Kitabı oku: «Stills Faszienkonzepte», sayfa 2
Einleitung
„Wer die Osteopathie verstehen will, muss Andrew Taylor Stills Werk verstehen und in diesem Zusammenhang auch etwas über die unmittelbaren Vorgänger dieses Mannes wissen. Wie sah die medizinische Welt aus, in der sich Stills Augen öffneten und in die sie mit der schärfsten Kritik der Geschichte blickten?“ 1
Worum es in der vorliegenden Studie geht, ist ein umfassendes und kritisches Untersuchen von Stills Faszienkonzepten, die wir zu diesem Zweck in physische, philosophische und spirituelle Konzepte unterteilen. Eine derartige Arbeit gibt es unter den zur Osteopathie veröffentlichten Werken bislang nicht.
Kleinere Artikel zu Stills physischen Faszienkonzepten enthält die noch im Aufbau befindliche Datenbank Ostmed (Ostmed®, The Osteopathic Literature Database, 2003). Einige Osteopathen oder osteopathische Ärzte (in der Folge stets einheitlich „Osteopathen“ genannt), die über Stills Faszienkonzepte schrieben – im Einzelnen sind das: Truhlar, Arbuckle, Kerr, McConnell und gelegentlich sogar Magoun senior –, zitierten in ihren Texten zwar Stills Gedanken zum Thema Faszien, unternahmen aber kaum je den Versuch, deren Bedeutung zu interpretieren.
Zu den prominentesten Osteopathen, die sich zu Stills Faszienkonzepten schriftlich geäußert haben, gehören Arthur Becker, Fredrick Becker, Roland Becker und Angus Cathie. Harold I. Magoun senior DO, stellte in seinem berühmten Abhandlung über Stills physische Faszienkonzepte fest, dass Still damals das Faszienproblem sogar besser verstanden habe als einige Spitzenleute in der heutigen Forschung.2 Weniger bekannt, obgleich einer der bedeutendsten Unterstützer von Still, ist Charles H. Kauffmann DO, der in den 1940er- und den frühen 1950er-Jahren ein Dutzend Artikel zu Stills Faszienkonzepten schrieb. Kauffmann besaß Zugang zu Stills seltenem dritten Buch The Philosophy and Mechanical Principles of Osteopathy.
Keinerlei osteopathische Literatur liegt zu Stills philosophischen und spirituellen Faszienkonzepten vor. William Garner Sutherland äußerte zu Stills Sicht des Lebensprinzips,3 das dieser im Kontext der Faszien erörtert hat: „Dr. Still gab sein Bestes, um uns in das Phänomen einzuführen. Doch wir waren dafür nicht aufnahmefähig“4. Und auch Rollin E. Becker DO zitierte Sutherland in diesem Sinne: „Ich habe oft darauf hingewiesen, dass wir in der Osteopathie etwas verloren haben, das Still mitzuteilen versuchte, und zwar das Spirituelle, das er in die Wissenschaft der Osteopathie einschließen wollte“.5
Einst wurden Stills Faszienkonzepte als wichtig betrachtet. Das Publikationskomitee der Academy of Applied Osteopathy, dem damals Dr. Alan R. Becker, Dr. Kenneth E. Little, Dr. George W. Northup. Dr. Ralph W. Rice, Dr. Charles K. Smith und Dr. Thomas L. Northup angehörten, unternahm 1946 den Versuch, Stills Werk speziell auf dem Gebiet Faszien wieder in den Lehrplan für die osteopathische Ausbildung zu integrieren. Um die Mitglieder der Academy of Applied Osteopathy davon zu überzeugen, dass es notwendig sei „ eine klare Auffassung von Dr. Stills Geisteshaltung in den Gründerjahren“ zu bekommen, legte man seinerzeit auch Stills zweites Buch Philosophy of Osteopathy neu auf, stellte es allen Mitgliedern zur Verfügung und verwies sie, was das Erlangen dieser „klaren Auffassung“ betraf, vor allem auf das in jenem Werk enthaltene Kapitel X, Die Faszien.
1952 empfahl Thomas L. Northup D.O., man solle „das Faszienkapitel in Dr. Stills Buch über die Prinzipien der Osteopathie nicht nur sorgfältig lesen, sondern dessen Inhalt Absatz für Absatz, Satz für Satz bedächtig studieren.“6 Danach vergingen 30 Jahre, bis der erste Versuch unternommen wurde, die Wurzeln von Stills Theorie und Philosophie der Osteopathie freizulegen. Obgleich er selbst kein Osteopath war, nahm der Soziologe und Forscher Norman Gevitz als Student an der Universität von Chicago eine absatz- und satzweise, gelegentlich sogar wortweise Durchsicht von Stills Werk vor, um u. a. herauszufinden, ob und gegebenenfalls wie die Geistesströmungen des ländlichen Amerika in der Mitte des 19. Jahrhunderts Stills Sichtweisen und Philosophien beeinflusst haben. Als Ergebnis dieses Prozesses konnte er eine Reihe wahrscheinlicher Einflüsse nennen, zu denen auch Stills Beziehung zum Spiritismus gehörte.
„Ich fand u. a. heraus, dass er [Still] den Ausdruck Banner der Osteopathie verwendet hat. Er sagte: ‚Wir wollen das Banner der Osteopathie weben.‘ Da stieß ich zufällig auf die Zeitschrift Banner of Light …, Ich erwog, ob das Banner der Osteopathie auf jenes Banner of Light bezogen sein könnte, und ging deshalb diese Zeitschrift, die ich in der großen Sammlung der Universitätsbibliothek von Michigan einsehen konnte, seitenweise durch, bis ich irgendwann einen Leserbrief entdeckte, der von Still mit unterschrieben war.“7
Für Gevitz war das der entscheidene Beweis, denn Still selbst hat nichts über seine Einflüsse mitgeteilt, zitierte nur wenige Quellen und zog es dagegen vor, „Gott und die Erfahrung“8 bzw. die „Gesetze der Natur“9 zu zitieren.
Den Empfehlungen der Academy of Applied Osteopathy aus dem Jahr 1946 folgend beschäftigt sich die vorliegende Studie mit dem Kapitel Faszien in Stills Werk. Zunächst jedoch wird auf die Arbeiten von Gevitz und der Historikerin und jüngsten Still-Biografin Carol Trowbridge (1991) eingegangen. Das ist notwendig, weil man, um Stills Faszienkonzepte zu verstehen, seinen einzigartigen Charakter, der sich in seiner Ausdrucksweise und Wortwahl widerspiegelt, vor dem Hintergrund zeitgenössischer Einflüsse und Strömungen betrachten muss.
„Er [Still] war ein komplexer Mensch. Seine Schriften sind oft schwer zu verstehen. Sie sind in der Sprache seiner Zeit geschrieben und enthalten viele Allegorien.“ 10
„Sein symbolischer und allegorischer Schreibstil erlaubt es nur einem geneigten Leser, die Bedeutung seiner Sprache und den darunterliegenden eigentlichen Sinn zu erfassen. Und es gibt einen Sinn, auch wenn Andersdenkende diese Werke nicht verstehen können.“ 11
Der erste Absatz des Kapitels Faszien in Stills Philosophy of Osteopathy lautet:
„Krankheit wird offensichtlich als Gas-, Flüssigkeits- oder Feststoffatome gesät. Zunächst ist eine geeignete Stelle zum Deponieren des aktiven Lebensprinzips nötig, was immer dies sein mag. Dann muss das Lebewesen, das entwickelt werden soll, eine ansprechende Art von Ernährung bekommen. Folglich müssen wir den Teil des Körpers finden, der durch Aktion und geeignete Ernährung mithelfen kann, das Lebewesen im fötalen Leben zu entwickeln. Vernunft weist den Verstand zunächst auf die Regeln des menschlichen Lebens während der Schwangerschaft hin und wir betrachten, als Denkbasis, das sich bewegende Atom, das werdende Lebewesen, dessen Lebenskeim wir nur durch das stärkste Mikroskop sehen können. Es sieht aus wie ein Atom weißer Fasern oder ein abgelöstes Teilchen einer Faszie. Es verlässt einen Elternteil als Faszienatom und muss, um leben und wachsen zu können, in einem freundlichen Umfeld hausen und mit solcher Nahrung versorgt werden, wie sie in Eiweiß, Fibrin und Lymphe sowie in den Nerven generierenden Kräften und Qualitäten enthalten ist, während es auf der Stelle mit dem Aufbauen einer geeigneten Form beginnt, in der es leben und gedeihen kann. Und da die Faszien bestens mit Nerven, Blut und weißen Korpuskeln ausgestattet sind, ist es nur logisch, den Teil zu suchen, der überwiegend aus Faszie besteht, und anzunehmen, dass der Keim sich dort zum Ernährtwerden und Wachsen aufhält.“ 12
Liest man diesen Absatz, entstehen sofort eine Reihe von Fragen. Wovon spricht Still im ersten Satz? Was meint er mit dem aktiven Lebensprinzip? Wieso spricht er in einem Kapitel über Faszien vom fötalen Leben? Was heißt menschliches Leben während der Schwangerschaft? Wie definiert Still den Ausdruck Keim und was ist dann ein vitaler Keim? Am wichtigsten aber ist die Frage, was dies alles mit dem zu tun hat, was wir heute unter Faszien verstehen. Der Rest des Still’schen Faszien-Kapitels ist nicht weniger kryptisch, kaum mit Interpunktionen versehen und enthält einen 17 Zeilen langen Satz mit sehr vielen rätselhaften, für den heutigen Leser archaischen Metaphern.
Dutzende von Zitaten aus Stills Werk belegen, dass er den Faszien nicht nur in Krankheit und Gesundheit, sondern auch in der dreifach differenzierten Natur des Menschen, bestehend aus materiellem Körper, spirituellem Wesen und Verstandeswesen, eine bedeutende Rolle zuschrieb. So sagte er beispielsweise:
„Die Seele des Menschen mit allen Strömen reinen lebendigen Wassers scheint in den Faszien seines Körpers zu wohnen.“ 13
„ Sie [die Faszien] lassen es dem philosophisch Denkenden absolut einleuchtend erscheinen, dass sie [die Faszien] der „materielle Mensch“ sind und die Wohnstätte seines spirituellen Wesens. Sie [die Faszien] sind das Haus Gottes, die Wohnstätte des Unendlichen, soweit es den Menschen betrifft.“ 14
Man findet in Stills Schriften jedoch ebenso viele Äußerungen, die besagen, dass die Faszien nicht wichtiger sind als andere Gewebe oder Körpersysteme.
In einem Leitartikel, der nach Stills Tod 1917 im Journal of the American Osteopathic Association erschien, steht:
„Dr. Still hinterließ keinen Nachfolger … Philosophen, die ihr Werk vollendet haben, brauchen keine Nachfolger … Sein Werk [Stills Theorie und Philosophie] sollte analysiert und auf eine für die praktische Unterweisung geeignete Form reduziert werden und in jeder osteopathischen Ausbildungsstätte zur Verfügung stehen.“ 15
Die als Hilfestellung für ein Verstehen und Entdecken von Stills Faszienkonzepten herangezogenen Werke anderer Osteopathen zeigten, dass fast niemand Northups Empfehlung gefolgt ist, den Inhalt von Stills Philosophy of Osteopathy absatz- und satzweise zu studieren.16 Ebenso bedauerlich ist es, dass außer von O’Connell (1998) in den letzten 25 Jahren so gut wie nichts über Stills Faszienkonzepte veröffentlicht wurde.
In der vorliegenden Arbeit wird auch davon ausgegangen, dass Osteopathen, die vor den späten 1980ern oder den frühen 1990er Still lesen oder über ihn schreiben wollten, in ihren Möglichkeiten ziemlich eingeschränkt waren, weil man damals an ein Buch von ihm und an die meisten seiner Zeitschriftenartikel nur sehr schwierig herankam. Zudem sind wahrscheinlich eine Reihe seiner unveröffentlichten Texte schlicht verloren gegangen oder wegen ihres anstößigen Inhalts vernichtet worden.
Was hat sich nun getan in der Osteopathie seit Northups Empfehlungen, die mehr als 50 Jahren zurückliegen? Die osteopathische Profession hat sich über zwei Generationen entwickelt und von jenen entfernt, die Andrew Taylor Still gekannt und bei ihm studiert haben. Es gibt niemanden mehr, der irgendeine direkte Erfahrung mit ihm, seinen Lehren oder seinen Ideen gemacht hat. Seine Kinder, von denen fünf Osteopathen waren, leben nicht mehr. Seine Enkel, darunter neun Osteopathen, sind ebenfalls alle verstorben.
Obwohl über die verschiedenen Disziplinen der Osteopathie, wie osteoartikuläre Anpassung, viszerale Osteopathie, kraniale Osteopathie, muskuläre Energie und Counterstrain, eine Menge Lehrbücher geschrieben worden sind, verblieb das Gebiet Faszien relativ spärlich dokumentiert und schlecht definiert. Trotz des Mangels an maßgeblichen Referenzwerken, die eine klare Interpretation von Stills Faszienkonzepten bieten, existiert aber eine überquellende Terminologie, die fasziale Zustände beschreibt. Zu den heute üblichen, umschreibenden Ausdrücken für fasziale Probleme gehören Einschränkung, Spannung, Zug, Läsion, Verklebung, Stoß, ease and bind, gewöhnliches Kompensationsmuster, ungewöhnliches Kompensationsmuster und nicht kompensiertes fasziales Muster. Noch verwirrender wird diese Terminologie durch die Austauschbarkeit bzw. die fehlende Unterscheidung myofaszialer und faszialer Anwendungen. In den letzten 15 Jahren wurden von anderen Osteopathen neue Einschätzungs- und Behandlungstechniken für Faszien eingeführt wie das Fascial Distortion Model von Stephen Typaldos D.O. (1994) und das Bioelectric Fascial Activation Model von Judith O’Connell D.O. (1998).
In der vorliegenden Studie wird die Meinung vertreten, dass es erforderlich ist, Stills Originalanschauungen zum Thema Faszien neu, und zwar im Kontext seines Lebens, seiner Zeit und der ihn beeinflussenden Faktoren, zu betrachten, um die Faszien so, wie er sie ursprünglich definiert hat, besser zu verstehen. Diese Meinung teilen auch andere Osteopathen, z. B. Jocelyn C. P. Proby: „Ich glaube kaum, dass wir Dr. Stills Ideen begreifen können, wenn wir sie nicht vor dem historischen Hintergrund sehen.“17 oder Stills erster Biograf E. R. Booth: „Vieles, was Dr. Still zu dem machte, was er war und noch ist, lässt sich auf seine Lebensumstände zurückführen.“18 Entscheidend ist aber, dass Stills Anschauungen eben nicht nur von diesen Lebensumständen, sondern auch von seinem Wesen geprägt wurden. Carl McConnell, zu Stills Lebzeiten Professor an dessen American College of Osteopathy, schrieb:
„Um Dr. Stills Werk angemessen würdigen zu können, müssen wir seine spirituelle und mentale Disposition mitbedenken. Seine Wahrheitsliebe, eine tiefe spirituelle Einsicht in die Werke der Natur, deren physische Form nur eine äußerliche Offenbarung ist, und Mut: Das sind, wie wir es sehen, seine wichtigsten spirituellen und mentalen Eigenschaften.“ 19
In einigen Fällen genügte nicht einmal das von Northup empfohlene absatz- und satzweise Durchgehen von Stills Werk. So führte z. B. erst das genaue Beachten der differenzierten Verwendung des bestimmten und des unbestimmten Artikels in Stills Schreibstil zu einer deutlich veränderten Interpretation eines seiner Faszienkonzepte. Und erst die Feststellung, dass er „wif “ statt „wife“ schrieb, war ein entscheidender Hinweis auf eine wichtige Beeinflussung Stills, nämlich den Spiritismus.
Um Stills Faszienkonzepte in die moderne osteopathische Praxis einzubinden, wird in der vorliegenden Forschungsarbeit den folgenden drei Fragen nachgegangen:
– Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepten und wie sehen sie aus?
– Wie werden diese Konzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis angewendet?
– Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Original-Konzepten ab? Was bedeutet das für die Osteopathie?
Um dies zu beantworten, wurden literatur- und interviewgestützte Untersuchungen durchgeführt. Ziel der literaturgestützten Forschung war es, herauszufinden, wie Still seine Faszienkonzepte entwickelt hat und worin sie bestanden. Im Rahmen der interviewgestützten Forschung veranlasste eine Reihe offen gestellter Fragen eine Gruppe erfahrener, manipulativ arbeitender osteopathischer Ärzte und Osteopathen, ihre Vertrautheit mit Still und dessen Werk, ihre eigenen Faszienkonzepte sowie ihre Auffassungen von Stills Faszienkonzepten darzulegen. Beide Forschungsansätze wurden kombiniert, um ein besseres Verständnis von Stills Faszienkonzepten zu erreichen und zu erfahren, wie diese Konzepte in der modernen Osteopathie verstanden und angewendet werden.
Die Studie umfasst fünf Kapitel. Kapitel 1, Methodologie, skizziert die Schritte zur Entwicklung des in der vorliegenden Arbeit angewandten qualitativen Forschungsansatzes und beschreibt die speziellen Verfahren zur Behandlung der Forschungsfragen. Kapitel 2, Still verstehen, enthält eine kurze Biografie, deren Schwerpunkte auf Stills Lektüre, seinem Schreibstil und beeinflussenden Faktoren liegen, und stellt Vermutungen über Stills medizinische, philosophische und religiöse Überzeugungen an. In Kapitel 3, Über die Faszien, wird versucht, herauszufinden, was Still unter dem Begriff Faszien verstand, wie seine Faszienkonzepte aussahen und was sie bedeuteten. Darüber hinaus stellt dieses Kapitel Stills Ansätze beim Einschätzen und Behandeln von Faszien und Membranen vor, verfolgt die Geschichte des Begriffs Faszien und untersucht die Rolle der Faszien in anderen zu Stills Zeit bekannten mechanotherapeutischen Methoden. Es beleuchtet Stills Umgang mit den Faszien vor dem Hintergrund seiner medizinischen Ausbildung und seines Pionierlebens und führt die Gewebetypen auf, die Still in den Begriff Faszien einschloss. Schließlich wird eine repräsentative Auswahl seiner Äußerungen zum Thema Faszien interpretiert. Die Kapitel 2 und 3 befassen sich also mit der ersten Forschungsfrage: Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepte und wie sahen sie aus?
Mit der zweiten Frage – Wie werden Stills Faszienkonzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis umgesetzt? – beschäftigt sich Kapitel 4, Interviews mit erfahrenen Osteopathen, das die Antworten von 37 erfahrenen Osteopathen und osteopathischen Ärzten auf 20 Fragen vorstellt, die schwerpunktmäßig auf das Faszienverständnis der Befragten abzielten sowie auf deren Meinung zu dem verborgenen Sinn in Stills Äußerungen über die Faszien.
Kapitel 5, Stills Faszienkonzepte und die moderne osteopathische Praxis, vergleicht schließlich die im Rahmen des literaturgestützten Forschungsansatzes erarbeitete Interpretation von Stills Faszienkonzepten mit den bei der interviewgestützten Untersuchung eingeholten Antworten und dreht sich somit um die dritte und letzte Forschungsfrage: Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Original-Konzepten ab? Was bedeutet dies für die Osteopathie? Die dazu interviewten Osteopathen besaßen praktische Erfahrung in Manipulativ-Techniken und hatten Gelegenheit, diese Techniken sowie die osteopathische Philosophie von Kollegen zu erlernen, die nur eine oder zwei Generationen von A. T. Still entfernt gewesen waren. Das Kapitel macht deutlich, wo Stills Faszienkonzepte (so wie die Autorin der vorliegenden Studie sie aufgrund eingehender literaturgestützter Forschung interpretiert) und die Konzepte der Befragten konvergieren oder divergieren, diskutiert die Bedeutung der Untersuchungsergebnisse, erörtert, inwiefern sie die gegenwärtige Osteopathie beeinflussen, und gibt einige Anregungen für die Zukunft.
„Die Faszien kommen überall im Menschen vor und gleichen sich in allen Bereichen. Vor der Welt tut sich das größte Problem auf, der angenehmste Gedanke. Dem Philospohen erscheint es einleuchtend, absolut, dass er den ‚materiellen Mensch‘ und den Aufenthaltsort seines spirituellen Wesens vor sich hat. Sie[die Faszien] sind das Haus Gottes, die Wohnstätte des Unendlichen – soweit es den Menschen betrifft.“ 20
Dieses Still-Zitat wirft eine Reihe von Fragen auf: Teilt der osteopathische Berufsstand heute immer noch Stills Anschauungen in Bezug auf die Wichtigkeit der Faszien? Was bedeutete diese Äußerung für Still selbst? Wurde das größte Problem gelöst? Ist der angenehmste Gedanke jenen zugänglich, die das größte Problem lösen? Was meinte Still mit dem „materiellen Menschen“ und jenem spirituellen Wesen? Verstehen die Osteopathen von heute Stills Äußerungen? Und schließlich: Liefern Stills Ideen und Konzepte ein Jahrhundert, nachdem sie entworfen worden sind, immer noch eine Grundlage für das Praktizieren von Osteopathie?
Kapitel 1 – Methodologie
Dieses Kapitel skizziert die methodischen Schritte beim Entwerfen, Gliedern, Gestalten und Schreiben der vorliegenden Studie. Die in dieser Arbeit angewendete Methode der qualitativen historischen Forschung erlaubt laut Bailey1 „ eine ganzheitliche Beschreibung und Analyse eines bestimmten Phänomens“ – in unserem Fall also eine qualitative Untersuchung der Faszienkonzepte von Andrew Taylor Still.
Historische Forschung wurde hier verstanden als „systematische Zusammenstellung von Daten und kritische Darstellung, Bewertung und Interpretation von Fakten, die auf Personen, Ereignisse und Begebenheiten der Vergangenheit bezogen sind“.2 Im Mittelpunkt der Forschungsarbeit standen drei Fragen:
Wie entwickelte Still seine Faszienkonzepte und wie sahen sie aus?
Wie werden diese Konzepte, insbesondere die philosophischen und spirituellen, von erfahrenen Osteopathen verstanden und in der manipulativen Praxis angewendet?
Weichen heutige Faszienkonzepte wesentlich von Stills Konzepten ab und was bedeutet dies für die Osteopathie?
Diesen Fragen wurde mithilfe zweier Methoden – der literatur- und der interviewgestützten Forschung – nachgegangen.
Zur Untersuchung der ersten Frage wurde unter Einbeziehung veröffentlichten und unveröffentlichten Materials (Bücher, Aufsätze, Briefe, Interviews, Websites) literaturgestützte Forschung in zwei Schritten betrieben: Schritt eins beschäftigt sich mit Stills Leben aus historischer Sicht, betrachtet die Geistesströmungen im 19. Jahrhundert, die ihn beeinflusst haben könnten, und entwirft schließlich ein Bild von Stills Wesen. Schritt zwei verfolgt in Stills Schriften sämtliche Stellen, die sich auf „Faszien“ beziehen, beginnend mit der Prägung dieses Begriffs bis hin zu den um 1900 veröffentlichten Äußerungen von Still zum Thema Faszien.
Die interviewgestützte Forschung diente dazu, von erfahrenen Osteopathen und osteopathischen Ärzten deren Ansichten über frühere und heutige Faszienkonzepte einzuholen. Dazu wurde ein unstrukturierter Interviewentwurf3 verwendet, der es erlaubte, die Informationen (in diesem Fall also die Faszienkonzepte heutiger Osteopathen sowie deren Interpretationen von Stills Faszienkonzepten) zu erfassen und eingehend zu analysieren. Als Abschluss der Studie wurden die erfassten Informationen in Erzählform wiedergegeben, um so die Fragen eins und zwei zu beantworten. Die auf dieser Grundlage aufbauende Beantwortung von Frage drei wurde zu einer Mischung und Synthese der Antworten zu eins und zwei, was eine Auseinandersetzung mit Stills Faszien-Definitionen einerseits und den aus den Angaben der Befragten ersichtlichen Anschauungen heutiger Osteopathen andererseits ermöglicht.
Beim Verfassen der vorliegenden Studie wurden die Gestaltungsrichtlinien aus Publication Manual of the American Psychological Association4 und Thesis Guideline and Format of the Canadian College of Osteopathy5 übernommen. Die Gestaltung der Zitate folgt dem Reference Manager Package®.
Appendix A enthält Kurzporträts aller Personen, auf deren persönliche Mitteilungen in dieser Arbeit Bezug genommen wird.
Nach LoBiondo-Wood & Haber6 liegt es in der Verantwortung eines qualitativ Forschenden, die gewonnenen Informationen aufzunehmen, ohne sie aus seinen eigenen Tendenzen heraus und damit womöglich verfälscht zu interpretieren. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, verwendete die Autorin eine Vorlage, die von Kathie Johnston, Studentin am Canadian College of Osteopathy, in ihrem Darstellungsprotokoll Traditional Osteopathic Manual Practice: A legislative strategy for recognition in Ontario7 entworfen wurde. Johnston fasst in ihrem Protokoll die Arbeiten von Guba & Lincoln (1981), LoBiondo-Wood & Haber und Sandelowski (1986) zusammen, die alle über qualitatives Forschen geschrieben haben. Diese Autoren liefern einen Rahmen, der bei qualitativen Studien wissenschaftliche Strenge sicherstellt. Er besteht aus vier Kriterien: Glaubwürdigkeit, Nachvollziehbarkeit, Angemessenheit und Beweisbarkeit.8
In der Zusammenfassung von Johnston findet sich auch ein Hinweis auf eine wichtige Differenzierung bei LoBiondo-Wood, die in der historischen Forschung zwischen Tatsache, Wahrscheinlichkeit und bloßer Möglichkeit zu unterscheiden erlaubt.
Demnach kann dann von einer Tatsache gesprochen werden, wenn zwei voneinander unabhängige Primärquellen übereinstimmen oder wenn eine Primärquelle und eine Sekundärquelle das Gleiche unterstellen und nichts bekannt ist, was dem wesentlich widerspricht. Allerdings müssen beide Quellen kritisch bewertet werden.
Eine Wahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn die Information aus nur einer Primärquelle stammt und nichts bekannt ist, was ihr wesentlich widerspricht. Die Quelle bedarf entsprechend kritischer Bewertung. Auch wenn zwei Primärquellen in einzelnen Punkten nicht übereinstimmen, kann man von „Wahrscheinlichkeit“ ausgehen.
Von einer bloßen Möglichkeit spricht man dann, wenn eine Primärquelle keiner kritischen Bewertung unterzogen worden ist oder nur Sekundär- oder Tertiärquellen verfügbar waren.
Die Daten für historische Forschung stammen aus Primär- und Sekundärquellen.9 Eine Primärquelle wird definiert als Originalbericht von einem Ereignis. Unter Sekundärquelle versteht man eine Informationsquelle, die zumindest einen Schritt von der Primärquelle entfernt ist. Für die hier vorliegendene Studie wurden nach dem Ratschlag des Betreuers auch solche Personen als Primärquellen eingestuft, die zwar keine eigene Theorie entwickelt, jedoch über 20 Jahre hindurch intensiv praktiziert haben und somit als reife und erfahrene Osteopathen bezeichnet werden können.