Kitabı oku: «Mit dem Mut einer Frau», sayfa 5
Jürgen erinnert seinen Vater daran, dass die jüdischen Händler die Bauern wenigstens mit Geld bezahlt hätten, wovon es in Kieckow wahrhaftig äußerst wenig gab. Außerdem, fährt Jürgen voller Zuversicht fort, werden die expandierende Eisenbahn und die neuen landwirtschaftlichen Methoden die fahrenden Händler und Musikanten bald vertreiben. Für Neinsager und noch mehr für Demagogen hat er nichts übrig. Was Jürgen dabei übersieht, ist, dass Ideen nur langsam sterben und die Menschen glauben, sich nicht erinnern zu können, aber auch nicht bereit sind, zu vergeben und zu vergessen. 30 Jahre nach Vaters Verwicklung in Adolf Stoeckers idealistischen Feldzug wird ein Mann namens Adolf Hitler Stoeckers Thesen überarbeiten, alle christlichen Elemente daraus verwerfen und die antijüdischen Aspekte weiterentwickeln. Hitlers Thesen werden in ein Buch mit dem Titel »Mein Kampf« eingehen. Nur wenige Deutsche werden dieses Buch lesen, einige dieser wenigen aber werden von der idealisierten Darstellung der Nation und des Volkes begeistert sein. Sie werden vielleicht sogar Entschuldigungen für die unvertretbaren und widersinnigen rassistischen Thesen finden, ähnlich wie Vater Kleist damals mit Stoeckers Ideen verfahren war.
Unter den wenigen, die »Mein Kampf« gelesen haben, wird es aber auch Einzelne geben, die erkannt haben, wie ernst es Adolf Hitler mit seinen rassistischen, gegen die Juden oder die Slawen gerichteten Theorien meint. Dazu werden zwei Kleists aus Pommern gehören, der eine aus Kieckow und der andere aus Schmenzin. Sie werden ihre Warnung schriftlich in einem Traktat niederlegen, das keine Beachtung finden wird. Dessen ungeachtet werden die Deutschen 60 Jahre später, 100 Jahre nach Stoeckers Umtrieben, einander zuflüstern: »Ja, die Kleists aus Pommern, die sind schon seit Jahrhunderten Antisemiten.«
1888, März. Ruth erwartet ihr zweites Kind, aber dennoch befindet sie sich mit Jürgen auf Händen und Knien im Garten gegenüber der Färberei von Belgard. Die beiden pflanzen zusammen die Fliederbüsche, die sie aus Kieckow mitgebracht haben, und der kleine Hans Jürgen sieht ihnen dabei zu.
Graf Robert von Zedlitz und Trützschler steht bloßen Hauptes vor der Garnisonskirche in Potsdam. Vor seinen Augen wird der Sarg Kaiser Wilhelms I. von einem bespannten Leichenwagen heruntergehoben. Die Leibgarde des Königs salutiert vor dem Sarg. Robert ist begeistert von den präzisen Bewegungen der Leibgarde und erinnert sich an die Zeit, als er selbst Leibgardist war. Fast reflexartig salutiert auch er. Wie hat sich die Welt doch verändert in all den Jahren.
In seiner Nähe steht auch Hans Hugo von Kleist, ebenfalls in Gedanken versunken, während er den Weg des Sarges und das Salutieren für den verstorbenen Kaiser beobachtet. Der heutige Tag ist ein Tag der Trauer für Vater Kleist. Kalt bläst der Wind; der neue Kaiser Friedrich III., wie er sich entgegen der preußischen Tradition nennt, ist todkrank; Otto von Bismarck wirft nicht einen Blick in Richtung seines »Onkels Hans«.
Juni. Schon wieder stehen Graf Robert von Zedlitz und Trützschler und Hans Hugo von Kleist bloßen Hauptes nebeneinander vor der Garnisonskirche. Diesmal wird der Sarg Friedrichs III. in die Familiengruft der Hohenzollern getragen. Er, der bei Amtsantritt bereits schwer an Krebs erkrankt war, konnte sein Amt nur 99 Tage ausüben. Die königliche Leibgarde salutiert vor dem Sarg und wendet sich dann, um dem neuen König und Kaiser, Friedrichs Sohn Wilhelm II., zu salutieren.
Die Taufschale
1888, Juli. An einem sonnigen, warmen Nachmittag wird die erste Tochter von Ruth und Jürgen von Kleist geboren. Sie erhält den Namen Spes, lateinisch für »Hoffnung«. Am nächsten Morgen bereits verlässt Ruth das Bett und geht mit der kleinen Tochter auf den Balkon ihrer Wohnung in Belgard, um den Garten auf der anderen Straßenseite zu bewundern, der im Frühjahr mit so viel Liebe angepflanzt wurde.
Eine Woche später versammeln sich die Familien von Ruth und Jürgen zur zweiten Taufe in Belgard, dieses Mal in der mittelalterlichen Marienkirche, der sich Ruth mittlerweile tief verbunden fühlt. Das Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert mit dem hohen, spitz zulaufenden Mittelschiff gilt als das herausragende Kunstwerk Pommerns. Wieder hat Vater Kleist die Taufschale aus Kieckow mitgebracht, die jetzt auf dem Taufstein unterhalb des berühmten Altars aus dem 17. Jahrhundert steht. Die Blumen, die um die Taufschale gelegt sind und in zwei Vasen den Altar schmücken, hat Ruth selbst im Garten am anderen Ufer des Flusses gepflückt.
Blumen haben in ihrem Leben immer eine wichtige Rolle gespielt. Im Alltag gehen selbst die langweiligsten Arbeiten leichter von der Hand, wenn man sich an Blumen erfreuen kann; bei festlichen Anlässen, wie zum Beispiel zu dieser Taufe, bringen Blumen einen Zauber über die ohnehin empfundene Freude; später wird Ruth erfahren, dass Blumen aus ihrem Garten sie trösten und in Zeiten tiefster Traurigkeit und Verzweiflung ihre Leiden lindern können.
In Form einer kleinen Prozession kehrt die Familie aus der Kirche in die Wohnung zurück, wo das Festessen stattfinden wird. Der Festsaal befindet sich oberhalb des engen, unordentlichen Innenhofes und ist nur über eine dunkle Steintreppe zu erreichen. Die junge Mutter und ihre Dienstboten müssen ständig gegen Mäuse in den Schränken des Esszimmers ankämpfen, aber es wäre undenkbar, eine Feier wie diese nicht zu veranstalten. In der preußischen Aristokratie dient ein solches Essen der Aufrechterhaltung der Tradition einer Gesellschaftsklasse, wenn nicht gar der ganzen Nation. Zumindest sind die Eltern und Großeltern des Kindes dieser Meinung und sie glauben, das Kind werde ebenfalls eines Tages ihre Ansicht über den Lauf der Welt teilen. Spes jedoch wird später vieles in Frage stellen, dagegen rebellieren und schließlich einen anderen Weg einschlagen.
Am Ende des Tages kehrt Vater Kleist in seiner Kutsche nach Kieckow zurück, um die Taufschale wieder an ihren Ehrenplatz zu bringen. Er ist müde; er macht sich Sorgen über die Sozialisten und die polnischen Nationalisten, über geschäftliche Dinge – alles Vorboten zukünftiger Veränderungen in Pommern. Der Pachtvertrag für Kieckow wird in acht Jahren auslaufen, Hans Hugo spürt jedoch, er wird diesen Termin nicht mehr erleben. Sein größter Wunsch ist, dass Ruth und Jürgen das Gut übernehmen, wie er es in seinem Testament auch verfügt hat.
In der Zwischenzeit erfreuen sich die jungen Eltern an ihrem kleinen Sohn und der neugeborenen Tochter. Auch nehmen sie in zunehmendem Maße am gesellschaftlichen Leben Belgards teil. Sie haben einen Freundeskreis gewonnen, dessen Verbindungen mehrere Generationen zurückreichen, unter anderem auch zu Familien, die ursprünglich gegen einen weiteren Kleist aus Kieckow als Landrat des Kreises opponiert hatten. Doch im Unterbewusstsein von Ruth ist stets der Gedanke vorhanden, eines Tages Herrin von Kieckow zu werden. Das beflügelt ihre Fantasie und gibt ihr Hoffnung für die Zukunft.
1889. Der Landrat von Belgard hat dem Kreistag vorgeschlagen, eine offizielle Residenz zu schaffen, in der es nicht nur angemessene Wohnräume für seine Familie gibt, sondern auch Büros und repräsentative Empfangsräume, über die ein Landrat verfügen sollte. Jürgen hegt offenbar Erinnerungen an die elegante Residenz des Regierungspräsidenten in Oppeln, wo er seine Braut umworben und später geheiratet hat. Freilich stößt sein Vorschlag auf einige Bedenken, da eine Residenz eine Menge Geld kosten wird und der chronische Geldmangel in Pommern nicht nur auf Grundbesitzer und Bauern beschränkt ist.
Von einigen Seiten wird Jürgens Vorschlag verspottet, aber dennoch stimmt der Rat schließlich zu. Bald erwirbt der Kreis ein stattliches Gebäude an der Kreuzung des Belgarder Boulevards mit der ebenso schönen Luisenstraße. Hinter dem Haus liegt eine Wiese brach, die der Kreis gleich dazukauft. Ruth und Jürgen entwerfen zusammen die Pläne für einen formalen Garten und Park, der Teil der Residenz des Belgarder Landrats werden soll. Der Entwurf der Parkanlagen, die Überwachung der Bepflanzung und das Anlegen der Wege werden zu Ruths schönsten Erinnerungen an ihre Belgarder Zeit gehören – nicht nur, weil sie viele Stunden mit Jürgen allein bei der Planung verbrachte, sondern weil sie versteckte Talente in sich entdeckte, die sonst vielleicht nie zum Vorschein gekommen wären.
Die Wohnräume der Familie in der neuen Residenz sind mit der bescheidenen Wohnung neben der Färberei überhaupt nicht zu vergleichen. Erstens gibt es hier keine Mäuse, ein Zustand, den Ruth unter allen Umständen aufrechterhalten will. Zum anderen sind die Zimmer geräumig, ja so groß, dass zusätzliche Möbelstücke aus Kieckow herbeigeschafft werden müssen, um die leeren Ecken zu füllen. Für jedes Zimmer, das auf der Gartenseite liegt, gibt es einen Balkon. Es sind nur wenige Wochen im Jahr, an denen Ruth und Jürgen nicht den Tee auf einem Balkon einnehmen und dabei der Gartenarbeit zusehen. Jürgens Büro, die offiziellen Empfangssäle und die Wohnräume befinden sich nun unter einem gemeinsamen Dach. Ruth weiß Jürgen jetzt ständig zu Hause, für eine besitzergreifende Ehefrau, wie sie es ist, ein idealer Zustand.
1890. Fürst Otto von Bismarck übergibt dem jungen Kaiser Wilhelm II. sein Rücktrittsgesuch von seinem Posten als Reichskanzler und Ministerpräsident Preußens aus Protest gegen des Kaisers Entscheidung, einen Rückversicherungsvertrag mit Russland zu kündigen und stattdessen mit Österreich-Ungarn engere Beziehungen zu knüpfen. Die außenpolitischen Fähigkeiten Bismarcks sind freilich ungleich größer als die des jungen Kaisers. Ohne seinen Rat wird Wilhelm eine Politik betreiben, die schließlich den östlichen Nachbarn Russland befremden und den Weg zum Ersten Weltkrieg bereiten wird.
Bismarck hat zuvor bereits häufig beim Kaiser um seinen Rücktritt nachgesucht. Als Wilhelms Großvater noch im Amt war, benutzte Bismarck dieses Mittel regelmäßig, wenn es den Anschein hatte, als würde er an Macht verlieren. Damals lenkte der Kaiser immer wieder ein, da er unter keinen Umständen seinen Kanzler verlieren wollte. Sein Enkel jedoch hat eigene Vorstellungen. Er nimmt den Rücktritt mit innerer Zufriedenheit an, auch wenn er nach außen Bedauern äußert. Nach 40-jährigem Dienst für fünf Könige Preußens, wovon drei auch deutsche Kaiser waren, dankt Otto von Bismarck voller Bitterkeit und ohne Zweifel auch von tiefer Traurigkeit erfüllt ab. Er ist 75 Jahre alt, der Kaiser ist noch nicht 31. Der Einzige, der mit ihm aus der Regierung ausscheidet, ist sein Sohn Herbert von Bismarck, Patensohn Hans Hugo von Kleists. Otto hatte immer gehofft, Herbert werde ihn eines Tages ablösen, weswegen er ihn zum Staatssekretär, zum Leiter der deutschen Außenpolitik, ernannt hatte. Als treuer Sohn muss Herbert aber den gleichen Weg gehen, zurücktreten und seines Vaters Verbitterung und Trauer teilen.
Und Hans Hugo von Kleist? Er ist ebenfalls 75 Jahre alt, wovon er 40 Jahre der Öffentlichkeit gedient hat. Für ihn bedeutet der Rücktritt neue Hoffnung, sein Freund Otto werde endlich, nach Jahren der Entfremdung und Abwendung, zu den Junkern zurückkehren. Im Gegensatz zu Bismarck ist Hans Hugo von Kleist nicht verbittert. Nie hat er andere manipuliert oder sich die Politik zunutze gemacht. Er ist immer seinen Idealen treu geblieben, hat Gott, seinem Vaterland und seiner Familie gedient. Zwar hat er nie die Höhen Bismarcks erreicht, er ist aber auch nie so tief gefallen wie dieser. Hans Hugo von Kleist wird in Berlin im preußischen Herrenhaus bleiben, wo er, wie in den letzten 40 Jahren, unter den Konservativen seine Stimme abgeben wird. Nun setzt er seine Hoffnung auf den vom Kaiser selbst ausgesuchten neuen Ministerpräsidenten Preußens und deutschen Reichskanzler Leo von Caprivi – einen schlesischen Aristokraten, der mehr mit Graf Robert als mit diesem alten pommerschen Junker gemein hat.
1891, Februar. An einem Sonntagmorgen, dem ersten Tag des Monats und nur drei Tage vor dem Geburtstag seiner Mutter, wird Konstantin von Kleist in der neuen Residenz des Landrats von Belgard geboren. Draußen läuten die Kirchenglocken, als wollten sie die Ankunft dieses Sonntagskindes verkünden.
August. Der Landrat, seine Frau und die drei Kinder verbringen die Sommerferien nahe der Oder im alten Stolbergschen Familienschloss, wo Mutter Kleist aufgewachsen ist und wo heute Jürgens Großtante Gräfin Elisa zu Stolberg-Wernigerode lebt. Selbst für Ruth, Tochter aus einem Gutshaus, hat das Stolbergsche Schloss etwas Märchenhaftes. Es ist umgeben von riesigen Wäldern. Das Schloss selbst besteht aus unzähligen Zimmern, eines schöner und fantasievoller eingerichtet als das andere. Jürgen und seiner Familie werden ein ganzer Flügel sowie ein Kindermädchen und weit mehr Diener zur Verfügung gestellt, als sie benötigen. Im Kinderzimmer liegen auf dem Diwan des Kindermädchens drei wunderschön gekleidete Puppen, jede mit einem zarten Porzellankopf und zum Kleid passendem Satinhäubchen. Wäre das Kindermädchen nicht eingeschritten, hätten Hans Jürgen und seine Schwester Spes die hübschen Puppen gleich für ihr Lieblingsspiel »so tun als ob« verwendet. Tante Elisa erzählt stolz, diese Puppen stammten aus ihrer Kindheit und würden für Kinder, die vielleicht eines Tages auf Schloss Stolberg leben werden, sorgfältig aufbewahrt.
Im Winter 1945 werden vier Enkelkinder von Ruth, das älteste gerade 20 Jahre alt, mit einem Pferdewagen in Stolberg ankommen; sie werden auch in Räumen dieses Flügels untergebracht werden, jedoch nur für eine Nacht. Wie damals Ruth und ihre Kinder werden sie über die Schönheit der Porzellanpuppen mit den exquisiten Kleidchen und Satinhäubchen staunen. Die Besucher werden sich am nächsten Morgen, mit neuem Proviant versorgt, rasch auf den Weg machen. Die Puppen lassen sie zurück, so wie sie sie gefunden haben. Eine Woche später wird das Schloss von schwerer Artillerie beschossen, bis außer Schutt und Asche nichts mehr übrig ist.
1892, Januar. Vater Kleist ist schwer erkrankt, er ist aber nicht bereit, Berlin zu verlassen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren steht ein Gesetz zur Abstimmung an, das ihm sehr am Herzen liegt und das gute Chancen hat, angenommen zu werden. Der kühne neue Schritt geht auf niemand anderen zurück als Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, Ruths Vater. Nur wenige Monate zuvor hatte Caprivi den Grafen von Posen abberufen und ihn zum preußischen Kultusminister ernannt. In dieser Funktion ist er nicht nur für Bildung und Erziehung in allen preußischen Provinzen, sondern auch für die Erhaltung der schwierigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat zuständig.
Graf Robert ist nun 55 Jahre alt, seine Energie und Lebenskraft lassen ihn jedoch jünger erscheinen. Unter Bismarck war das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland einem ständigen Wechsel unterworfen, je nachdem, ob der Reichskanzler die Stimmen der Katholiken, die hauptsächlich in der Zentrumspartei vertreten waren, benötigte oder nicht.
Reichskanzler von Caprivi dagegen misst der Kirche mehr Bedeutung bei, vor allem wegen ihrer Rolle im Schulsystem. Die Wahl Graf Roberts bestätigt dies. Als neuer Kultusminister hat er Gesetzesentwürfe eingebracht, die den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wieder gestatten. Andere strenge, gegen die Kirche gerichtete Gesetze, die zu Anfang der Bismarck-Ära erlassen wurden, wird er revidieren. Diese Gesetze waren Teil von Bismarcks hartem und emotionalem Kampf gegen die katholische Kirche und vor allem gegen den Jesuitenorden, der in der katholischen Schulbildung eine große Rolle spielte. Die pommerschen Junker hegen zwar keine besondere Vorliebe für die katholische Kirche, wenden sich aber mehr und mehr gegen diese Gesetze, da sie auch die evangelische Kirche ihres Einflusses auf die Schulerziehung der Kinder berauben. Hans Hugo steht fest auf der Seite der pietistischen Junker, die sich dieser Gesetze erwehren; Graf Robert steht aufseiten der Pommern in der Ablehnung der Gesetze. Er sieht jedoch nicht nur ihre religiösen Konsequenzen, sondern lehnt sie aus politischen Gründen ab. In den polnischen Provinzen Preußens wird das sich ausbreitende nationale Bewusstsein noch dadurch verstärkt, dass sich die tief religiösen Katholiken wegen ihres Glaubens verfolgt fühlen.
Im Namen des Reichskanzlers von Caprivi und mit Unterstützung des Kaisers hat Graf Robert einen revolutionären Schulgesetzentwurf in den preußischen Landtag eingebracht. Hans Hugo ist außer sich vor Freude. Trotzdem hofft er, die Debatte möge kurz sein, da er von einem schweren Husten geplagt ist, dem das schlechte Wetter Berlins keine Besserung bringt. Seine Tochter Elisabeth, die ihn überallhin begleitet, ist über den Gesundheitszustand des Vaters besorgt und würde ihn am liebsten heim nach Kieckow bringen.
März. Zwei Monate bereits dauert die vehemente Debatte in der preußischen Abgeordnetenkammer, die mit einer Schärfe geführt wird, wie man sie seit einem Jahrzehnt in Deutschland nicht mehr gekannt hat. Fast könnte man glauben, es entstehe ein neuer Religionskrieg. In Belgard liest Ruth die täglich aus Berlin eintreffenden Briefe von Vater Kleist, in denen er gewissenhaft über Vater Zedlitz’ Fortschritte in der Durchsetzung des Gesetzentwurfs berichtet. Es sind kurze Zusammenfassungen nicht nur der Reden, die ihr Vater vor der Kammer gehalten hat, sondern auch der Aussagen seiner Anhänger. Aus seinen Briefen schließt Ruth, dass die Abstimmung bald stattfinden und Vaters klare Vorstellung von Kirche und Staat bald Wirklichkeit werden wird.
Völlig unerwartet beginnt der Kaiser jedoch zu wanken und entzieht in der Folge dem Entwurf seine Unterstützung. Graf Robert ist sprachlos, widerruft den Gesetzesentwurf und reicht seinen Rücktritt als Kultusminister Preußens ein. Reichskanzler von Caprivi ist außer sich vor Wut über die Charakterschwäche des Kaisers und tritt 24 Stunden später von seinem Posten als Ministerpräsident Preußens zurück. Als deutscher Reichskanzler bleibt er jedoch im Amt. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands werden diese beiden Posten nicht mehr von einer Person bekleidet, ein schlechtes Omen für Caprivis Durchsetzungsfähigkeit als Reichskanzler und, was noch schlimmer ist, für die Stabilität des Deutschen Reiches. Vier Jahrzehnte nach seinem Eintritt in die Politik verlässt Hans Hugo seine Wohnung in Berlin und kehrt mit Elisabeth nach Kieckow zurück.
April. Der Gutsherr besucht nun regelmäßig die Kirche von Kieckow und wie in früheren Jahren beginnt der Sonntagsgottesdienst erst dann, wenn auch er anwesend ist. Gewöhnlich dauert die Predigt in Kieckow sehr lang. An seinem ersten Sonntag zu Hause nickt der Gutsherr während der Predigt des Pfarrers ein, man hört sein lautes Schnarchen. Das wird jedoch nie mehr vorkommen – der alte Herr hat geschworen, nie wieder einzuschlafen! Jedes Mal zu Beginn der Predigt steht er auf und bleibt bis zu deren Ende stehen. Keiner aus der Gemeinde wagt einen verstohlenen Blick in seine Richtung; nicht einmal die Kinder belächeln ihn. In Kieckow ist das, was der Gutsherr tut, automatisch richtig. Elisabeth, jetzt die Herrin von Kieckow, sitzt neben ihrem Vater. Über ihrem dunklen Kleid und Mantel trägt sie das Stolbergsche Kreuz. Insgeheim fragen sich die Dorfbewohner, wann es die neue, junge Herrin übernehmen wird und was dann aus der ihnen so vertraut gewordenen Elisabeth wird. Im Dorf wird viel darüber spekuliert, wer das magische Kreuz einmal tragen wird. Die Weisen sagen jedoch: »Wartet ab.«
Ein Fest zur Erntezeit
1892, Mai. Hans Hugo von Kleist liegt im Sterben. Von Kieckow aus geht die Nachricht nach Belgard, Stettin und Berlin. Kaiser Wilhelm sendet ihm eine persönliche Botschaft, in der er ihm die Wiedererlangung voller Gesundheit wünscht. Hans Hugo, der noch bei vollem Bewusstsein ist, belächelt die Botschaft, weiß er doch, dass der Kaiser solche Wünsche nur verschickt, wenn der Zustand hoffnungslos ist. Trotzdem ist er hocherfreut; als preußischer Aristokrat freut er sich über die Anteilnahme seines Königs.
Frühmorgens am 20. des Monats erlischt Vater Kleists Lebenslicht. Seine Kinder Hans Anton, Jürgen und Elisabeth sind an seinem Sterbebett versammelt. Bis zum Abend ist auch Ruth mit den Enkelkindern Hans Jürgen, Spes und Konstantin eingetroffen. Es wird Ruths erste Beerdigung in ihrem Erwachsenenleben werden, für die sie, wie sie feststellen muss, noch nicht die entsprechende Kleidung besitzt. Die Hausdame kommt ihr sofort zu Hilfe, indem sie ihr innerhalb von 24 Stunden von der Schneiderin des Dorfes eine vollständige Trauerbekleidung mit Hut und langem Schleier anfertigen lässt. Ruth erkennt sich im Spiegel kaum wieder und hofft, sie werde dieses Kleid viele Jahre lang nicht mehr benötigen.
Wie sollte sie auch ahnen, dass sie in nur fünf Jahren diese Kleidung wieder anziehen und dann zwölf Monate lang Tag für Tag tragen wird!
Die Plätze in der Kirche von Kieckow reichen nicht aus, um allen Trauergästen Platz zu bieten, viele stehen in den Gängen oder hören, so gut es geht, von draußen zu. Außer den Familienangehörigen und den Dorfbewohnern sind Gutsbesitzer und Bekannte anwesend, die meisten kommen aus dem Kreis Belgard, manche jedoch auch aus weiter entfernten Orten wie Stargard, wo die Herrensitze der Puttkamers und Bismarcks liegen. Die meisten Zeitgenossen von Vater Kleist sind zwar nicht mehr unter den Lebenden, aber einige wenige gibt es noch. Dazu gehört Philipp von Bismarck, Otto von Bismarcks Neffe, ein langjähriger Freund von Hans Hugo von Kleist. Die Abwesenheit des ehemaligen Reichskanzlers fällt auf. Im Alter von 77 Jahren befindet sich Otto von Bismarck auf einer Vortragsreise durch Deutschland, durch die er die Gunst der Deutschen erwerben und wieder an die Macht gelangen möchte. Die langjährigen Freunde und Familienmitglieder sind empört über seine Abwesenheit und erinnern sich daran, wie sie ihn einst, als sie alle noch viel jünger waren, den »wilden Junker« getauft hatten.
Viele offizielle Gäste sind angereist, die sich in das Gästebuch des Gutshauses eintragen und im Gedächtnis von drei Generationen der Kleists aus Kieckow bleiben werden. Unter ihnen sind als des Kaisers persönlicher Vertreter Adjutant von Jacobi, der Oberpräsident von Pommern von Puttkamer sowie der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Freiherr von Maltzahn und Freiherr von Manteuffel, der Vizepräsident des Herrenhauses.
50 Jahre später wird Ruths Sohn Hans Jürgen das Gästebuch verbrennen, denn im Dritten Reich werden die Menschen nach ihren Kontakten beurteilt und verdächtigt.
Der Herr von Kieckow ist tot. Sein Nachfolger kann erst in vier Jahren eingesetzt werden, wenn der Pachtvertrag für Kieckow abläuft. Für eine vorzeitige Ablöse des Pachtvertrags ist nicht genug Geld vorhanden. In der Zwischenzeit regiert Elisabeth über Kieckow, während Hans Anton kommt und geht, ganz wie ihm gerade zumute ist. Jürgen und Ruth kehren mit ihren Kindern nach Belgard zurück. Über die Zukunft des Gutes spricht Jürgen wenig, vertraut Ruth jedoch wehmütig an: »Ach, könnten wir doch nur zusammen in Kieckow leben, aber wahrscheinlich wäre das zu viel des Glücks.«
In der Gruft unter der Kirche von Kieckow stehen nun zwei Särge; Vater Kleists sterbliche Überreste befinden sich neben denen der Mutter. Jürgen, der sonst jede Freude und Sorge seines Lebens mit Ruth teilt, sagt dazu nichts. Sie spürt jedoch, dass sich die Geschwister mit ihm über den Ort, an dem ihre Eltern begraben werden sollen, nicht einig sind.
September. Jürgen wird als Reserveoffizier für einen Monat militärischer Ausbildung in die Armee einberufen. Zum ersten Mal seit seiner Hochzeit hat er einen solchen Befehl erhalten, denn eigentlich gehört er nicht zu den aktiven Reservisten. Die Einberufung ist jedoch eine Ausnahmeübung und, wie es heißt, für den Notfall; sie hängt offensichtlich mit der immer ehrgeiziger werdenden Außenpolitik des Kaisers zusammen, die böse Zungen als »Säbelrasseln« bezeichnen. Jürgen sind diese politischen Entwicklungen nicht verborgen geblieben. Als Reserveoffizier ist er jedoch verpflichtet, seinen militärischen Pflichten nachzukommen und wieder einmal seine uneingeschränkte Loyalität dem Kaiser gegenüber unter Beweis zu stellen.
Ruth hatte immer Mitleid mit den jungen Ehefrauen empfunden, deren Männer als aktive Reservisten jedes Jahr einen ganzen Monat von ihren Familien getrennt werden. Nun muss sie diese Erfahrung selbst machen. Als ihr Vater Graf Robert die Nachricht von der Einberufung hört, lädt er Ruth umgehend ein, diesen Monat in Großenborau zu verbringen. Nach so vielen Jahren im öffentlichen Dienst ist er mit seiner Frau auf das Gut zurückgekehrt, das er nun selbst verwaltet. Ruth hat seit ihrer Heirat ihre schlesische Heimat nicht mehr gesehen und für die Kinder wird es der erste Besuch dort sein.
Am Bahnhof von Belgard vergießt Ruth Tränen beim Abschied von ihren Kindern. Der sechsjährige Hans Jürgen hält seine kleine Schwester Spes fest an der Hand, damit die quirlige Vierjährige nicht auf die Gleise fällt. Der kleine Konstantin, den das Kindermädchen auf den Armen trägt, lächelt tapfer und winkt seiner Mutter zu. Die vier fahren mit dem Zug voraus nach Großenborau, Ruth wird später nachkommen. Zunächst begleitet sie Jürgen nach Berlin, wo sie sein Regiment bei der Parade erleben soll, bevor es ins Manöver zieht.
Von ihrem reservierten Platz aus am Paradeplatz in Tempelhof verfolgt Ruth die großartige Parade. Ebenso wie ihr Mann lässt auch sie sich von der Atmosphäre leicht begeistern. Die vorbeimarschierenden Truppen mit den bunten Fahnen und den Militärkapellen, die die Melodien des Regiments spielen, begeistern sie. Schließlich ist sie eine Preußin, der alle Ideale ihrer Vorfahren, Generationen von treuen Untertanen des Königs, in die Wiege gelegt wurden.
Seit den Tagen ihrer Kindheit hat sich die deutsche Armee zu einer modernen Kriegsmaschinerie entwickelt, die bei Paraden einen großartigen Anblick bietet. Leider gelingt es ihr nicht, von ihrem Platz aus ihren Leutnant zu erkennen, sie tröstet sich jedoch mit dem Gedanken, dass ihnen beiden noch eine gemeinsame Nacht im Hotel Bellevue in Berlin verbleibt.
Früh am nächsten Morgen verabschiedet sich Jürgen in voller Uniform. Für Ruth ist es natürlich ein emotionsgeladenes Ereignis; entgegen ihren guten Vorsätzen schafft sie es nicht, ein »tapferer Soldat« zu sein.
Einen Tag später sitzt Ruth am Bahnhof Friedrichstraße geraume Zeit vor der planmäßigen Abfahrt des Zuges nach Freystadt in einem Abteil. Zum Zeitvertreib blickt sie aus dem Fenster und entdeckt zufällig ein über die Straße gespanntes Transparent. Mit Überraschung liest sie darauf die Ankündigung, das Erste Garde-Feldartillerieregiment – Jürgens Regiment – werde auf seinem Weg ins Manöver hier vorbeimarschieren. Sie ist sprachlos; in der Ferne hört sie bereits die Militärkapelle. Hastig verlässt sie ihr Abteil, steigt aus dem Zug und eilt über die Straße, um einen besseren Blick auf die herannahende Militärkapelle zu gewinnen. Hinter der Kapelle befinden sich der Kommandeur, sein Adjutant sowie der Hauptmann, alle drei hoch zu Ross. Dann folgt in präzisem Gleichschritt ein Zug nach dem anderen, jeder unter Führung eines Leutnants. Da kommt auch schon der Zug mit Jürgen an der Spitze! Einen kurzen Moment sieht er sie direkt an, ohne jedoch die geringste Regung zu zeigen. Dann ist er aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden. Sie weiß aber, er hat sie erkannt, da er mit einer minimalen Bewegung seinen Degen senkte.
Jetzt ist Jürgen also ganz Soldat und gewaltsam derjenigen entrissen, die ihn mehr als alles andere auf der Welt liebt. Ruth ist diese Vorstellung unerträglich. Tränenüberströmt kehrt sie ins Abteil zurück, verbirgt ihr Gesicht in dem gepolsterten Sitz und weint untröstlich, bis sie in Freystadt ankommt, wo sie ihre drei glücklichen Kinder auf dem Bahnsteig erblickt. Erst hier kann die junge Ehefrau und Mutter ihre Fassung zurückgewinnen. Später wird sich Ruth wegen ihres unziemlichen Verhaltens Vorwürfe machen, aber sie wird sich auch vergeben, da sie glaubt, ihr Herz habe bereits vorher gewusst, was so unerbittlich auf sie zukommen würde.
1893, Mai. Ruths und Jürgens zweite Tochter Maria wird in der Residenz des Landrats von Belgard geboren. Von Geburt an hat das entzückende kleine Mädchen dichte, schwarze Löckchen und einen fröhlichen Gesichtsausdruck.
Marias Taufe ist die erste ohne Vater Kleist, aber dafür sind Ruths Eltern sowie ihre Schwester Anni von Tresckow mit ihrem Mann Hermann anwesend. Das Kind ist gesund, die Taufschale funkelt im Licht. Kann sich eine Familie mehr wünschen?
1896, Mai. Viele Ereignisse, gute wie schlechte, treffen aufeinander. Der Pachtvertrag für Kieckow ist endlich ausgelaufen, das ganze Gut samt allen Schulden gehört jetzt also Jürgen, so wie Vater Kleist es verfügt hat. Tagelang werden leere Wagen nach Belgard geschickt, die voll beladen mit Kisten und Möbeln nach Kieckow in das Gutshaus zurückkehren. Die Mutter, ihre vier Kinder, eine Köchin, ein Dienstmädchen und das Kindermädchen ziehen einen Sommer lang von der Residenz des Landrats in das Gutshaus von Kieckow um. Das halbe Dorf ist in die Vorbereitungen mit eingebunden, denn seit Jahren ist für die Instandhaltung des Hauses fast nichts geschehen. Als wollten sie ihre neue Herrin willkommen heißen, blühen in Kieckow die Kastanienbäume, die Flieder- und Schneeballbüsche um die Wette. Selbst die Azaleen haben schon dicke Knospen, obwohl sie normalerweise erst in einem Monat blühen.
Für Ruth wäre dies eine Zeit höchster Freude, wäre da nicht der Auszug von Elisabeth. Während Ruth sich seit ihrem ersten Besuch vor zehn Jahren ständig auf diese Heimkehr gefreut hat, bedeutet sie für Elisabeth Vertreibung, obwohl ihr Jürgen versichert hat, ihr Zimmer stehe ihr jederzeit zur Verfügung, wann immer sie es wünsche. Sie zieht jedoch nach Berlin in die Wohnung, die sie einmal zusammen mit dem Vater und Hans Anton bewohnte. Vor seinem Tod hat der Vater sie ihr vermacht, damit sie immer ein eigenes Zuhause ganz für sich allein haben würde. Für Elisabeth ist der Einzug der neuen Herrin von Kieckow ein bitteres Los. Sie wird nur noch zweimal in das Haus zurückkehren, in dem sie aufgewachsen ist, jedes Mal zur Beerdigung eines Bruders. Mit Elisabeth geht auch das Stolbergsche Kreuz; Ruth tadelt sich insgeheim dafür, jemals dieses Symbol weiblicher Macht begehrt zu haben.