Kitabı oku: «Elefanten-Freddy», sayfa 2
Gefangenentransport
Nach einer langen und qualvollen Fahrt aus Deutschland in die Schweiz musste ich circa zehn verschiedene Gefängnisse besuchen, eines davon für Minderjährige. Es war schrecklich, die Jugendlichen zu beobachten und daran zu denken, dass sie jemandes Kinder sind. Ich hatte das Glück, nicht allzu viel Zeit mit den kriminellen Kindern zu verbringen, nur eineinhalb Stunden – eine Fahrt mit Rauchpause. Aber es war mehr als genug, um lange Stunden des depressiven Nachdenkens über meinen Sohn auszulösen. Ich hatte nur eine einzige gute Erinnerung an das Gefängnis in Stuttgart-Stammheim, das als das Schlimmste gilt. Ich weiß aus dem Kriegstagebuch meines Großvaters, dass er dort Gefangener der Deutschen gewesen war. Durch ein Wunder schaffte er es, wegzulaufen. Es war übrigens ein echter Nazi gewesen, ein Einheimischer, der dort Aufseher war und dem mein Großvater Russisch beigebracht hatte, der ihm dann erstaunlicherweise bei der Flucht half.
Dieses Gefängnis am Stadtrand von Stuttgart wurde dadurch berühmt, dass dort in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in einer speziellen Abteilung die führenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) untergebracht waren. Später wurden sie eines Morgens in ihren Einzelzellen tot aufgefunden.
Ich saß in einem riesengroßen, nassen, von menschlichem Leid durchtränkten steinernen Tunnel, wo an einem spinnenfadendünnen Kabel eine gelbe Lampe hing, und spürte in meinem Inneren nichts als Scham für meine Taten.
Ich war auch in einem Zuchthaus in einem Ort namens Rohrbach. Der Aufenthalt dort war zwar kein Zuckerschlecken, aber es ging ruhig zu wie in einem Hotel. Alles sauber, weiß gestrichen, akkurat aufgeräumt. Das Essen wurde wie in einem Restaurant auf einem verchromten Tischchen auf Rädern gebracht, die Teller mit dem Essen hatten Deckel, und zwar keine einfachen, sondern schöne, glänzende wie in einem teuren Restaurant mit Michelin-Sternen.
Die Frauen, die dort einsitzen, haben ziemlich lange Haftstrafen. Ich war von einer Person erstaunt, die unbedingt schwanger werden wollte, um vorzeitig entlassen zu werden. Sie kam auf die Idee, einen Tampon an eine Schnur zu binden und an der Wand hinunterzulassen, damit ihr Freund, der unten am Zaun stand, sein frisches Sperma daraufschmieren konnte. Den präparierten Tampon wollte sie in ihre Scheide einführen, in der Hoffnung, ein Kind zu empfangen.
Es gab dort auch eine Schauspielerin, ein ganz dickes Fräulein. Leider war sie an Hepatitis C erkrankt. Die Insassinnen wollten mit ihr nicht einmal Karten spielen. Als sie noch auf freiem Fuß war, trank sie so ungehemmt, dass sie glaubte, in ihrer Badewanne eine Leiche liegen zu sehen. Ich hätte nie gedacht, dass Alkohol solche Reaktionen hervorrufen könnte. Im Untersuchungsgefängnis saß sie mehrere Monate in einer Einzelzelle, weil sie einen Verkäufer in einem Supermarkt verstümmelt hatte. Man erzählte, sie wäre in den Supermarkt gegangen, um etwas zum Trinken zu holen, hätte aber kein Geld dabeigehabt. Sie hätte eine Flasche italienischen Wein aus dem Regal genommen und angefangen, sie gleich vor Ort zu öffnen. Ein Supermarktmitarbeiter wäre schnell angelaufen gekommen und hätte versucht, ihr den Wein wegzunehmen. Im Endeffekt, erklärte sie mir stolz, hätte sie es noch geschafft, einen Schluck aus der Flasche zu trinken, bevor sie die Flasche kaputtgeschlagen und dem geizigen Verkäufer den abgebrochenen Flaschenhals in die Kehle gestoßen hätte.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und sagte einfach: „Sehr gut gemacht.“
Meine Gefängnisforschungen gingen weiter. Nachmittags ging ich nach draußen, um Sport zu machen. Ich fing an zu boxen; falls Sie das kennen, es gibt eine Sportart namens Kick Power. Das ist Boxen ohne Hilfsmitteln, mit Schlägen in die Luft und Beinübungen.
Wie immer bildeten die Insassinnen einen Kreis und turnten meine Übungen nach. Plötzlich liefen die Aufseherinnen zu uns und befahlen mir, mit der Kampfausbildung für die Häftlinge aufzuhören. Angeblich provozierte ich damit Aggressionen. Ruft jahrelanges Sitzen in den Zellen ohne Bewegung etwa keine Aggression hervor? Ich hielt es trotzdem für besser, nicht zu streiten. Ich war ja auf dem Transport und blieb nirgends lange. Wozu dann unnötige Probleme? Ohnehin hatte ich schon ausreichend Sachen angestellt.
Die Reise dauerte noch eine Weile und unterwegs lernte ich eine Russin kennen. Das Aussehen dieser Frau verriet vieles über ihr bisheriges Leben: schöne lange Beine, üppiger Busen, aber im einst dichten Haar waren kahle Stellen zu sehen. Noch vor Kurzem war Julia zweifellos ein hübsches Mädchen gewesen, war aber dann leider zur Alkoholikerin und Diebin geworden. Sie hatte fündundzwanzig Jahre in Deutschland gewohnt, ohne auch nur ein einziges Dokument zu haben, das ihre Persönlichkeit bestätigen könnte. Sie machte den Eindruck einer schönen Vagabundin, einer Bordsteinschwalbe.
Meine Aufmerksamkeit erregte eine Spur ihrer schöpferischen Kraft, eines wahnsinnigen, unentdeckten Talents, die an ihr noch zu erkennen war. Sie konnte sehr schön malen.
„Warum schenkt der liebe Gott den Dummköpfen, den Verrückten, die ihr Leben bloß verscheißen, geniale Talente, mit denen sie nicht vernünftig umgehen können? Für sie ist das eine unnütze Last, ein Rucksack, den sie schleppen müssen, eine banale Zugabe zu ihrem geschrumpften Gehirn. Zum Glück hat Gott ihr nicht auch noch Kinder gegeben“, dachte ich.
Mit seinem eigenen Leben kann der Mensch machen, was er will, aber er darf keine unerfüllbaren Verpflichtungen übernehmen und nicht Schicksale von Unschuldigen zerstören …
Noch ein Gefängnis blieb mir in Erinnerung, nämlich das in Ravensburg, schon fast an der Schweizer Grenze. Das war mein vorletzter Bestimmungsort. Da gibt es nicht viel zu erzählen, es war ein Paradies auf Erden. Bei mir zu Hause ist es nicht so gemütlich wie dort. Alles war neu, die Zellen offen, die Küche riesig, man konnte Kuchen backen und auch sonst machen, was man wollte. Es gab ein Fitnessstudio mit allerlei Geräten, ein Raucherzimmer, einen Filmraum und eine Bibliothek. Ich bekam für eine Nacht einen neuen Pyjama und weiche Hausschuhe wie in einem Hotel. Die Gitter an den Fenstern waren einfach dicke Eisenstäbe ohne Querstangen. Solche Gitter sind in vielen Wohnhäusern, meistens im Keller oder Erdgeschoss zu sehen und sollen gegen Einbruch helfen. Das Gebüsch im Park ist gestutzt, man kann draußen spazieren gehen und Sport treiben. Die Aufseher sitzen zusammen mit den Häftlingen in der Küche, plaudern, helfen beim Kuchen backen und weisen dabei einen an Fanatismus grenzenden Eifer auf. Bis heute kann ich es kaum glauben. In meiner Seele war es so warm und gemütlich, dass mir ein unvorstellbarer Gedanke in den Sinn kam: „Ich will hierbleiben.“
Ich kam nach Ravensburg direkt aus Stammheim mit seinem unterirdischen Tunnel und den kahlköpfigen, zahnlosen Insassinnen, die monatelang kein Sonnenlicht sahen. Bei diesem Kontrast schien es mir, als wäre ich in einer anderen Dimension gelandet. Als wäre ich aus der Hölle des Mittelalters, wo man Prostituierte und Kosmonauten auf dem Scheiterhaufen verbrannte, direkt ins Tesla-Zeitalter gekommen. Früher dachte ich, dass es keine Zeitmaschinen gibt. Aber ich hatte mich leider geirrt …
Deutschland ist heiter und so vielfältig, dass ich manchmal nicht glaube, dass all die Städte, durch deren Gefängnisse – nicht durch die Hotels wie eine normale Touristin – ich meine extravagante Rundreise gemacht habe, in ein und demselben Staat liegen.
Grüezi, Schweiz!
Fast ein Monat ist vergangen, ich bin endlich fast zu Hause in der Schweiz und sitze ganz allein in einer Zelle mit vier Betten. Um genau zu sein, sind es zwei Betten, aber sie sind zweistöckig wie im Ferienlager. Davor habe ich fünf Tage in einer Einzelzelle verbracht. Das war brutal. Ich bekam Besuch von einem Pfarrer, der mich zu Tode erschreckte, als er die Dokumente der Staatsanwaltschaft einsah und mir mit einem Lächeln und in aller Form erklärte, dass mir, wenn ich nicht alle ausliefere, nicht die Namen der Teilnehmer und Organisatoren der illegalen Autorennen nenne, fünf Jahre strenger Haft in der Schweiz blühen. Anscheinend hatte die Staatsanwältin, diese fetten Sau, mir den Alten geschickt, damit er mir die Informationen entlocken sollte. Aber mir waren ihre taktischen Spiele schnurzegal, ich dachte an mein Buch, schrieb tagelang mit einem stumpfen Bleistift und legte mich schlafen, ohne die Jacke auszuziehen. Während des Verhörs bei der Staatsanwältin verübte ich einen kleinen Diebstahl: Ich klaute ihr einen Kugelschreiber, darum sieht mein Manuskript, falls Sie es zu sehen bekommen, wie ein Zebra aus. Die eine Hälfte der Seite ist mit Kugelschreiber, die andere Hälfte mit einfachem grauem Bleistift geschrieben. Wenn die Aufseher in die Zelle guckten, versteckte ich den Kugelschreiber in meinem Hosengummi und schrieb mit dem Bleistift. Allerdings ging die Tinte im Kugelschreiber bald aus, ich hätte lieber gleich zwei klauen sollen. Zur Erinnerung blieb mir nur ein Loch, oder genauer gesagt eine Delle im Finger vom Bleistift. Und natürlich mein erster Kriminalroman „Die Gaunerinnen“ auf den durchgehend beschriebenen Blättern. Das Manuskript kommt mir seltsam vor. Als wäre es im Krieg oder gleich danach geschrieben, wo es an Papier, Tinte und Farbstiften mangelte. Mit der Zeit wurde mir erlaubt, einen Kugelschreiber und sogar mehrere zu haben. Auch meine Bitte, Papier in einem Schreibwarengeschäft zu bestellen sowie die nötigen Bücher zum Lesen zu beschaffen, wurde erfüllt. Aber wissen Sie, was ich bemerkt habe? Als ich alles Notwendige für die Arbeit an meinem Roman erhielt, verging mir die Lust am Schreiben. Immerhin zwingen der Mangel an Details, der Stress und die Verzweiflung einen zur Bewegung. Ein gewisser Eifer kommt gerade unter Bedingungen auf, die einem fremd sind. Für eine Idee ist man mitunter bereit, irrsinnige Dinge zu tun. Einschränkung und Einsamkeit führen zum Erfolg!
Silvester 2017 feierte ich in der Zelle, und ich muss zugeben, ich war völlig deprimiert. Wissen Sie, wie enttäuschend und ärgerlich es war, das Knallen des Feuerwerks vor dem Fenster zu hören? Mir ein Geschenk unter dem künstlichen Weihnachtsbaum vorzustellen? Da die Schweizer gegen sinnlose Abholzung sind, wird gewöhnlich ein unechter Weihnachtsbaum aufgestellt. Es fällt mir schwer, die Frage zu beantworten, was mir mein Sohn und mein geliebter Ehemann geschenkt hätten.
Mir kamen fiese Gedanken in den Sinn, bei denen ich mich am liebsten erhängt hätte. Ich stellte mir vor, wie mein Kind sein Geschenk wieder unter den Weihnachtsbaum legte und den schweizerischen Weihnachtsmann bat, dass dieser seine Mutter zurück nach Hause bringen sollte. In diesem Augenblick wurde mir klar, wie glücklich ich in der Freiheit war, auch dann, wenn ich mich mitunter für das unglücklichste Wesen auf der ganzen Welt hielt.
Die Tür öffnete sich und eine kleine, brünette junge Frau kam herein. Sie hatte eine atemberaubend schöne Figur in Form einer Vase und schrecklich aussehende, verlängerte rote Fingernägel. Ihr glänzendes Haar wehte über einem im Vergleich zum Haar matt erscheinenden fliederfarbenen Kleid. Sie war eine wahre Schönheit. Mädchen, die so aussehen, können in Russland mit Millionären oder mit einfachen Straßenjungs zusammen sein. Viele rohe Burschen haben bildhübsche Freundinnen, die eine wahre Augenweide sind.
Ich saß am Tisch und trank Tee. Mit einem Plastikmesser schnitt ich mir ein Stück Schweizer Käse ab. Das Mädchen kam schweigend zum Tisch, als ob sie mich ignorieren wollte. Sie setzte sich, zündete eine Zigarette an und pustete den Rauch in meinen Käse. Wie mich das ankotzte! Ich rauchte ja fast nie in der Zelle, lüftete oft, meditierte und machte Yoga auf dem Fußboden. Und da kommt irgendeine Nutte, wenn auch eine sehr schöne, und pustet mir stinkigen Rauch direkt ins Gesicht! Das war ein Skandal!
„Dreh dich bitte um!“
„Was?“
„Ich sagte, dass das Fenster hinter dir ist. Paff bitte in diese Richtung!“
„Okay, Entschuldigung.“
Mir wurde ein bisschen mulmig. Ich hatte doch gerade einen möglichen Skandal angedeutet, sie aber antwortete mir mit einer Entschuldigung. „Möchtest du ein Stück Käse?“, fragte ich versöhlich.
„Nein, danke.“
„Das ist merkwürdig“, dachte ich. Sie hatte eine Woche in der Einzelzelle verbracht und keinen Hunger. Aber dort wird man doch nicht mit leckerem Essen verwöhnt. In der Einzelzelle gab es nichts, nur ein gemauertes Bett mit einer dünnen Decke. Das Fenster ist ganz oben, wenn man hinausschauen will, muss man sich auf einen steinernen, an die Wand zementierten Tisch stellen. Und es gab noch nicht einmal etwas zu sehen. Es war einfach ein Loch. Ein Verlies. Dort war in mir der wilde Wunsch, zu schreiben, entstanden. Ausgerechnet dort, wo es weder Papier noch Kugelschreiber gab. Darum musste ich einen Kugelschreiber klauen und von den Aufsehern die dringend gebrauchten weißen Blätter erbetteln. Ich bat jeden abgelösten und antretenden Aufseher um Papier. Mein Manuskript versteckte ich unter der dünnen Matratze des steinernen Bettes. „Ich heiße Jana.“
„Mein Name ist Roxi.“
„Wofür sitzt du ein, Roxi?“
„Für Liebe.“
„Das lohnt sich, ich glaube dir.“
„Ihr Russen verspottet uns eben gern, nicht wahr?“
„Du hast gut reden! Euch Erben von Dracula habe ich in meinem ersten Krimi ausgiebig beschrieben! Ihr hasst Russinnen.“
„Genau wie ihr die Rumäninnen!“
„Gut, lass uns Freundinnen sein, oder? Ehrlich gesagt, vor dem Knast kannte ich keine einzige Rumänin.“
„Sitzt du schon lange?“
„Nein. Ich bin zu Silvester gekommen, ich wollte in der Schweiz feiern. Von Deutschland hatte ich die Nase voll.“
„Soll das ein Witz sein?“
„Ja.“
„Warst du hier an Silvester?“
„Ja, und zwar allein. Anscheinend hatte die Polizei niemanden festgenommen, der mir am Silvester Gesellschaft leisten könnte. Der Knast war menschenleer.“
„Und wie war es so in Deutschland? Ich habe dort gearbeitet, aber nicht im Knast gesessen. So weit bin ich nicht gekommen.“
„Dort in den Gefängnissen ist es lustiger als hier. Wenigstens kann man dort Leute treffen, die für etwas Ernsthaftes sitzen. Zum Beispiel in Koblenz habe ich ein Mädchen namens Barbara kennengelernt. Sie hat zwei Jahre und neun Monate für schweren Betrug aufgebrummt bekommen. Sie hat Geldwäsche über verschiedene Banken betrieben. Drei Millionen Euro verdient, ein Haus auf Mallorca gekauft und Golf gespielt. Im Prinzip muss sie in einem Jahr vorzeitig entlassen werden. Sie hat einen prima Anwalt. Weißt du, wie ihr Gehirn arbeitet? Zeig ihr beim Poker zwanzig, dreißig Karten. Zwei Sekunden reichen ihr, dann hat sie alle deine Punkte gezählt. Ich habe sie ein paarmal getestet, die Karten nachgezählt und alles hat gestimmt. Kannst du dir das vorstellen?“
„Für das Geld, das sie eingerafft hat, würde ich auch gerne ein Jahr absitzen. Hahaha!“
„Und es waren noch mehre von ihrer Sorte dort im Knast. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht. Ich würde sie gern später mal in Mallorca besuchen, um mir anzuschauen, für was sie gesessen hat. Aber hier in der Schweiz sitzen nur Psychos, Nutten, kleine Diebe und Junkies. Es gibt keine Menschen, die ordentliche, bemerkenswerte Verbrechen begangen haben.“
In diesem Moment kam ein Aufseher in die Zelle und winkte mir, dass ich zur Arbeit gehen sollte. Roxi sah mich misstrauisch an und ihre Schlangenaugen funkelten, sodass mir mulmig wurde. In der ersten Woche nähten wir Bauarbeiterhandschuhe. Während der Arbeit lernte ich viele Taschendiebinnen, Gaunerinnen und natürlich Prostituierte kennen. Viel Neues und Lehrreiches erfuhr ich von den Mädels. Zum Beispiel, dass die Zigeunerinnen ständig stehlen und im Knast sitzen. Wenn sie schwanger sind, stehlen sie lieber in Italien, denn das italienische Gesetz verbietet es, schwangere Frauen ins Gefängnis zu stecken. Eine von ihnen war deshalb interessant, weil sie eine echte Professionelle und gleichzeitig drogenabhängig war. Ihre Droge war das Stehlen. Ihr Mann, ein ehrlicher Bürger, der ihre drei gemeinsamen Kinder erzog, schrieb ihr Briefe ins Zuchthaus, in denen er die Ehefrau anflehte, nie mehr von zu Hause wegzulaufen und nicht mehr zu stehlen. Aber Gina sagte, es sei stärker als sie selbst, und nicht einmal ihre eigenen Kinder könnten ihr Verlangen nach Diebstahl nachvollziehen. Wenn sie nicht stahl, wurde sie krank, und zwar schwer und ernsthaft. Sie bekam Migräne, Entzugserscheinungen, verlor alle Kraft und war heftig missgestimmt. In einem solchen Augenblick flippte sie aus, lief von zu Hause weg und flog quer durch Europa. Was ich in ihren Unterlagen von der Staatsanwaltschaft zu lesen bekam, erschütterte mich. Innerhalb von zwei Wochen beging sie 36 Diebstähle an Geldautomaten. Sie hob Geld von Bank- und Kreditkarten ab und hatte unzählige Louis-Vuitton-Taschen. In einer Stunde Arbeit an einem Flughafen konnte sie Waren für 20.000 Dollar klauen. Seit ihrer Kindheit schob sie immer wieder Knast. Begonnen hatte sie mit einer Jugendstrafe. Ihr Mann sagte, dass er sie liebte und auf sie warten würde. Dabei war der Kerl sieben Jahre jünger als die Zigeunerin selbst.
Ich hörte zu und speicherte alles in meinem Kopf; so verging die Arbeitszeit schneller.
Als ich in die Zelle zurückkam, sah ich, dass Roxi auf meinem Bett saß und wartete.
„Na, hast du den Bullen alles über mich erzählt? Erheben sie die Anklage gegen mich jetzt so richtig im großen Stil, ja?“
„Was meinst du?“
„Warum warst du so lange weg?“
„Ich habe Handschuhe genäht und mich mit Gina unterhalten. Sie hat mir coole Geschichten erzählt, willst du sie hören?“
„Echt?“
„Natürlich, du kleines Dummchen!“
„Man munkelt, du wärst eine Mörderin, Jana. Ist das wahr?“
„Wer hat das gesagt?“
„Die dicke Brasilianerin. Ihr Fenster ist da gegenüber, siehst du?“
„Ach, die. Na ja, ich muss sie mir doch alle irgendwie vom Leib halten. Die sind ja wie wilde Affen. Wie du siehst, kann man durch Abschreckung die eigenen Überlebenschancen erhöhen, nicht wahr?“
„Das hast du also nur erzählt, damit sie Angst vor dir kriegen? Hahaha! Du bist erfinderisch! Und wofür bist du wirklich hier?“
„Für illegale Autorennen. Hier sind meine Unterlagen, lies sie.“
„Tja, wie ich sehe, hast du da gute fünf Jahre Freiheitsentzug vor dir.“
„Ich hoffe, ich werde freigesprochen. Ich bin ja unschuldig.“
„Die Unschuld ist ein Knastparadoxon. Was schreibst du?“, fragte Roxana mit einem Blick zum Papierstapel auf dem Tisch.
„Ein Buch.“
„Ach ja, genau, du hast so was erwähnt. Schreib über mich, über mein vielseitiges, lehrreiches Leben, deklariere das Buch als ‚ab 18‘ und sag dazu, dass es ein lehrreiches Buch sei, dessen Sinn in einem kurzen Satz besteht, und zwar: ‚So was darf man nicht tun.‘“
„Du hast gesagt, dass du wegen der Liebe brummen musst?“
„Ja, und überhaupt bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Penis eine Massenvernichtungswaffe ist!“
„Wohl wahr, aber diese Waffe hat öfter mal Ladehemmungen.“
Wir lachten. Die Antipathie zwischen uns zerfiel zu Staub und wir lächelten einander aufrichtig zu.
„Da hast du meine Akte, lies sie dir durch.“
„Okay, gib her, ich lese sie. Aber schreiben über dich kann ich erst dann, wenn ich mein erstes Buch fertig habe.“
„Wie lange musst du noch daran schreiben?“
„In ein paar Tagen bin ich fertig. Später, zu Hause, tippe ich den Text auf dem Computer ab.“
„Zu Hause? In fünf Jahren? Ich lese da über deine Abenteuer und kann nur eins sagen, Jana, du bist echt geil!“
„Hast du Handcreme? Meine Haut ist ganz trocken geworden.“
„Ja, du kannst sie dir aus meinem Spind holen.“
„Oho! Du hast aber viel Shampoo da! Und sogar ein Duschbad.“
„Hahaha! Mein anständiger Ehemann hat mir das gebracht. Anscheinend kann er sich kein reales Bild davon machen, wo sich seine geliebte Frau gerade aufhält. Und wie cool es ist, sich in einem Zuber waschen zu müssen, der unter dem Waschbecken steht, indem man einen Fuß gegen den Spülkasten stemmt und die französische Duschmilch mit ihrem unnachahmlichen Aroma ins Wasser gießt.“
„Witzig.“
„Ich finde das nicht besonders witzig.“
„Was macht dein Mann, Jana?“
„Er ist ein intelligenter Mann, Direktor bei einer großen Züricher Firma.“
„Praktiziert er die scheinheilige Religion des Geldes?“
„Was meinst du?“
„Ich meine, dass die einfachen Leute nicht verstehen können, wofür man manchen Leuten 20.000 Franken Monatsgehalt zahlt! Was muss man dafür tun? Einen Vertrag mit dem lieben Gott unterschreiben?“
„Du hast nicht ganz unrecht. Aber ich bin der Meinung, dass man dafür auch ein bisschen mehr wissen muss als die anderen, nicht wahr?“
„So ist eben die Schweiz.“
„Aber die Prostituierten verdienen hier auch sehr gut. Sogar mehr als manche Direktoren.“
„Ich habe bestimmt alle übertroffen! Ich bin eigentlich spitze!“, sagte Roxi mit funkelnden Augen. Das erweckte natürlich mein krankhaftes schriftstellerisches Interesse.
„Ich schreibe deine Geschichte in ein paar Tagen. Du hast mich neugierig gemacht. Ich habe so eine Sehnsucht nach zu Hause, Roxi. Wo ist mein Mann jetzt? Vielleicht spielt er Golf, raucht eine dicke Zigarre und überlegt sich gelangweilt, womit er sein Frauchen im Knast noch verwöhnen könnte. Ich glaube, das nächstes Mal schleppt er eine Weinkaraffe an.“
„Hahaha! Klasse! Du hast Glück. Apropos, deine Klamottenkiste riecht nach Männerparfüm.“
„Ab und zu schenkt mir mein Mann Sachen, die er mit seinem Lieblingsparfüm beträufelt. Er hat mir sogar seinen Kaschmirschal gebracht und erklärt, dass wir nun in unserer Familie einen eigenen Feiertag haben, den fünften Januar, an dem wir ein Fest der Zärtlichkeit feiern. Alle Familienmitglieder sollen einander Schals schenken, die jeweils mit dem persönlichen Parfüm eingesprüht sind. Sie sollen nicht nur die Hälse, sondern auch die Herzen der einander liebenden Menschen erwärmen. Ich habe ihm also einen Schal zu präsentieren, nachdem ich freigelassen bin. So hat er mich mit Schulden beladen.“
„Was für ein Prachtkerl! Ein Romantiker!“
„Ja, ich habe echt Glück mit meiner Familie.“
„Du bist also aus dem fürstlichen Palast direkt mitten in der Welt der gemeinen Leute gelandet.“
„Zum Unglück oder Glück musste ich die Welt der obdachlosen Huren, der Heroinabhängigen und Kinderschänder kennenlernen. Das ist nicht mein Leben, das ist die wahre Hölle für mich. Vielleicht bin ich naiv, aber was ich gesehen habe, hat mich tief beeindruckt und eindeutig unvergessliche Spuren in meiner Seele hinterlassen.“
„Die Hölle ist es, wenn dein Liebster dir nicht einmal eine Schachtel Zigaretten bringt.“
„Männer, die ihre Frauen lieben, bringen ihnen keine Zigaretten, sondern achten auf ihre Gesundheit. Das liegt an dem Gewerbe, in dem du tätig bist, Liebes! Er hat keinen Respekt vor dir.“
„Ach, laber keinen Unsinn! Es gibt jede Menge Männer, die Prostituierte heiraten!“
„Das streite ich ja gar nicht ab. Es bedeutet bloß, dass dein Lieblingsmann ein Arschloch ist.“
„Ich bin Prostituierte, aber während des letzten Jahres habe ich mit keinem Mann Sex gehabt. Kannst du das glauben?“
„Warum das denn? Hast du denn nicht gearbeitet?“
„Ein Jahr lang nicht. Ein paar Monate vor der Verhaftung habe ich noch gearbeitet, aber ich bin schlau genug gewesen, mich nicht mit ihm zu treffen. Davor war ich zu Hause bei meiner Mutter. Habe Beruhigungsmittel eingenommen. Ich liebe ihn so, dass es mich bis jetzt mit anderen Männern ankotzt. Weißt du, es ist mir sogar egal, dass ich im Gefängnis bin. Kannst du dir das vorstellen? Die letzte Zeit habe ich so gut wie nicht gelebt, konnte nicht einmal durchatmen.“
„Es ist eine Sünde, sich seines Lebens nicht zu freuen! Bist du aus Rumänien zu ihm gekommen?“
„Nein. Oder vielleicht doch. Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich mich manchmal selbst betrüge.“
„Aber mach dir lieber keine vorschnellen Hoffnungen auf mich. Ich sage dir Bescheid, wenn ich so weit bin. Ich will zuerst alles von Anfang bis Ende ausführlich von dir hören.“
„Wie du willst. Ich muss mich übrigens auch in meiner neuen Rolle als Strafgefangene zurechtfinden und den Gehorsam und das andere Denken einüben …“
Der nächste Tag war ein wahrer Albtraum! Als ich zum Spaziergang die Treppe hinunterstieg, traf ich zum ersten Mal in meinem Leben eine echte Mörderin von Angesicht zu Angesicht.
Es war eine Frau im Alter von 27 Jahren, aber nach unserem russischen Maßstab sah sie eher aus, als ob sie ganze 38 Jahre alt wäre. Ihr und ihrem Mann fielen zwei junge Burschen zum Opfer, der eine war 25, der andere 27 Jahre alt. Die Ursache des Konfliktes war Geld, die beiden hatten ihr Leben wegen mickrigen 50.000 Franken verloren. Diese gebürtige Schweizerin mit dem Blick einer Klapperschlange versetzte mich in eine Art Schock. Ich versteckte sofort meine Uhr mit Brillanten im Wert von 20.000 Franken unter dem Ärmel. Das war praktisch die Summe, wegen der einer der jungen Männer getötet wurde.
Beim Spaziergang in der „netten“ Gesellschaft von Mörderinnen und Drogenhändlerinnen erfuhr ich, dass die Hälfte der Frauen, die wegen des Verkaufs von verbotenen Substanzen zu Freiheitsstrafen verurteilt waren, im Auftrag von Polizisten gehandelt hätten, die sie grundsätzlich Bullen nannten.
Die Ordnungshüter suchen gezielt die Idioten aus, die mehrmals für ein bestimmtes Verbrechen zur Verantwortung gezogen wurden. Das können ehemalige Zuchthausinsassen oder einfach verrückte Drogensüchtige sein, die bereit waren, den Stoff zu verkaufen, den die Polizisten zuvor bei Durchsuchungen von anderen Drogendealern beschlagnahmt hatten. Im Endeffekt brachten die Bullen mit ihren korrupten Händen ihre eigenen Dealer hinter Gitter. Die armen Hunde behaupten beim Verhör, für die Bullen gearbeitet zu haben, aber natürlich glaubt ihnen das keiner und ihre Freiheitsstrafe wird wegen Verleumdung noch aufgestockt. Das ist ein ewiger Kreislauf, kurz gesagt. Es hat mich wirklich überrascht, dass Korruption in der Schweiz so verbreitet ist. Aber es ist unmöglich, das nicht zu glauben, wenn einem davon nicht einer, sondern mehrere Menschen am Tag erzählen. Dabei haben diese Menschen miteinander nichts zu tun. Sie sind weder Freunde noch Bekannte. Sie sitzen in verschiedenen Zellen auf verschiedenen Stockwerken. Eine Prostituierte behauptete sogar, sie hätte mit mehreren Polizisten geschlafen, die in Geschäfte mit Kokain unmittelbar verwickelt waren. Sie erzählte davon in beschwipstem Zustand und hatte keine Angst, verraten zu werden. Einmal hätte sie einen von ihnen gefragt, was passieren würde, wenn er denunziert und überführt würde. Darauf hätte er ihr so ungehemmt ins Gesicht gelacht, dass ihr kleine Tropfen seines stinkenden Speichels gemischt mit Whiskey an die Stirn geflogen wären.
Nach dem Spaziergang kam ich in die Zelle zurück. Natürlich waren meine Zigaretten und der Käse, die auf dem Tisch gelegen hatten, gestohlen. Unglaublich waren sie, diese Leute. Es hat mich im Gefängnis immer überrascht, wie frech und schnell man Zigaretten mausen und gleich abhauen kann. Die kleinen Diebe, die sich für das Salz des Knastes, für angeblich weltkluge und abgeklärte Veteranen hielten, waren ohne eine ordentliche Tracht Prügel nicht der Lüge zu überführen.
Nachdem die Zellentür abgeschlossen war, warteten alle ruhig auf das Abendbrot. Roxi und ich legten Karten. Es stellte sich heraus, dass sie eine ausgezeichnete Wahrsagerin war. Sie prophezeite mir, dass ich die verrauchten Gefängniswände bald verlassen würde. In diesem Augenblick dachte ich ernsthaft nach, die Geschichte ihres Lebens aufzuschreiben. Kaum wollte ich darüber sprechen, öffnete sich die Tür und eine junge Frau wurde in die Zelle geführt.
„Ist das hier stockdunkel! Mein Gott!“
Sie war ganz mit kleinen, fadendünnen Ritzwunden bedeckt, ihre Ohren waren zerkratzt, ein Haarbüschel ware fast mit einem Stück Haut abgerissen.
„Hallo!“, wagte ich, sie anzusprechen.
„Gebt mir eine Zigarette!“
„Stell dich wenigstens vor, du Schnalle!“
„Ich heiße Cindy! Ist das hier echt eine stinkende Gefängniszelle? Oder bin ich in einem Intellektuellenzirkel gelandet?“
„Da hast du eine Zigarette. Erzähl, was passiert ist.“
„Sie werfen mir elf Diebstähle vor.“
„Die sollen erst mal alle elf beweisen.“
„Meine Schwester und ich werden ganz sicher identifiziert. Wir haben uns als Sozialarbeiterinnen von der Spitex getarnt in Häuser geschlichen und Geld und Gold geklaut.“
„Spitex? Was ist das?“
„Das ist so etwas wie das Rot Kreuz. Sie machen Hausputz und Einkäufe für Behinderte und Rentner.“
„Klar, und was war weiter? Wie haben sie euch erwischt?“
„Wir sind gar nicht beim Klauen erwischt worden. Meine Schwester hatte Zoff mit ihrem Freund, einem Syrer, und hat ihm die Kette vom Hals gerissen, die sie ihm selbst geschenkt hatte. Da hat er sie bei der Polizei angezeigt. Er konnte den Verlust seines ach so teuren Schmuckstücks nicht verkraften. Diese Kette aus reinem Platin haben wir halt auch in einem der von uns besuchten Häusern gestohlen.“
„War dieser Syrer auch ein Dieb? Hat er sich an euren Diebstählen beteiligt?“
„Nein, nein. Er ist ein anständiger Kerl. Er war auf der Nationalen Verwaltungsschule. Jetzt ist er Versicherungsberater, Fachmann für Arabisch und Farsi.“
„Nicht schlimm! Es stimmt schon, was man sagt: ‚Gute Jungs verlieben sich in schlimme Luder.‘“
„Genau, in schlimme kleine Luder!“
„Das Wort klein passt ja wohl überhaupt nicht! Sie ist ein ganz ausgewachsenes Luder, dieses Miststück!“, explodierte ich.
Ich stellte mir vor, wie eine solche Ratte sich in das Haus meiner Großmutter schleichen und alles bis auf den letzten Pfennig klauen würde; so etwas kann bei einem alten Menschen zum Herzinfarkt mit tödlichem Ausgang führen. Sie sind ja wie kleine Kinder. Im hohen Alter hat man Angst vor allem. Und sie selbst ist eine gesunde junge Stute! Ich wäre nicht überrascht, wenn sie dabei noch Sozialhilfeempfängerin wäre. Hätte eine Sozialwohnung und bekäme über tausend Franken im Monat für Lebensmittel vom Staat, finanziert aus den Steuern, die ich für sie bezahle. Ist das nicht fies? Sie hat es gut, diese Schlampe!