Kitabı oku: «Ketzerhaus», sayfa 7
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Hölle, Fegefeuer und Himmel scheinen mir sich
in der Weise voneinander zu unterscheiden,
wie Verzweiflung, annähernde Verzweiflung
und Heilsgewissheit.
Elsa fand nicht in den Schlaf und wollte nicht mit der anderen reden, als diese sich auf das Strohlager drängelte. Die zwei Gulden kreisten vor Elsas innerem Auge umher. Zwei Golddukaten! So viel Geld! Einer davon entsprach sechsundneunzig Groschen. Wenn man davon absah, dass man für sechsundneunzig Groschen heute nicht mehr so viel bekam wie gestern, war es dennoch eine ordentliche Summe. Wenn Elsa Andres meldete, konnte sie ihre Familie mit zwei Golddukaten gut ein halbes Jahr lang ordentlich ernähren! Wenn aber herauskam, dass sie Andres verpfiff, würde Reinhilde sie achtkantig aus der Wirtschaft werfen und Elsas Familie würde am Bettelstab hängen, sobald die beiden Goldstücke aufgebraucht wären. War das eine Option für Elsa?
Reinhilde hatte sich die Abhängigkeit von Elsas Sippe gesichert, indem sie den Armengroschen für das Jakobsstift, in dem Katharina Mälzer und die drei übrigen Töchter lebten, zahlte. Sie hatte Elsa in den Dienst genommen, sich Gottes Segen und einen Platz im Paradies durch ihre übergroße Mildtätigkeit gesichert, welche Elsas Familie vor den Toren der Stadt als Recht- und Mittellose im Stiftshof leben ließ. Würden zwei Gulden vielleicht genügen, um irgendwo ein Zimmer zu kaufen? Alles wäre besser als das Jakobsstift, in dem selbst die kleine Irmel hart anpacken musste.
Was konnte Andres Hinterthur angestellt haben, dass er zwei Gulden wert war? Und davon, dass er es war, der zehn Schritt entfernt in der Kammer lag und Qualen litt, war Elsa inzwischen felsenfest überzeugt. Wieso versteckte ihn seine Mutter, wo doch sein Name mehrmals täglich ausgerufen wurde? Andres Hinterthur ein Verbrecher, Gefahr für Kirche und Krone? Reinhilde gefährdete alles, was sie aufgebaut hatte, indem sie sich zur Komplizin eines Geächteten machte. Elsa durchfuhr es eiskalt. Und sie selbst auch! Sie selbst war die Komplizin der Komplizin! Sie bekreuzigte sich und faltete die Hände zum innigen Gebet. Jeder wusste: Wer in der Acht war, galt als rechtlos, dem stand weder Brot noch Bett zu. Wer einen Geächteten einfing oder gar tötete, galt nicht als Verbrecher. Ihm drohte keine Strafe. Wer jedoch einem Geächteten half, für den galt dasselbe: das Todesurteil.
Erinnerungen an ihre Kindertage kreuzten ihre Gedanken: Andres, der stille, blasse Junge, unter dem Baum sitzend, über ihm die Bibel schwebend wie ein Heiligenschein; Andres versunken ins Tischgebet in der elterlichen Brauerei und wie er ihr aus der Patsche geholfen hatte, als ihr Krug umgekippt war. Andres, dem sie und Jost so unsagbar viele Streiche gespielt hatten. Und jetzt hatte man zwei Gulden auf ihn gesetzt und nannte ihn einen Ketzer! Elsa verstand das alles nicht.
Es gab nur eine Lösung für das Rätsel: Andres war vom Leibhaftigen heimgesucht! So musste es sein. Man sagte, der Teufel komme in jeglicher Gestalt, nistete sich in den Arglosen ein, benutzte ihre Schwäche für seine Ziele. Was, wenn Andres Hinterthur genau das passiert war und er vom Beelzebub beseelt in der Kammer lag und das Böse in ihm nur darauf wartete, dass die Hülle verschied, damit er sich das nächste Opfer suchen konnte? Frauen waren bevorzugte Opfer des Teufels. Und Frauen waren schon für weniger auf dem Scheiterhaufen gelandet, durchfuhr es Elsa, sodass sie sich vor Schreck dreimal bekreuzigte.
Als sie endlich eingeschlafen war, träumte sie von einer blutüberströmten Fratze, die sie heimsuchte und zum Stillschweigen verdammte. Einen verdrehten, kaputten Finger führte der Fremde an die verschorften Lippen. In ihrem Traum hatte Elsa Wassereimer geschleppt und als sie ihr eigenes Spiegelbild in der Wasseroberfläche betrachtete, sah sie, dass ihr Mund mit fettem Zwirn zugenäht war. Ihr Traum-Ich schüttete die Wassereimer aus, in einen Fluss, einem teils zugefrorenen Fluss, unter dessen Eisschicht der Fremde gesogen wurde.
Es variierte, wenn sie von Josts Tod träumte, doch wachte sie stets schweißgebadet auf.
Elsa war verunsichert und fahrig. Ihr gelang nicht viel an diesem Vormittag und deshalb beschloss sie, ihrer Mutter einen längst überfälligen Besuch abzustatten. Ihre Mutter wusste bestimmt, was man zum Schutz vor dem Beelzebub im Hause tun konnte, ohne, dass sie ihr verraten musste, was genau sich in der Nikolaigasse abspielte.
Wie es die Fügung wollte, war Markttag. Elsa machte sich gemeinsam mit Peternelle auf den Weg zum Ringmarkt. Dieser fand sich nur wenige Schritte die Neißgasse westwärts bergan. Es war ein sich ringartig um die Stadtwaage schmiegender Platz. Schon nach wenigen Schritten die kleine Anhöhe empor war Elsa vom strengen Wind so durchgefroren, dass sie ihre Zehen in den harten Holzschuhen kaum mehr spürte. Die leere Kiepe auf ihrem Rücken wog jetzt schon so schwer, dass sie ganz außer Atem war.
Elsa mochte nicht die vielen Menschen auf dem Markt. Sie verabscheute die Leiber, die sich an ihren Körper drückten. Sie hatte ab einem bestimmten Alter festgestellt, dass es die älteren Männer waren, die sich im Getümmel absichtlich eng an die Mädchen drückten, die Hände dann entschuldigend vor die Brust hoben, nicht ohne die der Mädchen zu streifen. Das hasste sie. Sie konnte den Gestank nicht leiden, der jedem einzelnen Körper entströmte. In einem reinen Körper stecke eine unreine Seele ging die Weisheit. Deshalb wuschen sich die Leute selten. Zumindest die Männer wuschen sich so gut wie nie. Und spätestens wenn die Frauen aus ihren Tagen waren, wuschen auch sie sich nicht. Schlimmer noch als der Geruch war der Lärm. Dieses schnaufende Ungetüm einer hundertköpfigen Schlange schnappte und kreischte, brüllte, ächzte, lachte, pfiff und schimpfte. Aber mehr noch als der Gestank und der Lärm nervte Peternelles Eile.
Wie immer saß Peternelle die Zeit im Nacken, denn je schneller sie die Einkäufe erledigt haben würden, desto mehr Zeit blieb ihr, sich bei ihrem Liebsten einzufinden, ohne einen Ausbruch bei Reinhilde heraufzubeschwören, die keine Ahnung hatte, mit wem die erste Magd poussierte.
Peternelles Liebster war der Schuhmachersohn Michel. Sein Vater war so reich, dass er eines der Handwerkerhäuschen in der Zeile bewohnen konnte. Die Zeile war die mittige Ansammlung von Häusern, die vom Ringmarkt umarmt wurde. An der östlichen Stirn befand sich besagte Waage, zu der die Händler mit ihren Gütern strömten wie die Gläubigen nach Santiago de Compostela. Bei diesem Gedanken war Elsa wieder bei Andres. Warum erzählte Reinhilde auch angeberisch von den Pilgerreisen, die Jahre zurücklagen und so, als habe sie sie selbst erlebt? Wohin Andres damals gereist war, hatte Elsa vergessen. Irgendwas Italienisches.
Die Schuhe, die Michels Vater herstellte, waren nicht zu vergleichen mit den italienischen und trotzdem so hochwertig, dass Michel Anwartschaften auf gut Bürgerliche anmelden durfte. Wahrscheinlich, so überlegte Elsa, war Peternelle das gar nicht klar. Doch würde diese Erkenntnis Peternelle dann hart treffen, wenn der reiche Schustersohn die gut betuchte Posamentenmachertochter heiratete, wovon der Klatsch zu berichten wusste, wovor Peternelle aber vehement die Ohren verschloss. Die Posamententochter war sehr schön.
Für Elsa war es nicht schwer, andere Mädchen schön zu finden, denn in einem jeden meinte sie, den Spiegel ihrer eigenen Makel zu finden. Sie hätte es nicht benennen können, aber ihrer Nasenspitze fehlte der freche Stups, sie folgte schnurgerade dem vorgezeichneten Weg. Ihrem Haar mangelte es am Gold des Honigs. Sie war froh, es unter der Haube verstecken zu können, so fiel der Schlag ins Rote nicht auf, wenn man es nicht wusste. Ihren Wangen ging jenes Rosé von verdünntem Wein ab, das im Allgemeinen ein Attribut für Gesundheit war. Elsas Wangen waren blass. Ihre Lippen waren nicht zu vergleichen mit saftigen Erdbeeren, und ihre Augen waren weit entfernt vom Strahlen eines Sonnentages. Ihre Augen waren grau oder graugrün mit braunen Sprenkeln. Oder braun mit blauen und grünen Sprenkeln. Ihre Augenfarbe war auf der dunklen Wasseroberfläche in den Putzeimern schwer zu deuten. Doch ihre Brüste, waren gut: rund, nicht zu voll, nicht zu platt, hingen nicht, standen nicht ordinär ab. Das lederbraune Rund saß genau mittig und reckte seine zartrosa Knospe mutig der Welt entgegen. Das nützte ihr aber nichts. Mit ihren Brüsten konnte sie kaum hausieren gehen. Gott bewahre! Elsa konnte sie nicht für sich sprechen lassen, um auf dem Markt die Preise zu drücken.
„Nun komm endlich!“, knurrte Peternelle und zerrte Elsa am Arm mit sich, sodass die einen ihrer Holzschuhe verlor. Sie stolperte mindestens einmal am Tage über ihre eigenen Füße. Sie wusste nie so recht, wohin mit ihren Gliedmaßen, die stets und ständig im Wege zu sein schienen.
Elsa griff nach ihrem Schuh. Doch sie langte ins Leere, weil der von irgendwem weggestoßen wurde. Wer fluchte wütender? Elsa oder Peternelle? Elsa verfolgte auf allen Vieren ihre schlitternde Pantine. Diese wurde von den Marktgängern unwissentlich vorangeschoben und torkelte über das Pflaster wie ein Hühnerei. Elsa ließ ihren Schuh auch nicht aus den Augen, als die Menschenbeine dicht wie ein Wald vor ihr aufragten. Und dann, endlich lichtete sich der Wald und Elsa hechtete auf den freien Plan, bekam das Schuhwerk zu fassen und richtete sich auf.
Tosender Applaus. Elsas Blick streifte die Masse von Leuten, die im Halbrund um sie standen: jubelnd, und klatschend.
Sie war verwirrt und ihre Blicke landeten passgenau in Johanna Hinterthurs schockstarren Augen.
„Wenn du dich endlich davonbewegen würdest“, sagte eine knorrige Stimme hinter ihr. Elsa wandte sich um und entdeckte den Marktschreier, dem sie vors Podest gerannt war. Der Applaus hatte nicht ihr gegolten. Das Gejohle war seiner neuesten Verkündigung gezollt worden. Mit frischer Zunge düngte er die Köpfe der Leute und zeitigte die Neuigkeiten, die seit zwei Tagen die Menschen der Stadt beschäftigten.
Elsa zog die Pantine an und den Kopf ein. Sie huschte in Richtung der Menschengruppe und stellte sich neben Andres’ Schwester Johanna, dunkelblau gewandet wie die Jungfrau Maria. Der Blick, den sie dem Schreier widmete, war kalt und Elsa entging nicht, dass ihr, Johanna, von einigen Umherstehenden scheele Blicke zugeworfen wurden. Es dürfte nur allzu bekannt sein, dass sie die Schwester des als Ketzer Verschrienen war. Das, was der Neuigkeitenerzähler zum Besten gab, handelte von Gottesstrafe, vom Jüngsten Gericht und davon, dass keine ehrbare Menschenseele in Versuchung geraten dürfe, einem flüchtigen Ketzer Schutz zu bieten. Worte wie „Blasphemie“, „Haeresis“ und „Ächtung“ schwappten herüber. Johanna bedachte Elsa nicht mit ihrer Aufmerksamkeit, als sie grollte: „Er beschmutzt mein Ansehen. Das Ansehen meines Mannes!“ Dass sie nicht den Schreier, sondern ihren Bruder meinte, begriff Elsa. Sie legte der anderen teilnahmsvoll die Hand auf den Unterarm, mehr konnte sie für Johanna nicht tun. Diese schien von der Berührung kaum Notiz zu nehmen, wandte sich um und wurde von der Menschenmenge geschluckt.
Elsa schaute noch einen Moment Johannas dunkelblauem Atlas hinterher, dann begab sie sich auf die Suche nach Peternelle. Die Stimme des Marktschreiers wurde faserig wie zu lange gereifter Kohlrabi, dann verschwammen die Worte wie Eierflocken im Eintopf und bald waren sie von der hungrigen Meute aufgefressen.
Kaum entdeckt, schimpfte Peternelle mit ihr wie mit einem ungezogenen Kind. Die maulte, weil die Preise von Minute zu Minute stiegen. Kohl, Rüben, Zwiebeln und Honig musste auf Vorrat beschafft werden. Die vorweihnachtliche Fastenzeit hatte vor Kurzem begonnen. Bis Weihnachten durfte kein Fleisch mehr gegessen werden und auch keine Butter. Elsa erinnerte sich, dass Orwid Hinterthur einmal behauptet hatte, das Weihnachtsfasten sei erfunden worden, weil im Winter die Lebensmittel so knapp wurden, dass die Königshöfe, der Kaiserhof und der Heilige Stuhl befürchteten, zu wenig zu essen zu kriegen. Aus diesem Grunde müsse von den Armen genommen werden. Elsa war zwar schon erwachsen und heiratsfähig, aber sie wusste bis heut nicht, ob Orwid Hinterthur recht hatte oder nicht.
Peternelle blieb abrupt stehen, als habe sie die heilige Gans erspäht. Elsa, ihre Schulter reibend, die sie an Peternelles Rücken gestoßen hatte, folgte dem Blick der anderen und schaute hinüber zum Marktschreier, den Peternelle vorhin gern ignoriert hatte. „Woran ist der alte Hinterthur eigentlich gestorben?“
„Weiß ich nicht“, antwortete Elsa
„Wieso weißt du das nicht? Ihr habt doch in derselben Parochie gelebt, oder nicht?“
Elsa wunderte sich nicht über Peternelles Neugier. „Ich glaube, es war eine Krankheit. Wieso fragst du?“
„Vielleicht sind sie von der Erbsünde befallen?“ Peternelle ruckte mit dem Kinn aufmüpfig Richtung Marktschreier. „Vielleicht hat der Andres das Gleiche angestellt wie sein Vater?“
„Er ist an einer Krankheit gestorben“, rebellierte Elsa, obwohl sie den Wahrheitsgehalt ihrer Worte nicht kannte.
„Aber du weißt es nicht sicher! Komm hier herüber. Die sehen gut aus“, riss Peternelle sie am Arm und aus ihren Gedanken. Die Grünkohlköpfe, die in der Kiepe auf Elsas Rücken wanderten, waren nicht die schönsten, aber immer noch besser als das, was man noch kriegte, wenn die Meute sich vom Marktschreier losgemacht und über das Gemüse hergefallen sein würde. „Woran erkennt man so einen Ketzer, wenn man einen vor der Nase hat?“, fragte Elsa, deren Gedanken um nichts anderes kreisten.
Der Bauer hinter dem Warentisch wandte sich zu ihr: „An der riesigen Nase, der Warze darauf und den struppigen Haaren.“ Er tippte jedes benannte Körperteil an. Der Mann nickte zu seinen Worten und beteuerte im Brustton der Überzeugung weiter, die meisten Ketzer hätten eine verkrüppelte Hand. „Oder ein kaputtes Bein und hinken. Manche haben auch verdrehte Finger, genau wie der Gehörnte.“ Dieses Mal fuchtelte der Bauer wissend mit den Händen herum. Die Riemen der Kiepe schnitten in Elsas Schultern, das Gewicht der Kohlköpfe zog sie nach hinten, als sie den Bauern entlohnten und gingen.
Peternelle feilschte nicht schlecht um drei Dutzend rote Rüben, ebenso viele Lauchstängel, Zwiebeln und zwei Beutel Erbsen. Davon nahm Peternelle eine Handvoll und stopfte sie in Elsas Umhangtasche. Ein verschwörerischer Blick wurde zwischen den Mädchen getauscht. „Und ein Weck für Anneruth, wenn ich etwas länger bleiben darf.“ Elsa nickte und Peternelle steckte ihr auch den zu.
Die Kiepe war so entsetzlich schwer, dass Elsa sich ihrer bei Peternelle entledigte. Sie würde sie später nach deren Stelldichein wieder in Empfang nehmen. Viel leichter und geschwinder jetzt verschwand Elsa in östliche Richtung. Verließ den Ring entlang der Brüderstraße gen Süden, um hier, am Kloster vorbei an der Südseite des Neumarktes hinüber zum Frauentor zu gelangen. Das Steintor neben dem dicken Turm war ein trutziger Bogen, ein offenes Maul, das schrie: Hier herein und von hier fort kommt niemand unbemerkt. Über dem Torbogen prangte das Stadtwappen, umgeben von den Steinbildern. Die zeigten Maria und Barbara und eine Inschrift, die Elsa nicht entziffern konnte, weil sie das Alphabet nur bis zum P kannte und auch dies nur noch unsicher. Seit der Lehrzeit bei ihrer Mutter hatte Elsa nie wieder den Antrieb und schon gar nicht die Zeit gehabt, die Buchstabenfolge zu vervollständigen. Flankiert wurde das Steinmaul von zwei steil emporragenden Zeigefingern: Überlegt es euch noch mal – draußen ist es gefährlich. Draußen hält der Rat nicht seine schützende Hand über euch.
Im breiten Tordurchgang stauten sich die Leute. Elsa hörte den Tumult schon von Weitem. An normalen Tagen kam man, wenn man seinen Namen und Bürgen nannte, leidlich geschoben und gequetscht in die Stadt hinein und auch wieder raus. Wenn Markt gehalten wurde, musste man eine eingehende Begutachtung über sich ergehen lassen. Erst recht, wenn man drei Vogelfreie suchte. Elsa reihte sich in die Schlange der Wartenden ein.
Das Tonnengewölbe verzerrte die Flüche derer, die es eilig hatten. Auch gab es zu dieser fortgeschrittenen Morgenstunde immer noch Händler und Käufer, die in die Stadt wollten. Eine Hühnerfrau mit schwerem Oberlausitzer Mundwerk beschwerte sich, dass ihre Hühner zu alt würden und sie keiner mehr kaufen wollte, wenn das hier noch lange dauerte. Ein Korbmacher fiel ins Gemecker ein, die Weidenruten seiner Körbe würden neu austreiben, wenn man ihn noch länger zwang, hier in der feuchten Kälte zu stehen.
In der Tat staute sich die Kloake in den Spurrinnen im Gewölbe zu matschigen, stinkenden Rinnsalen. Hier, wo kaum ein Sonnenstrahl hinreichte und der Strom der Reisenden nie abbrach, trockneten die immer breiter werdenden Fugen im Grauwackepflaster nie ganz ab. In den tiefen Rinnen, die die Fuhrwerke mit der Zeit gegraben hatten, schäumte das gelbe Tauwasser, sodass Elsa nicht nur eiskalte, sondern bald auch nasse Füße hatte. Vom Gestank der Äpfel und Fladen, die die wartenden Pferde- und Ochsengespanne zurückließen, ganz zu schweigen.
Gezeter wurde laut, weil, so kam das Raunen bis zu Elsa an, jemand die schlechte Münze aus Görlitz herausschmuggeln wollte. Es war aber verboten, die Görlitzer Münzen auszuführen. Die Torwächter unterlagen da der königlichen Order, obschon sie dem Rat der Stadt gern dabei geholfen hätten, die Schrötlinge loszuwerden. Der Befehl des Königs aber wog schwerer. Also wurde dem Delinquenten das Geld abgenommen und er achtkantig der Stadt verwiesen, nicht ohne dass dem Ganzen über Gebühr Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet wurde.
Elsa beschlich eine Angst, sie würde weder rechtzeitig raus-, noch beizeiten wieder in die Stadt zurückkommen und Ärger mit Peternelle und anschließend mit Reinhilde riskieren. Elsa überlegte hin und her, während sie geschubst und geschoben wurde, ob sie nicht lieber zurück zum Ringmarkt laufen sollte. Ihre Unsicherheit wuchs, als vorn in der Reihe, wo die Turmwächter die Leute inspizierten, schrilles Geschrei und Gekeife laut wurde. Elsa war zu klein, um über die Hünen vor ihr hinwegspähen zu können. Auf den Gesichtern der Leute spiegelten sich geile Sensationslust und unwürdige Neugier. Das Geschrei von da vorn kam aus der Kehle einer jungen Frau, aber was sie angestellt hatte, dass man sie dermaßen triezte, konnte Elsa dem Tumult nicht entnehmen.
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Den Seelen im Fegefeuer scheint ebenso eine Minderung des Grauens, wie eine Mehrung der Liebe notzutun.
Die arme Seele war nackt und musste entsetzlich frieren. Sie versuchte mit der einen Hand ihren Oberkörper, mit der anderen ihre Mitte zu bedecken. Elsa, die, anders als die übrigen Gaffenden, sich bemühte, wenn überhaupt, dann ins Gesicht der gedemütigten Frau zu sehen, spürte eine Wut tief im Innern gären, während ihre Taschen vom Torwächter durchsucht und die wenigen Rüben und die Handvoll Erbsen gezählt wurden.
Das Mädchen, das bloßgestellt wurde, war sehr hübsch. Sie war keine von hier. Das konnte Elsa gleich erkennen. Dem Mädchen fehlte die zweifelnd aufgeworfene Stirn oder zumindest das Fragende im Blick, was jedem hier anhaftete. Anstelle der Streiteslust der Lausitzer und dem losen Mundwerk der Schlesier war sie beseelt von Stolz und Aufrichtigkeit. Ihr Haar war flachsblond, wie es Elsa nur von ihrer Schwester Siegtraut kannte und wie es den Leuten hier eigentlich fremd war. Die Augen der meisten hier waren hell. Die Augen des Mädchens waren dunkel und wachsam.
Für einen Sekundenbruchteil glitt Elsas Blick in den der Fremden und dieser Augenblick fuhr ihr pfeilschnell und scharf ins Herz. Elsa versuchte sich an einem Lächeln für die Fremde, von der sie nicht wusste, was sie sich hatte zuschulden kommen lassen und ob die Strafe vielleicht sogar gerecht war. Ihr Lächeln verfehlte seine Wirkung, denn der starre Blick der Fremden glitt an ihr vorbei und Elsa wurde unsanft weitergeschoben; weiter voran, um den nächsten Passanten zu durchsuchen.
„Was hat sie angestellt?“, fragte Elsa einen gutmütig dreinschauenden Bauern, neben dem sie das Tor hinaus auf die Felder im Süden der Stadt passierte.
„Sie hat Papier dabei gehabt.“
„Papier?“ Elsa überlegte, seit wann Papier etwas Anrüchiges, Verbotenes war, wurde aber nicht schlau daraus und den Bauern konnte sie auch nicht weiter befragen, denn der suchte mit großen Schritten das Weite, froh, dem städtischen Mief entkommen zu sein, um sich wieder seiner Hufe zu widmen. Ein jeder Markttag musste eine Last für die Bauern sein, zumal sie so wenig vom Ertrag überhaupt zum Markte tragen durften. Das meiste wurde vom Lehnsherrn eingefordert. Der geringste Teil musste zum eigenen Überleben reichen.
Elsa nahm die Beine in die Hand, sprang über die Schlammrinnen im Feldweg und beeilte sich weiter in südliche Richtung, wo das ehemalige domus leprosum schon von Weitem zu sehen war. Jetzt, da die Lepra seltener wurde, hatte das Armenhaus die Aufgabe, die Mittellosen aufzufangen. Dabei handelte es sich um jene privilegierte Armen, die einen Bürgen hatten, der sich um Kost und Logis kümmerte. Wer keinen Bürgen vorwies, wurde nicht im Hause der Mildtätigkeit aufgenommen, sondern landete in der Gosse, bettelte, verhungerte oder verendete an einer dieser vielen Krankheiten, die sich schnell über einen geschwächten Körper hermachten. Doch so lange es einen Bürgen gab, nahm man die Armen gern auf. Die Versorgung der Hilfsbedürftigen mit dem Notwendigsten war gegeben, da die Besseren sich gern ein Stückchen Seelenheil sicherten, indem sie tatkräftig spendeten. Das Armenhaus konnte geheizt, instand gehalten und seine Bewohner verpflegt werden. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, sagte Siegtraut gern.
Im Jakobsstift war Elsa ein häufig begrüßter Gast. Besonders gern gesehen war sie in der Küche. Dort brachte sie die roten Rüben und die Handvoll Erbsen hin, erhaschte ein gutmütiges Lächeln der Vorsteherin und ging nach hinten zum Holzhaus, wo in kleinen Kammern die Mittellosen untergebracht waren.
Als Elsa mit ihrem Klopfen in die Stube trat, schlug ihr der Wohlgeruch von Lavendel, Ringelblumen und Melisse, gemischt mit allerlei Düften von Blüten, Wurzelteilen und Rindenspänen in die Nase, die in Leinensäckchen an Haken und in irdenen Gefäßen auf Wandborden lagerten. Zwar war Johannes Mälzers Hinterbliebenen der Zunftgroschen verwehrt, weil der Mann sich zu Lebzeiten den Zunftgeboten widersetzt hatte, doch durfte Katharina Mälzer ihre Kräuter und Steine, ihren Rat für kleine Wehwehchen feilbieten.
„Mutter, ich bin’s, die Els“, rief die Eintretende ausgesucht fröhlich, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie furchtbar fror und in Eile und eigentlich schon wieder auf dem Rückweg war. Ihre Mutter durchschaute sie mit dem dritten Auge, auch wenn sie mit dem Rücken zu ihr saß.
„Nimm am Feuer Platz, Els, wärm dich auf, erzähl vom Treiben in der Stadt.“
Elsa erkundigte sich zunächst nach den Schwestern. Anneruth und Irmel verdingten sich im Spital, erzählte die Mutter. „Doch der Herr allein weiß, wo sich Siegtraut herumtreibt!“ Katharina Mälzers Lächeln war unerschütterlich, obschon Elsa wusste, ihre Mutter sorgte sich um ihre Zweitälteste.
Siegtraut war zu alt, um tagein, tagaus im Armenhaus zu hocken und zu jung, um sich in der Stadt herumzutreiben. Eine Anstellung hatte sich bislang nicht gefunden. „Es sind schwere Zeiten, Mutter“, setzte sich Elsa neben sie. „Weil doch die Münze nichts taugt.“ Der Wertverfall der Münze war nicht schuld an Siegtrauts Lage. Das wusste sogar Elsa. Eine aus dem Armenhaus durfte nicht auf eine gute Partie hoffen. Elsa übrigens auch nicht. Elsa stand in Kost und Logis und hatte nicht damit zu rechnen, sich jemals eine Mitgift anzusparen. Sie hatte nichts. Eine Magd ohne Mitgift konnte froh sein, wenn sie von einem Gerber geheiratet wurde. Doch die Gerber trugen grobes, kratzendes Tuch am Leib und stanken bis zum Himmel. Ihre Hütten erst recht. Man fand sie stromabwärts am nördlichen Zipfel vor der Stadtmauer. Nein, Elsa wollte keinen Gerber. Dann lieber ein Leben als jungferliche Magd.
Sie knetete ihre Finger vor dem offenen Kaminfeuer und erzählte vom Markttag, von dem Münzenschmuggler vorhin am Tor, nicht aber von der Frau, die man wegen ein paar Papieren entblößt hatte. Gott allein wusste, ob die Ärmste ihren Tag am Schandpfahl würde verbringen müssen oder direkt in die Büttelei gebracht wurde. Elsa erzählte von den Preisen auf dem Markt, die in schwindelerregende Höhe gestiegen waren, von Reinhilde, „Die hat Kummer, aber hält sich tapfer“, und biss sich auf die Unterlippe. An der Regung auf dem Gesicht ihrer Mutter aber erkannte sie, dass diese längst Bescheid wusste. „Der Andres – vogelfrei.“
Katharina nickte versonnen, das Gesicht ihrer ältesten Tochter zugewandt, die Augen starrten an Elsa vorbei. Elsa wusste nicht, was sie weiter erzählen könnte und kam auf den eigentlichen Grund ihres Besuches. „Soso, einen Stein brauchst du“, murmelte ihre Mutter, nachdem Elsa mit ihren Anliegen herausgerückt war. „Einen Stein, der dich vor dem Beelzebub schützt?“ Elsa beobachtete, wie ihre Mutter einen Wimpernschlag lang die linke Augenbraue interessiert hochzog. Dann erhob sie sich von ihrem Schemel. Zielsicher ging sie in der engen Kammer hinüber zur Regalwand, wo in kleinen Körben jene Steine ruhten, die sie mit Sprüchen und Weihwasser zu dem machte, weswegen die Leute herkamen, um sie zu kaufen. Kraftsteine.
„Er ist wie ein Lebewesen, Els, behandle ihn gut.“
Elsa wartete, bis sich ihre Mutter wieder auf den Schemel gesetzt hatte. Katharina öffnete die Faust und auf dem fingerlosen, verschlissenen Handschuh glänzte weiß und hell ein etwa daumennagelgroßer Stein. Ein Bergmann brachte ihr den Bergkristall aus dem Zittauer Gebirge mit. „Es ist ein besonders schönes Stück.“ Elsa erkannte, was ihre Mutter meinte, und beobachtete, wie Katharinas Fingerspitzen die Kanten und kegelartigen Erhebungen der Herzform umrundeten.
„Es gibt keinen Stein, der dich vor dem Beelzebub bewahrt, das kann nur dein Glaube und dein tugendhaftes Leben“, sagte Katharina rau. „Dummkopf, der etwas anderes behauptet. Dieser Stein bestärkt dich in deinem Glauben, schützt deinen Leib und deine Seele vor dem Schlechten. Knüpfe ihn um ein Band, geflochten aus dem Haar einer reinen Seele – Anneruth!“
„Sie ist nicht hier, Mutter.“
Die Frau, die wohl vergessen hatte, dass die beiden Jüngsten Erledigungen nachgingen, nickte knapp. „Du kannst auch dein eigenes Haar nehmen. Trotz der Farbe. Trage den Stein über dem Herzen.“
Elsa nickte gehorsam: „Und das schützt mich vor dem Teufel?“ Und wenn es Andres Hinterthur war, so war er vom Leibhaftigen besessen und deshalb geächtet!
„Der Teufel!“, stieß Katharina aus und für einen Sekundenbruchteil verschwand ihr Lächeln vom Gesicht. Dann sagte sie mild. „Wenn der Teufel in Gestalt eines Menschen unter uns weilt, kann dich keine Macht vor ihm beschützen, wenn er etwas Schlechtes mit dir vorhat und dich zu seinem Werkzeug macht. Dann wird es so geschehen.“ Sie bekreuzigte sich und erhob sich abermals mit knackenden Knien und kaum vernehmbarem Ächzen. „Hier, nimm der Reinhildin etwas vom Mädesüß mit, weil sie immer unter diesem Kopf leidet.“ Elsa musste aufbrechen. Sie hatte viel zu lange verweilt.
Die Tür flog auf und herein wirbelte Siegtraut – „Am Frauentor, da …“ – in dem Moment, als Katharina ein kleines Säckchen mit dem süß-herb duftenden Kraut in Elsas Hand legte. „Was machst du denn hier?“, zog sie die Augenbrauen hoch, während sie mit dem Hinterteil die Tür zustieß.
Elsa erhob sich. „Es ist Zeit zu gehen, Mutter, auf bald.“
„Was ist am Frauentor?“, begehrte Katharina zu erfahren.
„Hat sie wieder was geholt, ohne zu zahlen?“, wich Siegtraut der Frage der Mutter aus und spitzte auf das Säckchen in Elsas Hand, wobei sie die Arme vor der Brust verschränkte.
„Sie gibt mehr, als uns zusteht“, sagte die Mutter und Elsa war froh, dass sie den kleinen Bergkristall längst verwahrt hatte.
„Wo kommst du so spät her? Es wird bald dunkel draußen!“ Elsa wusste, es ging sie nichts an. Sie war nicht Siegtrauts Vormund. Das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Schwester war verseucht von Neid seit dem Tage, da Elsa eine Anstellung bei der Reinhildin gefunden hatte und Siegtraut mit sechzehn Jahren immer noch ohne Auskommen war.
Siegtraut löste ihre provokante Haltung. „Sprich aus, was du denkst.“ Ihre Augenbrauen zuckten angriffslustig.
„Hast du gebettelt?“
„Was denkst du denn? Zuerst habe ich gebettelt, dann habe ich mir von einem Reichen was zum Essen kaufen lassen und danach hab ich mich in sein Bett gel …“
„Das reicht“, schoss Katharina einen Pfeil zwischen die beiden Zankziegen. „Bei meinem Augendunkel! Vertragt euch.“ Die Mädchen schwiegen betroffen.
„Niemand unterstellt dir so etwas“, beschied Elsa ihrer Schwester. Sie schämte sich für Siegtrauts ungezügelte Niedertracht und schämte sich gleichzeitig für ihren eigenen Hochmut, der sich in solchen Momenten in ihrem Herzen breitmachte.
„Andres Hinterthur wird immer noch ausgerufen“, sagte Siegtraut jetzt in ruhigerem Ton.
Katharina Mälzer nickte. Und dann geschah, was selten der Fall war, dass Elsa das Gefühl hatte, ihre Mutter schaue ihr direkt ins Herz und beschwor sie, sich in Acht zu nehmen.
„Er ist ein Ketzer“, zuckte Siegtraut mit den Achseln und legte ihren Umhang ab.
Das Nicken, das Katharina jetzt zeigte, war weder für die eine noch für die andere Tochter bestimmt. „Wir sind alle Ketzer“, sagte sie gedankenverloren. „Jeder von uns auf seine Weise. Wir legen, bequem und lasterhaft, wie wir sind, unsere Geschicke in Gottes Hände.“
„Meinst du den Hunger oder das Armenhaus?“, murrte Siegtraut.