Kitabı oku: «Ketzerhaus», sayfa 9

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Deshalb versteht der Papst unter dem vollkommenen Erlass aller Strafen nicht alle überhaupt, sondern nur den Erlass der von ihm selbst auferlegten Strafen.

Reinhilde verlangte einen starken Eintopf und wünschte denselben auf zweierlei Weise zu kochen: eine Hälfte wie üblich in der Fastenzeit mit ein bisschen Fisch darin, die andere Hälfte mit Fleisch. Während sie das anwies, schlürfte sie den Kräutersud gegen das Kopfdrücken, den ihr Katharina mitgegeben hatte. „Unser Herr wird das verzeihen“, pustete die Brauerin in ihren Becher. Sie meinte die Fleischeinlage. „Eine ordentliche Suppe vom Federvieh. Hörst du Mädchen?“ Elsa nickte. „Und dass du dich nicht erwischen lässt!“ Reinhilde wedelte den Dampf über dem Becher fort, gab das heiße Gebräu auf und verschwand nach oben in die Dachkammer.

Später, zum Mittagsmahl, als Elsa die Fischsuppe in die Wohnhalle zur Tafel brachte, war Reinhilde immer noch nicht zurück. Der Brauer, der der guten Speise wohlgesonnen war, rümpfte angewidert die Nase, als Elsa den Topfdeckel lüpfte und ihm der säuerliche Dampf entgegenschlug. „Draußen riecht es nach Hühnersuppe und drinnen stinkt es nach Fisch?“ Die Faust mit dem Zinnlöffel darin prallte auf den Tisch. Elsas Herz sprang ihr fast aus dem Hals. Peternelle, die eben noch das Brot geschnitten hatte, ließ das Messer sinken und schaute zwischen Elsa und dem Brauer hin und her.

Gunnar, der seinem Vater ergeben war, erhob sich von der Tafel und stapfte geradewegs nach nebenan in die Küche. Er kam mit dem Zeugnis des Verbotenen zurück. Ein paar der Hühnerknochen, die Elsa im Schweinekübel hatte verschwinden lassen, schwenkte er siegessicher wie eine Fahne hoch erhoben und merkte nicht, wie kleine Fitzelchen davon auf sein Barett fielen.

Der Tylike starrte die abgeschälte Hühnerkeule an. Als Nächstes Elsa und zum Schluss schenkte er dem Hausaltar mit dem bronzenen Kruzifix und dem hölzernen Laurentius, Schutzpatron der Briuwer, und den flackernden Kerzen in den vergoldeten Kandelabern einen leidenden Blick. Die Empörung und die Wut, von der Tylike beseelt war, mündeten in dem Hieb, den er Elsa gegen die Wange verpasste. Sie verlor das Gleichgewicht. „Spottest du unserem Herrn und unseren Geboten?“

Elsa schüttelte den Kopf. Sie versuchte sich aufzurappeln, aber ihr war ganz schwindelig. Sie blieb auf dem kalten harten Steinboden liegen.

„Es scheint ganz so!“ Mit einem Satz war der Mann über Elsa, zerrte sie auf die Beine und erhob abermals die Hand. „Willst du den Zorn des Herrn über uns bringen?“ Er holte aus, seine Handbewegung aber fror ein, weil metallenes Klirren in den Raum brach, gefolgt von der Stimme seiner Frau: „Lass uns Essen, Mann.“

Tylike senkte die Hand neben die Naht seiner Beinlinge.

Nicht er, wie es üblich war, sondern Reinhilde hob zum Tischgebet an. Sie vermengte das Gegrüßet seist du Maria mit dem Tischgebet. Elsa stutzte und obwohl ihre Wange brannte, der Stoff ihres Ärmels, den sie dagegen presste, kratzte und die Tränen hinter ihren Augen bissen, fasste sie klare Gedanken und wusste, Reinhilde schloss den heimlich Einquartierten in ihr Gebet ein. „Bitte für uns, heilige Maria, Muttergottes, tritt als Mutter vor den Herrn und …“

„Das reicht, Weib!“ Tylike schob sein „Amen“ hinterher und bekreuzigte sich. Er brach ein Stück vom Fladen. Die Fischsuppe rührte er aus Protest nicht an. Die Briu soff der Baron vom Bierfass, sodass ihm ein Rinnsal aus dem Mundwinkel über die beiden Kinne perlte.

Elsa, die, wie es üblich war, neben Peternelle am hinteren Ende der Tafel, nahe der Tür zur Küche saß und als Letzte, aber immerhin noch vor den Schweinen in die Schüsseln langen durfte, beobachtete die Hausherrin, die das Kreuzzeichen ganz langsam über Stirn, Herz und Schultern strich und die Hände dann wieder im Schoß faltete. Seit sie sich die Bürde auf den Dachboden geladen hatte, rührte sie die Speisen kaum mehr an.

„Dein Fasten läutert ihn auch nicht“, gab der Brauer missmutig zu verstehen. Verhuschte Blicke hin zu Peternelle. Die aber fügte Tylikes Worte nicht zusammen, sondern titschte das Brot in die Suppe, dass es schmatzende Geräusche von sich gab. Die Anspannung zwischen den Brauersleuten war für Elsa Genugtuung. Sie mochte nicht abwägen, was besser tat: die Abscheu gegen den Mann oder die Schadenfreude gegen die Frau, die, wer weiß wie lange noch, verheimlichen konnte, dass sie ihren geächteten Sohn unter dem Dach versteckte.

Tylike ließ sich von der Hühnersuppe auftischen. „Das Fastengebot hast du gebrochen, nicht ich! Du hast die Suppe kochen lassen.“ Sein Löffelzeig wanderte weiter zu Elsa. „Und du hast sie zubereitet!“

Elsa nickte. „Verzeiht.“

Etwas Unverständliches murrte Reinhilde und hob die Tafel auf. Peternelle war die Erste, die mit ein paar Scherben aus der Wohnhalle verschwand.

Die Stimmung besserte sich nicht.

Tage, nachdem Doktor Ismael da gewesen war, bemerkte Tylike, dass eine beträchtliche Summe Geld nicht mehr im Kästchen war. Elsa und Peternelle hörten bis in die Küche, bis ans offene Feuer, wo sie eben das Frühmahl für den nächsten Morgen vorbereiteten, den bösen Streit zwischen dem Brauer und seiner Frau. Während Reinhilde mit fester, beinahe abfälliger Stimme behauptete, es sei sowieso ihr Geld und der Brauer könne froh sein, dass er an ihrem Wohlstand teilhaben dürfe, wurde der Alte immer lauter und tobte, er sei immerhin der Einzige, der dafür sorge, dass überhaupt noch Geld in die Kasse komme.

„Was für Geld?“, spottete die Reinhilde. „Deine Briu wird immer schlechter, sodass uns ein Kunde nach dem anderen davonläuft und der Ruf meines lieben Verflossenen bald aufgebraucht ist.“

„Dein lieber Verflossener!“, bellte der Tylike. „Ein Schandfleck im Zunftverzeichnis!“

Elsa stutzte. Der Schandfleck im Zunftverzeichnis war doch allgemeinhin der Beiname ihres Vaters gewesen – mochte er in Frieden ruhen. Wenn über einen Brauer schlecht gesprochen wurde, war nie der Name Orwid Hinterthur gefallen!

„Wenn dein lieber Verflossener mehr christlichen Anstand gehabt hätte“, hörte man Tylike weiter donnern, „dann würde er noch leben und ich hätte nicht meine Not mit dir und der verlotterten Wirtschaft!

„Dann hättest du gar keine Wirtschaft mehr, du versoffener Sack!“, konterte Reinhilde. „Zeig Dankbarkeit, dass dir von der Zunft vergeben wurde und du mit dem Rezept meines lieben Gatten noch einmal von vorn anfangen konntest!“

Das brachte den Tylike in unsachliche Raserei. „Dankbarkeit?“, brüllte der jetzt. „Dankbarkeit! Aufgepflanzt hat man dich mir, vergiss das nicht, meine liebe Reinhilde. Die Witwe eines Ketzers …“

Das, was Elsa da hörte, glitt ihr bis tief ins Herz. Witwe eines Ketzers? Orwid Hinterthur ein Ketzer? Elsa war verwirrt. Orwid Hinterthur war einer Krankheit erlegen. Tylike musste sich irren! Er hatte solch Abscheuliches gewiss nur gesagt, weil es eine Gemeinheit war, die einem schnell über die Zunge rollt. „Jawohl, ein Ketzer, der sich und die ganze Zunft zu Schaden brachte. Lieber wäre ich im Suff verendet, anstatt dich und deine unsägliche Brut jetzt am Halse zu haben!“

„Bei der Heiligen Muttergottes und allen Heiligen! Wärst du bloß in einem deiner Bierfässer ersoffen!“

Und dann war es still. Der Streit hatte ins Schluchzen der Frau und das Gepolter des Mannes, der aus der Wohnhalle gestürmt kam, gemündet. Tylike stampfte hinunter in die Mälzerei, wo die eingeweichten Gerstenkeime jetzt so weit gewachsen waren, dass der Grünmalz fertig und durch Erhitzen für den nächsten Brautag getrocknet werden konnte.

Es blieb frostig zwischen den Eheleuten, frostig im Haus, genau wie draußen. Der Wintereinbruch hatte das Markgraftum in Fesseln gelegt. Elsa bedeckte die Glut des Herdfeuers mit dem Trichter, damit sie bis zum Morgen nicht ganz verglomm und die Küche über Nacht nicht allzu sehr auskühlte. Von Reinhilde hatte Elsa ein zweites Paar Wollsocken geschenkt bekommen. „Weil du so brav warst“, hatte die gesagt, „und fürs Schweigen.“

Elsa schwieg. Sie schwieg, wenn die Reinhilde mit Waschschüssel und Schmutzwäsche von oben herunterkam, sie schwieg, wenn Reinhilde mit den Mahlzeiten nach oben stieg. Peternelles Neugier schien kein nutzbringendes Laster zu sein, wenn man so sehr mit sich und seiner Liebschaft beschäftigt war, nicht mitzubekommen, was sich unterm eigenen Dach abspielte. Die Posamentenmachertochter machte Peternelle zu schaffen. Elsa konnte es kaum glauben, dass Peternelle noch immer nicht begriff, was hier los war. Andererseits tat es ihr leid, dass Peternelles Paradies von Gewitterwolken verhangen zu sein schien.

Elsa hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sich oben im Dachgeschoss so lautlos wie möglich zu bewegen. Manchmal verweilte sie, lauschte in die Dunkelheit. Zuweilen beschlich sie der Verdacht, der heimliche Gast logiere längst nicht mehr dort hinten, bald aber überzeugte Reinhildens Geschäftigkeit sie vom Gegenteil.

Inzwischen hatte Elsa auch Zeit gefunden, den Bergkristall in eine Strähne ihres eigenen Haares zu knüpfen. Sie trug ihn unter dem Schweißhemd auf ihrem Herzen. Dreimal am Tag betete sie und vergaß nicht, nach dem Kreuzzeichen den Stein zu berühren, damit er seine schützende Wirkung versprühe.

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Somit irren die Ablassprediger, die sagen,

dass durch Ablässe des Papstes der Mensch

von aller Strafe befreit und selig werde.

„Gott zum Gruße, Els …“, Johanna wirkte verlegen. Zwar erweckte ihr Benehmen den Anschein, sie habe der anderen aufgelauert, als Elsa die enge Passage unter den Arkaden passieren wollte, wand sich nun aber um die Angelegenheit, mit der sie Elsa betrauen wollte. „Gern möchte ich unsere Freundschaft aufleben lassen und bitte dich morgen zur Vesper in unser Haus.“ Heuchlerische Freundlichkeit war nicht tugendhaft.

Elsa musste ihren überraschten Gedanken gemäß dreingeschaut haben. Eine Einladung? „Du meinst zu euch?“

Johanna trat ungeduldig auf der Stelle. Sie schaute sich um, als habe sie eine ganz andere Frau gemeint, die sie zu sich bitten wollte. Ihre Wangen waren vom eiskalten Wind gerötet, die Lippen taub von Kälte, was an ihrer Intonation zu hören war. Sie nickte. „Maria wird auch da sein.“ Mit der Uhrzeit, wann sie Elsa für den kommenden Tag erwartete, ließ sie die andere stehen, ohne auf eine Zu- oder Absage zu warten.

Elsa, von den Gedanken angetrieben, was die Frau des Tuchhändlers Wichtiges mit ihr zu besprechen haben könnte, machte sich an die Erledigung ihrer Aufgaben.

Der folgende Tag war klirrend kalt. Einer dieser Tage, an denen man sich einfach nicht aufwärmte. Elsa wurde von Johanna erwartet. Sie hatte kaum den Türklopfer berührt, da wurde die Mannpforte vor ihrer Nase aufgerissen. Eine Magd hieß sie eintreten und nahm ihr den Umhang und das Wolltuch ab, wie Elsa es sonst bei den Herrschaften machte. Elsa wurde durch eine tief gewölbte Eingangshalle geführt, die anders als die der Tylikes keine Durchfahrtshalle war, sondern eine Art Saal, von dem mehrere eisenbeschlagene Türen abgingen und von dem eine Steintreppe emporführte. Durch eine dieser Türen wurde Elsa geleitet.

Sie wurde von Johanna empfangen. Die machte den nervösen Eindruck, schon geraume Zeit durch den Raum spaziert zu sein und an den einst eng anliegenden Säumen ihres Oberteils herumgespielt zu haben. Die sahen ganz ausgeleiert aus. Elsa knickste vor der Gattin des Tuchhändlers. Johanna war mitten im Raum stehen geblieben und bot ihr die Hand zum Gruß, was in Elsas Augen nicht standesgemäß schien.

„Gut, dass du kommen konntest“, sagte eine dünne Stimme vom Kamin her. Erst jetzt entdeckte Elsa Maria. Es sah aus, als drücke die wagemutige Haube sie in den Sessel. Maria erwiderte Elsas förmlichen Gruß mit einem Kopfnicken, mit dem sie tiefer in ihre Wolldecke zu rutschen schien.

Die Magd tischte ein Heißgetränk auf, das nach Hagebutten und Hollerbeere roch. Dazu Gebäck. Johanna beschied Elsa, sie möge auf dem dritten, eigens für sie herangeschobenen Stuhl am kleinen Tischchen Platz nehmen.

So saßen die drei jungen Frauen am Kamin, dessen Wärme Elsa willkommen war. Eine kleine Verlegenheit breitete sich zwischen ihnen aus, die dazu genutzt wurde, am Becher, daran eine Schlinge für den Zeigefinger, zu nippen.

Maria, die ihre gute Erziehung nicht vergessen hatte, erkundigte sich nach Elsas Befinden, das der lieben Mutter, ging auch jede Schwester durch, wobei sie die Namen aller drei falsch in Erinnerung behalten hatte: Siegrun, statt Siegtraut, Irmtraut, statt Irmel und Anne statt Anneruth. Elsa nickte geflissentlich und beschied, die Familie sei bei angemessener Gesundheit, wobei dies in Bezug auf die Mutter nicht stimmte. Elsa war schlau genug zu wissen, dass sie nicht ihrer Familienangelegenheiten wegen hier war, sondern … „Worüber wolltet ihr mit mir sprechen?“

„Nun …“, begann Johanna, wobei ihre nicht weniger verwegene Haube mit dieser kleinen Silbe bebte. „Du hast sicherlich das Gewese um die drei gesuchten Ketzer mitbekommen.“ Sie konnte hinter ihrem aufgesetzten Lachen weder Verunsicherung noch Angst verstecken. Maria schenkte ihrer Schwester einen konsternierten Blick. Wer in Gottes Namen hatte nichts von den ausgerufenen Ketzern gehört?

„Mir scheint, die Leute verlieren das Interesse an den immer gleich klingenden Ausrufen und Versprechungen, die Ketzer zu fangen und die Gefährdung unseres Seelenheils im Keim zu ersticken.“ Elsa bemühte sich um eine gewählte Sprache. Als Töchter von Braumeistern entstammten sie alle drei im Grunde dem gleichem Stand. Johanna, mehr denn Maria, versuchte sich durch ihre reiche Vermählung bis in den Himmel von Elsa, der Magd, abzusetzen und zeigte das vom Seidenschleier bis zum Entenschnabelschuh. Elsa stellte behutsam den Becher ab und fixierte die ältere der beiden Hinterthur-Schwestern. Warum sie mit einem Male an das nackte Mädchen vom Frauentor denken musste, war ihr ein Rätsel.

„Mutter benimmt sich seltsam“, durchstieß Maria mit ihrem feinen Stimmchen die Stille, die sich den Dreien inzwischen aufgedrängt hatte.

„Verständlich.“ Elsas Augen streiften den Kaminsims, wo prachtvoll geätzte Zinnbecher standen, und schweiften weiter hinab zum Kaminfeuer, das lustig tanzte. „Bei dem, was man über ihren Sohn erzählt.“

„Das meine ich nicht. Sie verhält sich anders seltsam“, insistierte Johanna. Elsa scheute den Blick in die Gesichter der Schwestern. Ihr kam der plötzliche Gedanke, die Reinhildin täte besser daran, Andres – mit jedem Tag wurde Elsas Gewissheit fester, ihr heimliches Mündel sei Andres Hinterthur – woanders unterzubringen.

„Andres …“ Johanna räusperte sich und schaute sich sogar nach der Tür um, als lauerten dahinter Heerscharen von Langohren. „Er … ist auf der Liste der Geächteten, wie du weißt.“ Eine unnötige Erwähnung.

„Hier geht es nicht um Diebstahl oder eine Rauferei“, riss überraschenderweise Maria auf sehr resolute Art das Gespräch an sich. „Solche Banalitäten hätte man am Schandpfahl ächten können. Dessen sich Andres schuldig gemacht hat, nennt sich Verletzung der Heiligen Gebote. Das falsche Zeugnis wider die Heilige Schrift.“

Kaum war es ausgesprochen, atmete die eine tief ein und aus, hielt sich die andere die Hand vor den Mund und blinzelte energisch, um Tränen der Erschütterung zurückzuhalten. Soweit jedenfalls Elsas Deutung. Sie konzentrierte sich auf ihre eigenen Regungen: entspannte Gesichtszüge, gleichmütige, wenn auch offene Körperhaltung, leicht zur Sprecherin geneigt und Anteilnahme vortäuschend, indem sie Maria, genau wie deren Schwester vor ein paar Wochen, die Hand leicht auf den Unterarm legte.

Mit den Gedanken aber war sie nicht hier, sondern drüben in der Neißgasse und wollte sich nicht ausmalen, was ihr blühte, wenn man den Mann in seinem Versteck fand. An Reinhilde war eine enorme Anspannung zu beobachten. Das hatte die jüngere ihrer Töchter ganz richtig erkannt. Reinhilde sah verhärmt aus und sie wurde immer stiller, obschon leicht reizbar. Oft war über den Tag nur ihr Schlüsselbund zu hören.

In solcherlei Gedanken versunken, hörte Elsa kaum zu, während Johanna und Maria, zunächst stockend, dann sich überschlagend, die Veränderungen ihrer Mutter diskutierten. Elsa selbst schätzte, sie habe sich ebenso verändert wie die Reinhildin, seit sie das Geheimnis zu hüten hatte. Ihr ganzes Verständnis der Gegenwart hatte sich verändert. Sogar des Nachts erzählte Peternelle Gruselgeschichten. Es brauchte nicht viel, um Elsa das Fürchten zu lehren. Sie war ein verschrecktes Mädchen, dem das umtriebige Stadtleben nicht geheuer war. Die Geächteten waren bald nur Beiwerk für Peternelles Schauermärchen.

„Ist dir denn gar nichts aufgefallen?“, wurde Johanna nun ungeduldig, weil Elsa gar so beharrlich schwieg. Elsa wusste, sie musste ihnen ein Krümchen vorsetzen, um das Bröckchen für sich behalten zu können. Sie nickte. „Sie macht sich genauso Gedanken um Andres wie ihr, denke ich. Sie betet sehr viel.“ Elsa atmete durch, dankbar für diesen Blitzgedanken. „Ja, sie betet in einem Fort für Andres’ Unschuld. Sie ist sich übrigens sicher, dass das alles nur ein Irrtum ist.“ Noch ein Blitzgedanke, komm schon! Ihre Blicke irrten zwischen den beiden Schwestern hin und her. „Andres, so allein in der Ferne …“ Elsa senkte die Lider, seufzte übertrieben und schüttelte besorgt den Kopf.

„Wie meinst du das … so allein in der Ferne?“, überschlug sich beinahe Johannas Stimme. Sie suchte den Schulterschluss mit ihrer Schwester und rutschte in ihrem Polster weiter nach vorn.

„Nun …“ Elsa legte eine besonders erstaunte Miene auf. „Rom …“ Zwischen ihren weichen, blassrosa Lippen hielt sie das O fest und achtete auf die Reaktion der beiden Hinterthur-Töchter. Elsa wagte sich sehr weit in unbestimmtes Terrain vor, aber irgendetwas musste sie doch sagen, um die jungen Frauen von Reinhilde abzuziehen.

„ROM?“, echoten die beiden wie aus einem Munde.

Bitte, oh, Herr, sandte Elsa ein stummes Gebet gen Himmel, noch ein Geistesblitz, bitte schnell! „Ja. Reinhilde sagt, Andres habe sich schon lange vor Allerheiligen auf Pilgerfahrt nach Rom begeben … und … seither sei keine Nachricht von ihm eingetroffen … weswegen eure Mutter ja so außer sich ist.“ – Danke, oh Herr, für deine Eingebung! – „Sie beginnt selbst an dem Wahrheitsgehalt seiner Nachricht zu zweifeln, … doch sagt ihr ihr Mutterherz, dass Andres wohlbehalten in der Ewigen Stadt weilt …“ Elsa schob in Anbetracht der ungläubigen Mienen ein zittriges Lachen hinterher. „… Der Glückliche.“

Maria und Johanna wechselten einen Blick, kalkulierten, wie viel oder wie wenig sie von Elsas Neuigkeit glauben wollten und nickten dann. „Wieso hat sie das nicht erwähnt? Herrgott!“

„Weil sie überzeugt davon ist, dass ihr Bescheid wisst …“ Elsas Antwort war vielleicht ein bisschen rasch herausgeplatzt, aber Johanna schien beschlossen zu haben, dem Ganzen zu glauben.

Der Kräuteraufguss wurde bei weitaus leichterer Unterhaltung ausgetrunken, die Gesellschaft einer Magd jedoch nicht über Gebühr strapaziert. Und so verabschiedete sich Elsa noch vor Einbruch der Dunkelheit vom Hause am Ringmarkt, um die hundert Schritte bergab in die Neißgasse zu hasten.

Reinhilde fiel zuerst aus allen Wolken und danach in dankbare Ausrufe, als Elsa von dem Stelldichein mit den Hinterthur-Töchtern und der Lüge als Ergebnis berichtete.

„Du musst nicht denken, dass dir diese Lüge gestraft wird“, schob die Reinhildin nach, „Im Gegenteil, Els, sie wird dir vergolten. Nun … sehr gut … Andres ist auf Pilgerfahrt. Sehr schön.“ Reinhildens Blick irrte in der Küche umher, als wähne sie in einem der Kessel ein Sichtloch nach Rom. Sie nickte entschlossen, wischte sich wie nach langem Werk die Hände am Rock und wandte sich ab.

„Wollt Ihr nicht endlich zugeben, dass Andres da oben ist?“, Elsas Kopf ruckte empor Richtung Dachkammer und Reinhildens zurück in ihre Richtung. „Ich weiß es so oder so.“ Elsa tat eine Hilfe suchende Geste, dann schüttelte sie über das verschreckte Gesicht, das die Reinhildin der Maria vererbt haben dürfte, den Kopf und seufzte.

„Andres ist in Rom, Elsa!“, gab Reinhilde engelsgleich von sich. „Wie kann er dann in der Dachkammer sein?“ Sie verließ die Küche mit direktem Weg hinauf auf den Dachboden. „Vergesst nicht, es Peternelle zu berichten“, rief Elsa der anderen hinterher, „wenn Ihr sichergehen wollt, dass es morgen die ganze Stadt weiß.“

Die Reinhildin steckte noch einmal den Kopf hinter dem Treppenpfosten hervor, musterte Elsa von oben bis unten, dann nickte sie, wobei ihre Augen abenteuerlustig funkelten.

Es war der Tag Apostel Johannes. Kurz vor Neujahr, als die Stadt dahingehend irritiert wurde, dass der Geächtete Hinterthur in Rom zu weilen schien und die Hetzjagd auf ihn in der Stadt sinnlos war. Elsa beobachtete, dass diese Neuigkeit zumindest bei jenen, die ein bisschen mehr als Stroh in der Birne hatten, auf Misstrauen stieß. Wieso ging ausgerechnet jetzt die Kunde, dass der Hinterthur auf Pilgerfahrt sei? Wenn einer pilgert, kann er wohl kaum wegen Häresie gesucht werden …

„Das ist es ja gerade“, seufzte Elsa, die ihrer Schwester Siegtraut, Mutter des allgemeinen Argwohns, die Sache zu erklären suchte. „Das eine geht mit dem anderen gar nicht einher. Andres Hinterthur kann mit den Ketzerschriften gar nichts zu tun haben, wenn er in Rom ist, oder?“

Siegtraut verzog missbilligend den Mund, dann zuckte sie die Achseln. „Mir egal. Wenn es nur eine Ausrede der Reinhildin ist, um das Geschäft zu retten. Wie ich höre, endete der letzte Ausschank der Tylikes nicht allzu reichlich. Andres’ Ächtung wirkte sich ungünstig auf die Geschäfte der Hinterthur-Schwiegersöhne aus. Soll sie eben solche Lügen verbreiten! Wenn Andres Hinterthur ein Ketzer ist, wird er so oder so Besuch vom Hoter bekommen.“

„Redet nicht so“, ächzte die Mutter. Ihr Atem ging rasselnd und schien ihr Schmerzen zu bereiten. „Der Andres Hinterthur ein Ketzer …“ Katharina Mälzer schüttelte kaum merklich den Kopf. „Der wird zum Ketzer, wenn dem Teufel in der Hölle der Arsch zufriert.“

Anneruth und Irmel auf ihren Plätzen kicherten, Siegtraut verdrehte die Augen. Elsa wusste, sie konnte nicht länger bleiben. Nichts zog sie hinaus in die Kälte. Obschon kaum geheizt war, erwärmte sie die Gesellschaft ihrer Familie. Sogar Siegtraut. Vielleicht war Elsas Rührseligkeit auch nur der feierlichen Zeit zwischen den Jahren geschuldet. Zwischen den Jahren neuer Schnee, kommt im Mai die Liebe wie der Klee.

Und der Schnee fiel in dichten Flocken, als Elsa das Frauentor in die Stadt hinein passierte und Zeugin wurde, wie sich die Torwachen in einer aufgeregten Diskussion überschlugen. Elsa, die auf die Prüfung ihrer Papiere warten musste, vernahm zwar mehrmals den Namen der Delinquentin Carolina Müllerin, begriff aber nicht gleich, was sich zugetragen hatte. Erst, als sie auf den Durchlass beharrte, fasste sie genug Mut nachzufragen, was denn los sei. So erfuhr sie, dass die Hexe, mutmaßlich besagte Müllerin, aus der Büttelei, wo sie auf den Richterspruch gewartet hatte, entkommen sei. Eine ungeheuerliche Neuigkeit. Und das, wo die Stadt so stolz gewesen war, zumindest einen der drei Geächteten geschnappt zu haben. Seit Andres Hinterthur als Pilger von der Geächtetenliste gestrichen werden musste, Matthes Weidner immer noch wie vom Erdboden verschluckt schien, hatte sich die Stadt mit der Gefangennahme der Hexe gebrüstet. Vergeblich auch das. Keine gloriose Abrechnung.

Die Torwachen überschlugen sich. Elsa reimte sich zusammen, der wachhabende Büttel habe das Türchen zur Kammer der Hexe unverschlossen gelassen und sei obendrein auf der Ofenbank eingeschlafen. Letzteres hatte selbstverständlich nur geschehen können, weil der Büttel von der Hexe verzaubert worden war. Nur durch Zuhilfenahme von Hexerei habe sie aus dem Stockgässel gelangen und im Schutze der Nacht fliehen können.

„Wenn die wieder eingefangen wird, hat die nichts mehr zu lachen.“ Weiter beschied der Torwächter, wie energisch der Büttel abgestritten habe, unachtsam gewesen zu sein, was den Verdacht auf Hexerei verhärtete. Böse Zungen behaupteten, dass, wenn einer sich an nichts erinnern kann, er wohl geschlafen haben dürfte. Trotz aller Widrigkeiten drohte einem Büttel, der sich von einer Hexe hatte beeindrucken lassen, beziehungsweise während des Stubendienstes eingeschlafen war, die Amtsenthebung für ein Vierteljahr. Er konnte von Glück reden, wenn er Freunde und Verwandte hatte, die ihn und seine Kinderschar bis zur Rückkehr in den Dienst durchbrachten.

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