Kitabı oku: «Die Unglückliche», sayfa 3
XIV
»Daß diese Beiden einander hassen, ist klar,« dachte ich, während ich nach Hause ging, – und es unterliegt auch keinem Zweifel, daß er ein schändlicher Mensch und sie ein braves Mädchen ist. Aber, was ist zwischen ihnen vorgefallen? Was ist die Ursache dieser fortwährenden Erbitterung? Was ist der Sinn dieser versteckten Anspielungen? Wie unerwartet das losbrach! Und durch welch’ unbedeutende Veranlassung!«
Am Tage darauf begab ich mich mit Fustoff in’s Theater, um Schtschepkin in »Kummer durch Verstand«, jenem Schauspiel Gribojedofs’s zu sehen, welches damals eben erst die Censur passirt hatte, nachdem es zuvor durch dieselbe beschnitten und verstümmelt worden war. Wir klatschten Famussoff und Skalosuboff lebhaften Beifall zu. Ich weiß nicht mehr, wer die Rolle Tschatzky‘s spielte; aber ich erinnere mich noch sehr gut, daß der Schauspieler unaussprechlich schlecht war; er erschien zuerst in einem ungarischen Rocke und Stiefeln mit Quasten, und dann in einem Fracke von der damals modischen Farbe »flamme de punch,« und dieser Frack paßte ihm, wie unserem alten Haushofmeister. Ich erinnere mich, daß der Ball im dritten Acte uns in Entzücken versetzte. Obgleich wahrscheinlich Niemand jemals solche Pas macht, so war das doch so angenommen, und wird, glaube ich, bis jetzt noch in der selben Weise ausgeführt. Einer der Gäste sprang besonders hoch, wobei seine Perrücke nach allen Seiten auseinander geweht und das Publikum in helles Lachen versetzt wurde. Im Hinausgehen aus dem Theater stießen wir im Corridor auf Fictor.
»Sie waren im Theaters« rief er, die Hände zusammenschlagend – »Wie kommt es, daß ich Sie nicht gesehen habe? Es freut mich sehr, Ihnen begegnet zu sein. Sie müssen jedenfalls mit mir soupiren. Kommen Sie. Ich hatte Sie frei!«
Der junge Ratsch schien in einem aufgeregten, fast entzückten Zustande zu sein. Seine kleinen Augen blickten unstät umher, er lächelte und rothe Flecken waren auf seinem Gesichte hervorgetreten.
»Ist Ihnen eine Freude begegnet?« fragte ihn Fustoff.
»Eine Freude? Wollen Sie Ihre Neugierde befriedigen?«
Viktor führte uns ein wenig auf die Seite, zog einen ganzen Packen von den damaligen rothen und blauen Banknoten aus der Hosentasche und ließ sie in der Luft flattern.
Fustoff verwunderte sich.
»Ist Ihr Vater so freigibig gewesen?«
Fictor lachte auf.
»Da haben Sie gut gerathen! Freilich! Der hält seine Tasche gut . . . Auf Ihre Vermittelung hoffend, bat ich ihn heute um Geld. Was glauben Sie, was mir der Knicker antwortete? Ich will Dir Deine Schulden meinetwegen zahlen inclusive 25 Rbl. Sbr.! Hören Sie, inclusive! – Nein, meine werthen Herren, dieses Geld hat mir Verlassenem Gott gesandt! Der Zufall hat es mir in die Hände gespielt.«
»So haben Sie Jemand beraubt?« sagte Fustoff unachtsam.
Fictor runzelte die Stirn.
»Ach was, beraubt! Gewonnen habe ich es, gewonnen von einem Gardeofficier. Er war gestern erst aus Petersburg angekommen. Und welch’ ein Zusammenfluß von Umständen! Es ist der Mühe werth, Ihnen das zu erzählen . . . aber hier geht es nicht. Kommen Sie zu Jar, es sind nur zwei Schritte. Ich habe es gesagt: ich halte Sie frei!«
Wir hätten vielleicht absagen sollen; aber wir gingen, ohne Etwas dagegen einzuwenden.
XV
Bei Jar führte man uns in ein besonderes Zimmer-; man trug ein Nachtessen und Champagner auf. Fictor erzählte uns mit allen Einzelheiten, wie er in einem angenehmen Hause jenem Gardeofficier einem lieben Menschen aus guter Familie, aber mit wenig Verstand im Kopfe, begegnet sei; wie sie mit einander bekannt geworden seien, wie er, d. h. der Officier, darauf gekommen sei, ihm, Fictor, zum Scherze vorzuschlagen, mit alten Karten Duratschki zu spielen, unter der Bedingung, daß der Officier auf das Glück »Wilhelminens«, Fictor aber auf sein eigenes Glück spielen solle; und wie es zuletzt zum Wetten kam.
»Und ich, und ich,« schrie Fictor, aufspringend und in die Hände klatschend, – »habe nicht mehr als 6 Rbl. Sbr. in der Tasche! Stellen Sie sich vor! Anfangs verspielte ich immer . . . Wie gefällt Ihnen meine Lage?! Allein plötzlich, ich weiß nicht auf wessen Gebete, lächelte mir Fortuna. Der Andere wurde heftig, zeigte alle Karten . . . und im Nu hatte er 750 Rbl. Sbr. verspielt! Er bat mich, weiter zu spielen. Nun? mich führt man aber nicht an; ich dachte: »Nein, solch’ ein Seegen soll nicht mißbraucht werden,« griff nach meiner Mütze, und, marsch fort! Und jetzt brauche ich mich vor meinem Alten nicht zu bücken und kann meine Cameraden bewirthen . . . Eh! Kellner! Noch eine Flasche! Wollen wir anstoßen, meine Herren!«
Wir stießen mit Fictor an und fuhren fort, zu trinken und zu lachen, obgleich seine Erzählung uns gar nicht gefallen hatte, und seine Gesellschaft überhaupt uns wenig Vergnügen machte. Er fing an, den Liebenswürdigen zu spielen, Possen zu reißen, auszufallen, mit einem Worte, und wurde uns noch widerwärtiger. Fictor bemerkte endlich, welch’ einen Eindruck er auf uns hervorbrachte, und wurde mürrisch. Seine Reden wurden abgebrochener, seine Blicke finsterer. Er fing an zu gähnen, erklärte, daß er schläfrig sei, schalt den dienstthuenden Kellner mit der ihm eigenen Grobheit, eines schlecht gereinigten Pfeifenrohres wegen, und wandte sich plötzlich mit einem herausfordernden Ausdruck in den verzerrten Zügen, mit der Frage an Fustoff:
»Hören Sie, Alexander Daviditsch,« sprach er, – »sagen Sie mir doch, ich bitte, weshalb Sie mich verachten?«
»Wie so?« antwortete mein Freund zögernd.
»Eben! . . . ich fühle und weiß sehr gut, daß Sie mich verachten, und dieser Herr (er zeigte mit seinem Finger aus mich) gleichfalls. Und wenn Sie sich noch selbst durch übergroße Sittlichkeit auszeichneten! Aber Sie sind ein Sünder, gerade wie wir Anderen Alle. Aerger noch. Im stillen Wasser . . . Kennen Sie das Sprichwort?«
Fustoff erröthete.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er.
»Daß ich noch nicht blind bin und sehr gut sehe, was vor meinen Augen geschieht. Ich sehe Ihr Liebäugeln mit meiner Schwester sehr wohl . . . Ich habe gar Nichts dagegen einzuwenden; denn, erstens wäre das gegen meine Grundsätze, und zweitens ist meine Schwester selbst über alle Stränge gesprungen . . . Weshalb aber verachten Sie mich denn?«
»Sie wissen selbst nicht, was Sie da lallen! Sie haben einen Rausch,« sagte Fustoff, seinen Paletot von der Wand herablangend. – »Er hat wohl irgend einem Dummkopfe das Geld abgenommen, und lügt jetzt, weiß der Teufel was!« -
Fictor blieb auf dem Sopha liegen und bewegte nur die Füße, welche unter der Lehne hinabhingen. «
»Abgewonnen! Warum haben Sie denn Wein getrunken? Er war ja mit dem gewonnenen Gelde gekauft. Und zu lügen giebt es hier Nichts. Ich bin nicht Schuld daran, daß Susanna Ivanowna in ihrer Vergangenheit . . .«
»Schweigen Sie,« unterbrach ihn Fustoff. – »Schweigen Sie . . . oder . . .«
»Oder was?«
»Sie werden es erfahren. Peter, komm!«
»Aha!« fuhr Fictor fort – »unser großmüthiger Ritter wendet sich zur Flucht. Er will wohl nicht die Wahrheit hören. Sie sticht, die Wahrheit!«
»So komme doch, Peter,« wiederholte Fustoff, der endlich seine gewohnte Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung gänzlich verloren hatte. —
»Wir wollen diesen elenden Knaben allein lassen!«
»Dieser Knabe fürchtet Sie nicht, hören Sie!« schrie Fictor hinter uns drein, – »dieser Knabe verachtet Sie, – ver – ach—tet, hören Sie?«
Fustoff ging so schnell auf der Straße, daß ich ihm mit Mühe nur folgen konnte. Plötzlich blieb er stehen und wandte sich jäh zurück.
Wohin?« fragte ich.
»Ich muß erfahren, was dieser Dummkopf . . . Wer weiß, was er im Rausche . . . Gehe Du aber nicht mit . . . Wir sehen uns morgen, lebe wohl!«
Mir eilig die Hand drückend, wandte sich Fustoff noch einmal Jar’s Gasthause zu.
Am folgenden Tage sah ich Fustoff nicht. Als ich am übernächsten Tage zu ihm ging, hörte ich in seiner Wohnung, daß er die Stadt verlassen habe und zu seinem Onkel auf dessen Landgut außerhalb Moskau gezogen war. Ich fragte erstaunt, ob er nicht einen Brief für mich zurückgelassen habe, allein, es fand sich Nichts. Darauf fragte ich den Diener, ob er wisse, wie lange Alexander Daviditsch auf dem Lande zu bleiben beabsichtige. »Wahrscheinlich 2 bis 3 Wochen,« war die Antwort des Dieners. Ich nahm für alle Fälle Fustoff’s genaue Adresse und ging, in Nachdenken versunken, nach Hause. Diese unerwartete Abreise von Moskau im Winter versetzte mich in das größte Erstaunen.
Meine gute Tante fragte mich bei Tische, was ich erwarte und warum ich die Kohlpastete ansehe, als sähe ich so Etwas zum ersten Male im Leben-. »Pierre, vous a‘ètes pas amoureux?« rief sie endlich aus, nachdem sie ihre Gesellschafterinnen zuvor entfernt hatte. Aber ich beruhigte sie: nein, ich war nicht verliebt.
XVI
Drei Tage vergingen. Es trieb mich, zu Ratsch zu gehen; mir däuchte, daß ich in seinem Hause die Lösung von Allem, was mich beschäftigte, was ich nicht verstand-, finden müsse . . . Aber ich hätte dem »Veteranen« wieder begegnen müssen . . . Dieser Gedanke hielt mich davon zurück.
An einem schauerlichen Abend – draußen wüthete und heulte ein Februarsturm, trockener Schnee schlug ruckweise an das Fenster, als würfe eine starke Hand groben Sand an die Scheiben, – saß ich in meinem Zimmer und versuchte zu lesen. Mein Diener trat herein und meldete mir geheimnißvoll, daß eine Dame mich zu sprechen wünsche. Ich verwunderte mich; ich pflegte keinen Damenbesuch zu erhalten, am wenigsten zu einer so späten Stunde; indessen, ich ließ sie hineinführen. Die Thüre öffnete sich und es trat eine, ganz in.einen leichten sommerlichen Ueberwurf und in einen gelben Shawl gehüllte Frau, mit raschen Schritten herein. Sie warf mit einem Rucke den mit Schnee bedeckten Ueberwurf und Shawl ab und, vor mir stand – Susanne. Ich war dermaßen bestürzt, daß ich kein Wort hervorbringen konnte, sie aber näherte sich dem Fenster, lehnte sich mit der Schulter an die Wand und blieb regungslos stehen; nur ihre Brust hob sich krampfhaft, der Blick irrte umher, und der Athem entriß sich ihren todtenbleichen Lippen mit einem leisen Aechzen. Ich begriff, daß kein gewöhnliches Unglück sie zu mir geführt hatte; ich begriff, trotz meiner Jugend und meines Leichtsinns, daß sich in diesem Augenblick hier, vor mir, das Schicksal eines Lebens vollbrachte – ein bitteres, schweres Schicksal.
»Susanna Ivanowna,« fing ich an: »wie . . .«
Sie ergriff plötzlich meine Hand mit ihren kalten Fingern, aber die Stimme versagte ihr. Sie seufzte unruhig und brach zusammen. Ihre schweren schwarzen Haarflechten fielen über ihr Gesicht . . . es lag noch Schnee auf denselben.
»Ich bitte, beruhigen Sie sich; setzen Sie sich,« fing ich wieder an, »setzen Sie sich hier auf das Sopha. Was ist vorgefallen? Setzen Sie sich, ich bitte Sie.«
»Nein,« sagte sie, kaum hörbar und ließ sich auf das Fensterbrett nieder. »Es ist gut . . .,lassen Sie . . . Sie konnten nicht voraussetzen . . . aber wenn Sie wüßten . . . wenn ich könnte, . . . wenn ich . . .«
Sie wollte sich bezwingen; aber mit erschütternder Gewalt stürzten ihr die Thränen aus den Augen und Schluchzen, lautes, heftiges Schluchzen erfüllte das Zimmer.
Ich hatte Susannen nur zwei Mal gesehen; ich hatte wohl errathen, daß sie ein schweres Leben trug; aber ich hatte sie für ein stolzes Mädchen mit einem festen Charakter gehalten und jetzt diese unaufhaltsam-im verzweifelten Thränen . . . Herr Gott! so weint man nur im Angesichte des Todes!
Ich stand selbst da, wie ein zum Tode Verurtheilter.
»Vergeben Sie mir,« sagte sie endlich mehrere Mal, indem sie, fast zornig, ein Auge nach dem anderen abwischte. »Das wird gleich vorübergehen. Ich bin zu Ihnen gekommen . . .« Sie schluchzte noch, aber ohne Thränen. »Ich bin gekommen . . . Sie wissen ja wohl, daß Alexander Dividitsch abgereist ist?«
In dieser einen Frage hatte Susanne Alles gestanden, und sie warf dabei einen Blick auf mich, welcher deutlich sagte: »Du wirst begreifen, Du wirft mich schonen, nicht wahr?« Die Unglückliche! Ihr war also kein anderer Ausweg mehr geblieben!
Ich wußte nicht, was ich ihr antworten sollte . . .
»Er ist abgereist, er ist abgereist . . . er hat ihm geglaubt!« sagte während dem Susanne. »Er hat mich nicht einmal fragen wollen; er glaubte, ich würde ihm nicht die Wahrheit sagen! Er konnte das von mir glauben! Als hätte ich ihn jemals hintergangen!«
Sie biß sich in die Unterlippe und fing an, sich Etwas herabbeugend, die Eisblumen, welche die Scheiben bedeckten, mit dem Nagel zu kratzen. Ich ging eilig in’s Nebenzimmer, schickte meinen Diener fort, kam unverzüglich wieder und zündete ein zweites Licht an. Ich wußte selbst nicht recht, weshalb ich das Alles that . . . Ich war vollkommen verwirrt.
Susanne saß noch immer am Fenster und ich bemerkte jetzt erst, wie leicht sie gekleidet war. Ein graues Kleid mit weißen Knöpfen und einem breiten Ledergurt – das war Alles. Ich näherte mich ihr, allein sie beachtete es nicht.
»Er hat es geglaubt er hat es geglaubt,« flüsterte sie, von einer Seite zur Anderen schwankend. »Er hat nicht gezaudert, und hat mir diesen letzten Schlag . . . diesen letzten Schlag!« Plötzlich sich zu mir wendend, fragte sie: »Kennen Sie seine Adresse?«
»Ja, Susanna Ivanowna . . . ich habe sie von seinen Dienstboten . . . in seinem Hause erfahren. Er selbst hat mir Nichts von seiner Absicht gesagt; ich hatte ihn zwei Tage nicht gesehen, ging zu ihm, und fand, daß er Moskau verlassen hatte.«
»Kennen Sie seine Adresse?« wiederholte sie.
»Nun, so schreiben Sie ihm, daß er mich getödtet hat. Sie sind ein guter Mensch, ich weiß es. Er hat Ihnen gewiß nicht von mir gesprochen; mir aber hat er von Ihnen erzählt. Schreiben Sie . . . ach, schreiben Sie ihm, daß er sofort zurückkommen möchte, wenn er mich noch unter den Lebenden finden will! . . . Doch nein! Er wird mich nicht mehr finden!«
Susannens Stimme wurde mit jedem Worte leiser und sie wurde endlich ganz stille. Allein diese Ruhe erschien mir noch fürchterlicher als ihr früheres Schluchzen.
»Er hat ihm geglaubt,« . . . sagte sie noch einmal und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände.
Ein plötzlicher, heftiger Windstoß warf mit einem schrillen Pfeifen Schnee an das Fenster und eine kalte Luftwelle zog durch das Zimmer . . . Die Flammen der Lichter wurden geweht . . . Susanne erzitterte.
Ich bat sie noch einmal sich auf das Sopha zu setzen.
»Nein, nein, lassen Sie mich,« sagte sie; »hier ist es gut . . . ich bitte!« Sie drückte sich an die gefrorene Scheibe, als hätte sie in der Fenstervertiefung eine Zufluchtsstätte gefunden, und wiederholte-: »ich bitte!«
»Aber Sie beben, Sie sind erstarrt,« rief ich aus. »Sehen Sie, Ihre Stiefel sind durchnäßt.«
»Lassen Sie – ich bitte . . .« flüsterte sie leise und schloß die Augen.
Mich erfaßte namenlose Angst.
»Susanna Ivanowna! schrie ich fest, »kommen Sie zu sich, ich bitte Sie! Was ist Ihnen? Warum die Verweiflung? Sie werden sehen, Alles wird sich aufklären, irgend ein Mißverständniß . . . Ein unerwarteter Vorfall . . . Sie werden sehen, er kehrt bald wieder zurück. Ich werde ihm zu wissen geben,werde ihm heute noch schreiben . . . Aber ich werde ihm Ihre Worte nicht wiederholen . . . Wie wäre das möglich!«
»Er wird mich nicht mehr finden,« wiederholte Susanne mit derselben leisen Stimme. Wäre ich denn hierher zu Ihnen, zu einem fremden Menschen gegangen, wenn ich nicht wüßte, daß ich nicht leben bleibe? Ach, mein Letztes ist unwiederbringlich verloren! Da wollte ich denn nicht sterben, allein und stumm, ohne Jemand zugerufen zu haben: »Ich habe Alles verloren . . . Ich sterbe . .. . Seht!«
Sie zog sich wieder in ihr kaltes Nest zurück . . .
Nie im Leben werde ich jenen Kopf, die unbeweglichen Augen mit ihrem tiefen, erloschenen Blicke, diese dunklen, aufgelösten Haare vor der weißgefrorenen Fensterscheibe, und selbst jenes enge, graue Kleid vergessen. Unter jeder Falte desselben schlug noch so heißes, junges Leben!
Ich schlug unwillkürlich die Hände zusammen.
»Sie, Sie sollten sterben, Susanna Ivanowna? Ihnen sieht das Leben bevor! . . . Sie müssen leben!«
Sie sah mich an . . . meine Worte schienen sie zu verwundern.
»Ach, Sie wissen nicht,« fing sie an, und ließ beide Hände langsam hinabsinken. »Ich kann nicht leben. Zuviel, zuviel habe ich ertragen müssen, zu viel! . . . Ich hab’s getragen . . . ich habe gehofft . . . aber jetzt . . . wo auch das zusammengebrochen ist, . . . wo . . .«
Sie hob den Blick zur Decke empor und versank in Nachdenken. Der tragische Zug, den ich einst um ihre Lippen herum bemerkt hatte, war jetzt weit deutlicher hervorgetreten, und hatte sich über das ganze Gesicht verbreitet. Es war, als wenn ein unerbittlicher Finger ihn eingegraben, und dieses arme Geschöpf damit unrettbar dem Verderben geweiht hätte.
Sie schwieg immer.
»Susanna Ivanowna,« sagte ich, nur um dieses scheue Stillschweigen zu brechen: »Er wird zurückkehren, ich versichere Sie.«
Susanne sah mich wieder an.
»Was sagten Sie?« brachte sie mit sichtbarer Anstrengung hervor.
»Er wird wiederkehren, Susanna Ivanowna, Alexander wird zurückkommen!«
»Er wird zurückkommen?« wiederholte sie. »Aber selbst wenn er zurückkommt, kann ich ihm diese Erniedrigung nicht vergeben, sein Mißtrauen . . .«
Sie faßte sich an den Kopf.
»Ah, Gott! Ah, Gott! Was rede ich? Warum bin ich hier? Was ist das? Warum . . . oh, warum wollte ich bitten? . . . »und wen? Ah, ich werde wahnsinnig! . . .«
Ihre Augen wurden starr.
»Sie wollten mich bitten, an Alexander zu schreiben,« eilte ich, ihr zu sagen.
Sie raffte sich auf.
»Ja. Schreiben Sie . . . Schreiben Sie, was Sie wollen. . . . Dieses aber . . . « Sie suchte hastig in ihrer Tasche und zog ein kleines Heftchen heraus. »Dieses hatte ich für ihn niedergeschrieben . . . vor seiner Flucht . . . Aber er hat ja geglaubt Jenem geglaubt!«
Ich begriff, daß von Fictor die Rede war; Susanne wollte ihn nicht nennen, wollte den verhaßten Namen nicht aussprechen.
»Doch, erlauben Sie, Susanna Ivanowna,« fing ich an, »woraus entnehmen Sie, daß Alexander Daviditsch eine Unterredung mit . . . mit jenem Menschen gehabt hat?«
»Woher? . . . woher . . . Aber, der kam ja selbst zu mir, und hat mir Alles erzählt, und er brüstete sich damit und . . . lachte gerade wie sein Vater! Hier, hier, nehmen Sie,« fuhr sie fort, mir ein Heft in die Hand drückend, »lesen Sie es, – schicken Sie es ihm, werfen Sie es fort, machen Sie, was Sie wollen und wie Sie wollen . . . Aber, man kann ja doch nicht so sterben, daß Niemand es weiß . . . Jetzt aber ist es Zeit . . . ich muß gehen.«
Sie erhob sich von dem Fensterbrett. . . Ich hielt sie auf.
»Wohin, Susanna Ivanowna? Um Gottes Willen! Hören Sie den Schneesturm! Sie sind so leicht gekleidet . . . und Ihr Haus ist so weit von hier entfernt! Erlauben Sie, daß ich wenigstens nach einem Wagen schicke oder nach einem Schlitten . . .«
»Es ist nicht nöthig, gar Nichts nöthig,« sprach sie, es mit Bestimmtheit ablehnend und nach ihrem Ueberwurf und Shawl greifend.« Halten Sie mich um Gottes Willen nicht auf, sonst . . . Ich stehe für Nichts! Ich fühle, daß mir der Kopf schwindelt! Ich sehe einen Abgrund, einen dunkeln Abgrund zu meinen Füßen! – Mit fieberhafter Hast warf sie Mantel und Shawl um . . . »Leben Sie wohl . . . Leben Sie wohl« . . . Oh, mein armes, armes Volk, Du ewig wanderndes! Es liegt ein Fluch auf Dir! Mich hat ja aber Niemand geliebt, wie sollte er denn . . .« sie verstummte plötzlich. »Nein! es hat Einen gegeben, der mich liebte,« fing sie wieder an, die Hände ringend, »aber, überall Tod, unvermeidlichen unvermeidlicher Tod! Jetzt ist die Reihe an mir . . . Folgen Sie mir nicht,« rief sie mit durchdringender Stimme. »Kommen Sie nicht! – Kommen Sie nicht!« .
Ich stand wie versteinert da. Sie stürzte hinaus und einen Augenblick später hörte ich unten die schwere Thüre zur Straße zufallen und die Fensterrahmen unter dem Andrange des Sturmes erbeben.
Es dauerte lange, bis ich wieder zu mir kommen konnte. Ich fing damals eben erst an zu leben, hatte weder Kummer noch Leidenschaften erfahren, und war nur selten Zeuge dessen gewesen, wie diese heftigen Gefühle sich bei Anderen äußerten . . . Aber die Wahrheit dieses Schmerzes und dieser Leidenschaft erschütterte mich. Hätte ich das Heft nicht in Händen gehalten, ich hätte wahrlich meinen können, Alles sei nur ein Traum gewesen, so ungewöhnlich war das Alles! und es war vorübergezogen, schnell, wie ein Gewitterschauer! Ich las bis Mitternacht in dem Hefte. Es bestand aus einigen Bogen Postpapier, die, fast ganz ohne durchgestrichene Stellen, in einer großen, unregelmäßigen Handschrift beschrieben waren. Keine einzige Zeile lief gerade hin, und in einer jeden derselben glaubte man das Zittern der Hand zu fühlen, welche die Feder geführt hatte. Es stand Folgendes in dem Hefte (ich habe es bis jetzt aufbewahrt):