

Er wusste nicht, was er sagen, denken oder tun sollte.

»Hier, nehmen Sie«, befahl sie drängender. »Ansonsten kommen Sie ernsthaft zu spät.«

Irgendwann bootete sein Gehirn und er besah die Frau intensiv. »Verzeihen Sie die Frage … weshalb tun sie das?«

»Ganz ehrlich?« Sie hob die Augenbrauen an, schien abzuwiegen – und stieß den Atem anschließend hörbar aus. »Mein Chef will niemanden mehr bei uns parken lassen. Wir hatten unzählige, aber vor allem kostspielige Probleme deswegen: Widerrechtlich abgestellte abgemeldete Fahrzeuge, für deren Entfernung letztendlich wir aufkommen mussten. Oder stundenlang blockierte Parkplätze durch Patienten der hundert Meter weiter links befindlichen Zahnarztordination.« Diese vorhin aufgeblitzte Missgunst trat erneut in Erscheinung. »Seit Jahren kämpfen wir dagegen an, weshalb wir uns entschlossen haben, jeden rigoros anzuzeigen, der sein Kraftfahrzeug widerrechtlich abstellt. Würde ich Ihnen somit die Parkerlaubnis geben, würde mein Chef sofort eine Anzeige erstatten, alsbald er Ihren Wagen bemerkt. Ich wiederum müsste ihn über Ihren dringlichen Termin aufklären, was bedeutet hätte, mir eine dreißigminütige Standpauke über unsere neuen Parkvorschriften anhören zu müssen, wie: Es gäbe keine Ausnahmen mehr und ich müsse mich an die Hausregeln halten, schließlich würde mein Lohn nicht von Verkehrsteilnehmern gezahlt. Bla, bla.« Ihr angenervtes Mienenspiel legte nochmals kräftig an Vehemenz zu. »Glauben Sie mir, dieses Gezeter will ich mir nicht mehr antun. Besonders nicht für jemanden, welcher eine einfache Parkgelegenheit braucht und den ich niemals mehr in meinem Leben wiedersehen werde. Verstehen Sie?«

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