Kitabı oku: «Fleshly Transmission», sayfa 5
10. Nach Mitternacht
Als Laura kam, ging Kim gerade und ihre Wege schnitten sich an der Tür, wo Kim ihr flüchtig zunickte, um dann an ihr vorbei die Treppe hinunter zu verschwinden. Mit all den neuen Informationen im Schädel, die sie unbedingt ordnen musste. Laura hingegen sah ihr nur fragend und leicht überrascht nach. Sie schloss die Tür und ging durch die Küche in Turels Schlafzimmer, der dort nackt und vernarbt auf dem Fußende des Bettes saß und zu ihr hinüberschaute.
Laura, mit schwarzen, kurzen Rock, dem kleinen Jäckchen und ihrer Tasche, die vermutlich voller Brieftaschen war, fragte: „Wie viel hat die denn gekostet?“, es lag etwas Missbilligendes in ihrer Stimme, auch wenn sie Amüsiertheit vortäuschte. Turel konnte es hören.
„Das war eine Blogerin“, meinte Turel. „Die wird über mich schreiben.“
Eigentlich wollte Laura ihm nicht böse sein. Er hatte verdammt viel durchgemacht und schon allein deshalb sollte sie ihn machen lassen. Es war ja auch nicht so, dass sie selbst, während er noch im Krankenhaus lag, nicht den einen oder anderen Freund mit hierher gebracht hatte, wobei sie höllisch darauf aufgepasst hatte, dass niemand was mitgehen ließ – merkwürdig, wie eine Diebin auf den eigenen Besitz so achtsam sein konnte –. Doch trotzdem behagte es ihr nicht.
„Reiche ich nicht mehr?“, fragte sie gespielt lächelnd, eine Hand in die Hüfte gestemmt.
„Ich dachte, wir wären nur zwei verlorene Seelen, die gemeinsam den Weg beschreiten?“, fragte Turel zu ihr aufsehend.
„Ja“, antwortete Laura darauf. „Nur zwei verlorene Seelen, die gemeinsam den Weg beschreiten. Nur zwei verlorene Seelen“, mit einer flachen, berechnenden Traurigkeit in der Stimme.
Plötzlich war Turel wieder wach und es war, als könnte er ganz plötzlich nicht genug Luft in seine Lungen bekommen.
Heftig saugte er stoßweise Luft ein. Keuchend. Es war, als würde das Seil plötzlich wieder seine Kehle zuschnüren. Wie die Fasern an seinem Hals gerieben hatten, bis es dampfte. Seine Kehle brannte und wie eine geisterhafte Erscheinung schien der alte, runzlige, graue Kirschbaum vom Kopfende seines Bettes aufzuragen. Das laute Knacken, als der trockene Ast brach. Kurz erwartete er den Schmerz der gebrochenen Hüfte, doch die war wieder in Ordnung. Sein Bett fühlte sich zu heiß an, als hätte es ihn aufgerieben, wie, als er über den Feldweg geschleift wurde.
Es war, als ob nicht genug Luft da war. Er sog sie heftig ein, bis weiße Sterne vor seinen Augen in der Finsternis aufblitzten und wieder erloschen. Als seine Lungen sich endlich mit der Luft, die da war, zufrieden gaben, brauchte Turel sich nicht länger ins Bettzeug zu krallen und ließ sich erschöpft aber wach aufs Bett zurücksinken.
Es musste irgendwann nach Mitternacht sein.
Denn fast punktgenau Mitternacht musste er sich Kim vorgenommen haben. Vermutlich hatte er nicht mehr als eine Stunde geschlafen. Vielleicht weniger. Gerade genug, um von seiner Strangulation zu träumen. Dabei war die Entfremdung der Traumwelt tätig gewesen. Mingzi und Dennis schienen pechschwarz und dampfend, wie aus Teer gegossen. Leicht glänzend. Und Kim war da gewesen, nackt, bis auf einen altmodischen, klobigen Fotoapparat, mit dem sie Bilder von Turel schoss. Das Licht der untergehenden Sonne hatte sacht ihre Brüste beschienen.
Turel war schwindlig. Kopfschmerzen. Es war, als wäre sein Hirn in Dornenranken gewickelt, die die weichen Windungen einschnürten. Nun, da er wieder waagerecht lag, beruhigte es sich langsam. Er wandte den Kopf hinüber, wo Laura von ihm abgewandt schlief. Zusammengekrümmt und ihm den nackten Rücken zugewandt. Die Decke vor sich zerknüllt. Das kurze, blonde Haar schien in der Dunkelheit fast farblos.
So langsam schienen sich die Dornenranken in seinem Kopf wieder zu lockern.
Seine Fingerspitzen brannten leicht. Wenn er es nicht besser wüste, fühlte er sich fast, als wäre er gerade erst vom Kreuz genommen worden. Wobei er instinktiv wusste, dass er Schmerzen gehabt hatte, an die er sich kaum erinnern konnte.
Laura gab irgendeinen schlafenden Laut von sich. Turel befreite sich schließlich aus der Überdecke und ging an dem Schrottwürfel vorbei, der wie ein Kunstgegenstand neben dem Teppich stand. Direkt gegenüber zum Balkonfenster, wo das leichte Licht ins Zimmer fiel, mit seiner Künstlichkeit der Stadt. Turel schob die Vorhänge noch ein Stück weiter beiseite und öffnete die Glastür. Trat hinaus auf den winzigen Balkon mit dem spitzen Friedhofsgeländer. Die kalte Nachtluft schlug ihm entgegen. Er fühlte, wie Kälte durch die Löcher in Händen und Füßen schneller von ihnen Besitz ergriff und bei der Ausbreitung half.
Turel sah hinunter zu den gelben Lichtern der Straße. Kaum etwas hatte hier noch auf. Der Döner hatte zu. Einige andere Geschäfte auch, deren Schaufenster leicht und schwach leuchteten. Ab und an fuhr ein Auto vorbei. Die Straße glänzte nass, es musste wohl geregnet haben.
Die Kälte der Nacht mit ihrem leichten Geruch von Abgas, Regen und der Frische kroch an Turel vorbei ins Zimmer und ließ Laura schließlich aufwachen, die sich nach einem Moment zögerlich umwandte und keinen Turel neben sich sah. Sich leicht aufrichtete und ihn schließlich am Balkon stehen sah. Die kalte Luft hatte sie erwachen lassen und nun fühlte sie sich tatsächlich wach. Rieb sich die Augen und stand auf, schwang die Überdecke um ihre Schultern und zog diese wie einen überlangen Umhang hinter sich her.
„Turel …? Was machst du da?“, fragte sie und stand nun hinter ihm an der Balkontür.
„Ich schaue mir die Stadt an. Kann nicht schlafen.“
Er fühlte jede seiner Narben. Fühlte die Kälte in die unsauberen Furchen in seinem Gesicht kriechen. Spürte die Narbe an der Kehle. Fühlte die kalten Fingerspitzen, die Löcher in Händen und Füßen. Fühlte das Fehlen seiner Hoden, die Leere hinter seinem Schwanz, als hätten seine Eier sich einfach davongestohlen. Er fühlte jede einzelne kleine Narbe, die der Feldweg ihm zugefügt hatte. Es hatte etwas Belebendes, und trotzdem fühlte er sich schwer. Fühlte das Ziehen der Sehnen, die verschoben worden waren. Er fühlte sich, als hätte er fast zu viel mitgemacht. Er fuhr mit der Zunge an seinen Zähne entlang und versuchte festzustellen, welcher echt war. Es gelang ihm nicht.
„Und? Was tut die Stadt so?“, fragte Laura unsicher.
„Sie liegt leuchtend da. Ich weiß nicht mal, ob sie schläft oder nicht“, er sah in die Ferne zu den glänzenden Häusern. Den Glasfassaden, die von innen her beleuchtet wurden wie riesige Mückenlampen.
Laura würde gern irgendwas sagen, aber sie wusste einfach nicht, was. Ihr fielen nur leere Phrasen ein wie: Alles in Ordnung, oder was ist los? Nichts, was Substanz hätte. Doch wenn sie da so an dem Geländer standen, wurde ihr umso bewusster, wie richtig sie gelegen hatte. Nur zwei verlorene Seelen, genauso kam sie sich vor.
Das alte Geländer, was hier und da rostete, teilweise kleine, grüne Moosflechten enthielt, direkt vom Friedhof in die luftige Höhe des Hauses.
„Wie ist dein Raubzug eigentlich gelaufen? Ich hatte dich noch gar nicht gefragt“, meinte er in die Nacht hinaussehend.
„Ganz gut. Wo warst du eigentlich? Ich habe eine Weile auf dich gewartet.“
„Der Türsteher hat mich nicht reingelassen. Er meinte, ich sehe nach Ärger aus“, meinte Turel, sich am Geländer festhaltend. „Dann habe ich Kim getroffen.“
„Kim ist die Blogerin?“, hakte Laura nach, glücklich, dass es etwas gab, worüber sie reden konnten.
„Ja“, meinte Turel, lehnte sich leicht über das Geländer und sah in die schwindlige Tiefe hinab, und der nass glänzende Boden sah ganz so aus, als würde sich eine Dornenranke aus dem wuchtigen Abflussgitter des Bordsteins winden. „Sie schreibt hauptsächlich über Gräueltaten und Elend der Moderne. Da passt wohl ganz gut rein, was ich so erlebt habe. Bist du sauer, dass ich sie gefickt habe?“, fragte er schließlich.
„Ich denke nicht“, meinte Laura. „Bei dir weiß ich wenigstens, dass es dir um den Genuss geht. Magst du wieder mit mir ins Bett kommen? Es ist verdammt kalt hier draußen.“
„Ich finde es belebend. Konnte nicht mehr schlafen.“
„Es ist irgendwann zwischen zwei und drei, willst du wirklich nicht mehr schlafen?“, hakte Laura nach.
Turel sah hinaus in die weite Nacht. Es waren keine Sterne am Himmel. Nur die künstlichen Lichter der Stadt, die noch strahlten. „Ist es nicht merkwürdig?“, begann Turel. „Die Sterne sind doch weit entfernte Sonnen, die schon lange gestorben sind, bevor ihr Licht uns je erreicht. Und jetzt sieh dir mal unsere eigenen Sterne an. Die Lichter der Stadt. Sie leuchten bunter und immerzu. Doch auch sie sind nicht lebendig, sondern nur elektrische Geräte. Überall in der Stadt leuchten sie.“
Laura nahm seine Hand, glitt mit ihren kleinen Finger durch das Loch darin. Fand so besseren Halt. „Komm, wir gehen wieder ins Bett. Es ist kalt hier draußen. Im Bett wird es warm sein“, sie zog leicht an ihm und Turel folgte ihr in die Wohnung. Laura ließ seine Hand wieder los und ihren Finger aus seiner Hand rutschen. Turel schloss die Balkontür und ging wieder ins Bett. Laura breitete die Überdecke aus und kroch zu Turel. Sie schlang ihre Arme um ihn und zog seinen Kopf an ihre Brust, als wollte sie ein Kind trösten. Turel schlang seine Arme um sie und ließ sich von ihr im Arm halten.
Er sog ihren vertrauten Geruch und die Wärme in sein kaltes Inneres auf. „Als ich vorhin aufgewacht bin, konnte ich plötzlich kaum noch atmen. Es war, als wäre einfach nicht mehr genug Luft da. Ich habe von diesem einen Tag geträumt“, meinte er. „Auf dem Feld mit den Stoppeln wanden sich lauter Körper. Sie hatten etwas Verformtes. Lagen wie Schnecken unnatürlich da und krümmten sich.“
Laura hielt ihn fester in den Armen.
„Weißt du noch, als wir Kinder waren? Du meintest, man könnte alles ertragen, wenn man nur stark genug wäre. Du hast es ertragen, Turel“, sagte Laura fürsorglich. „Du bist ein harter Junge, ein ganz harter Jungen“, lächelte sie sanft.
Langsam wich die Kälte aus ihm. Er inhalierte diesen sauberen Babygeruch, der von Laura ausging. Schloss die Arme fester um ihr weiches Fleisch. „Ich habe es überstanden“, meinte er gedämpft von ihren weichen Brüsten.
„Das hast du“, bestätigte Laura. Legte die Wange auf seinen Kopf. „Du bist der Stärkste von allen“, meinte sie und strich sanft über seinen Rücken.
11. Die Dönerbude des Schicksals
Aus dem wuchtigen, groben Abflussgitter am Fußweg vor Turels Haus ragte eine dünne Dornenranke, die auf das Haus zu kroch.
Die Sonne schien über die Gebäude hinweg und erfasste das Haus, in dem Turel wohnte, nur zur Hälfte. Genauso wie die Straße im Schatten lag, über die er ging. Durch die Glastür in die kleine Dönerbude. Es war wirklich nur ein kleiner Laden in einer Reihe von Häusern. Glastür und große Fenster. Linkerhand eine Vitrine mit all den Salaten und Kräutern, derer man nun mal außer Fleisch bedarf, um einen Döner ordnungsgemäß zu stopfen. Dahinter drehte sich hypnotisch der Dönerspieß. Rechts befand sich eine Art langer Tisch, der sich die Wand entlang wand und mit seinen Barstühlen wirklich wie eine Art Bar wirkte.
Turel fühlte sich nach dem wenigen Schlaf gestern Nacht merkwürdig überwach und doch verträumt. Er hatte das Gefühl, als wären alle Kanten, jede Struktur und jede Textur extrem hochgeschraubt. Fast so scharf, dass sie jeglichen Sinns beraubt schienen. Er bestellte seinen üblichen Döner und beobachtete, wie der Dönermann die schmalen Stückchen von dem Dönerspieß schabte. Wie ein Tischler, der an einem Werkstück hobelt, und die fleischigen Hobelspäne fielen auf das silberne Blechgehäuse um den Spieß.
Stück für Stück wurde von dem Spieß abgetragen. Über die Stunden und Tage hinweg. Irgendwann war er einfach alle.
Doch Turel war sich nicht sicher, was es für ihn im übertragenen Sinne bedeutete. Es war nichts Bewusstes, nur ein ganz leichter Blick über die Schulter, um sich seiner Umgebung sicher zu sein, als er ihn sah.
Dennis Dorl saß dort, mit dem Rücken zu Turel, und war im Begriff, einen Döner zu essen. Turel erkannte den kurzgeschorenen Kopf und den flauschigen Bart sofort. Vermutlich war Turel ihm nicht mal aufgefallen, was bei einem merkwürdigen Kerl wie Turel schon von völliger Abwesenheit zeugen musste.
„Mit allem?“
„Allem“, meinte Turel die schwarze Lederjacke anstarrend, die Dennis breiter Rücken spannte.
Der Staub und das verkrustete Blut, als er auf dem Feldweg gelegen hatte, flammten vor Turels Augen auf, während der Dönermann den Döner füllte. Wie Dennis mit schweren Schritten über den Feldweg auf Turel zugekommen war, ihn zu sich gezogen hatte und die Schlinge um seinen Hals gelegt. Das getrocknete Blut, das von Turels Augenlidern gebröckelt war. Der Ruck, mit dem er in die Luft gerissen worden, der Fall, und der Schmerz, der wie ein elektrischer Impuls vom Becken in Turels Wirbelsäule gezuckt war. Seine Organe sich hat schmerzhaft verkrampfen lassen. Und Turel sah auch, wie Dennis den Hammer geschwungen hatte. Die Wucht, die das Holzkreuz hat erzittern lassen. Das spitze Metall, das Turels Hand durchdrungen hatte, die Speiche des Mittelfingers weiter zur Seite geschoben.
Turel hob eine zitternde Hand an seinen Kopf. Ein merkwürdiges Unbehagen nistete sich wie Maden in seinen Gedärmen ein. Die Hand vor dem Gesicht öffnete er langsam die Augen und schloss das linke. Spähte durch das Loch in seiner Hand hindurch, direkt zu Dennis.
Ein breites Lächeln ergriff von Turel Besitz. Der Dönermann schubste ihn an, da er auf nichts reagiert hatte. Rasch wandte Turel sich um, nahm den Beutel mit dem eingepackten Döner entgegen und wollte gerade das Geld hervorholen, da hob der Dönermann seine Hand und meinte: „Du hast schon genug gezahlt.“
Turel nahm das hin und ging auf Dennis zu und meinte: „Hey, Kumpel, kennst du den schon? Jesus Christus kommt in ein Hotel. Er drückt dem Portier drei Nägel in die Hand und fragt ihn: ‚Kannst du mich irgendwo festnageln?‘“, dabei stand Turel nun neben Dennis und hielt ihm die Linke vors Gesicht.
Einen Moment starrte dieser das Loch in der Hand an und die Narben um die Fingernägel.
Dann sah er Turel hinauf, der ihn mit seinen Goldzähnen angrinste. Äußerlich ruhig, doch innerlich stand Dennis unter Strom.
„Lange nicht gesehen, was? Muss ungefähr ein Jahr her sein. Hach, wie die Zeit vergeht“, meinte Turel gespielt und setzte sich neben Dennis.
„Und wie geht’s so? Lange keinen mehr genagelt, oder?“, grinste Turel ihn an und Dennis drehte den Kopf weg. Murmelte irgendetwas in seinen Bart.
„Was?“, reagierte Turel darauf. „Irgendwie kann ich dich nicht verstehen.“
„Tut mir leid“, sagte Dennis nun.
Stille, in der deutlich zu hören war, wie irgendein Mädchen hinter ihnen Falafel bestellte. „Es tut dir leid?“, fragte Turel.
„Ja“, meinte er auf seinen Teller starrend. Die letzte Ecke des Döners lag noch darauf. Dennis fühlte sich ertappt und zutiefst schuldig. Er wollte nicht mal das vernarbte Gesicht des Mannes neben sich betrachten. Konnte seine eigene Handschrift nicht mehr sehen.
„Lass das lieber mit den Witzen“, meinte Turel. „Du bist einfach nicht gut darin.“
„Das war kein Witz“, erwiderte Dennis. „Es tut mir wirklich leid“, meinte er gedämpft.
„Ach? Wie kommt das denn?“, Turel saß seitlich auf dem Barstuhl, Dennis zugewandt und ein Arm auf der weißen, fleckigen Tischkante.
„Hör zu, es tut mir wirklich leid. Ich habe das schon viel zu lange gemacht. Das mit dir war nichts Persönliches. Mingzi hat mich bezahlt und ich habe nur meine Arbeit gemacht“, noch immer wollte er Turel nicht ansehen. Prägte sich den kläglichen Rest des Döners ein, der da vor ihm lag.
„Du weißt also gar nicht, warum?“
„Nein“, bestätigte er traurig.
„Du weißt nicht, ob ich die Freundin von Flitzwitz flachgelegt habe oder einfach nur ein kleiner Eierdieb bin? Du weißt nicht mal, ob ich’s verdient habe oder einfach nur aus Spaß gefoltert wurde?“, fragte Turel nach.
„Ja“, bestätigte er wieder. „Ich weiß nicht, warum. Ich habe nur meine Arbeit gemacht.“
Dennis konnte fast ein Messer spüren, dass sich in seinen Nacken bohrte und er wusste, dass er es auch verdient hätte, doch Turel boxte ihn nur freundschaftlich in die Schulter und brach in schallendes Gelächter aus, sodass Dennis ihn einfach ansehen musste. Die Goldzähne glänzten deutlich in Turels weit aufgerissenem Mund. Die Narben in seinem Gesicht waren voller Schatten und Tiefe und Dennis konnte ihn einfach nur ansehen.
Langsam beruhigte Turel sich wieder. Wischte sich die Tränen aus den Augen, trotzdem glänzten die Schluchten darunter feucht. „Du bist wie dieser KZ-Typ, der halt einfach nur seine Arbeit gemacht hat“, Turels Stimme wurde nun ernster: „Ein guter und fleißiger Arbeiter. Dummerweise bestand seine Arbeit darin, die Vernichtung von Juden zu planen. Ist es nicht so?“
Dennis nickte bitter.
„Man, man, man“, meinte Turel heiter. „Als ich dich hier sitzen sah, dachte ich schon, du würdest angreifen wie ein ordentlicher Biker oder so. Siehst ja auch so aus. Bart und Lederjacke. Ich dachte, das würde übel werden, aber du sitzt einfach nur da wie ein Trauerkloß und alles tut dir leid? Auf irgendeine Weise ist das wirklich enttäuschend.“
„Wenn du dich rächen willst, dann mach es einfach und labere nicht um den heißen Brei herum, das ist ja fast wie …“, fuhr es scharf aus Dennis, und brach kurz vor Ende ab.
„Wie …?“, fragte Turel. „Wie Folter vielleicht?“, grinste er breit. „Keine Sorge, ich stoße dir schon kein Klappmesser in die Seite“, meinte Turel und tätschelte vorsichtig Dennis’ kurz geschorenen Kopf. „Ich räche mich, aber nicht so plump und ganz sicher nicht heute“, er ließ von Dennis. „Wenn wir schon mal hier sind, lass uns reden. Du sagtest, du willst das nicht mehr tun? Bedeutet das, ich war der Letzte?“
„Du warst nicht der Letzte, aber ich höre trotzdem damit auf.“
„Warum?“, fragte Turel „Also, so wie ich das beurteilen kann, bist du doch ganz gut darin. Was ist denn los? Sag nicht, dass du langsam zu alt für so was wirst.“
Dennis schwieg.
Er schluckte bitter und fragte schließlich leise: „Darf ich ehrlich sein?“
„Ich bitte darum“, meinte Turel.
Dennis sah mit seinen müden von Tränensäcken und Falten unterlegten Augen zu Turel hinüber. Die Traurigkeit ergriff Besitz von dem ganzen, scharfkantigen Gesicht. „Ich habe Angst um meine Seele“, meinte er traurig.
Turel sah ihn schweigend an. Dann musste Turel kichern. Legte seinen Kopf auf die Arme und lachte. Dennis stand schwerfällig auf und beschloss, die Dönerbude ihrem Schicksal zu überlassen und ging. Turel rappelte sich auf und lief ihm kichernd nach. Versuchte sich zu beruhigen: „Man, jetzt lauf doch nicht weg. Bleib hier“, er ging Dennis nach, der nicht sonderlich energisch versuchte zu fliehen, aber auch nicht stehenblieb, um Turel ausgeliefert zu sein.
„Scheiße, das kann man ja niemandem erzählen. Was ist los mit dir?“, fragte Turel, der nun neben ihm herging. „Also, wenn ich das richtig verstanden habe, bist du so ein Typ, den man anruft, wenn man jemanden hat, den man nach allen Regeln der Kunst foltern lassen will, richtig? Du stellst keine Fragen, machst deinen Job und das war’s für dich? Und jetzt hast du plötzlich Angst um deine Seele? Wie kommt das denn?“
„Das verstehst du nicht“, konterte Dennis.
„Klar verstehe ich das nicht. Wie auch, wenn du es mir nicht erklären willst.“
Dennis blieb ein Stück weiter stehen und lehnte sich gegen ein gerade geschlossenes Elektrowarengeschäft. „Ich“, begann Dennis, „ich habe Menschen schlimme Sachen angetan. Sachen, die niemand jemand anderem antun sollte. Irgendwann … wenn ich ehrlich sein soll, war das bei dir. Nachdem wir, das heißt ich und dieser Chinese, mit dir fertig waren, sind wir über den Feldweg zurückgefahren. Er gab mir mein Geld und ich ging nachhause. Dann habe ich angefangen nachzudenken. Ich habe eine ganze Weile nachgedacht. Ich habe mich einiges gefragt.“
„Was denn zum Beispiel?“, fragte Turel.
„Was mit mir schiefgelaufen ist. Warum ich so was tue. Warum es überhaupt solche Menschen wie mich geben muss, die so was anderen antun. Ich habe über eine ganze Menge nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass sich was ändern muss. Dass ich damit aufhören muss“, wehleidig und den Tränen nahe sah er Turel an. Musterte, was das Ergebnis seiner Arbeit war. Die tiefen Narben, die er geschnitten hatte. Die goldenen Zähne. Die Narbe an Turels Hals.
„Ich bin kein Soziopath“, meinte er. „Ich weiß, was ich Menschen antue. Ich kann versuchen, es mir vorzustellen, was diese Menschen fühlen müssen“, er griff in seine Tasche, hielt Turel das silberne Klappmesser mit den runden, stilistischen Löchern im Griff hin: „Hier.“
Turel nahm es. Sah es überrascht an. „Was soll ich denn damit machen?“, fragte er erstaunt.
„Was immer du willst. Es gehört dir. Aber pass gut darauf auf, das Ding ist nicht unbedingt legal. Und es ist wirklich gut. Höllisch scharf … aber dass weißt du ja.“
Turel steckte es ohne den Blick von Dennis zu nehmen in die Tasche seiner roten Krokodillederjacke.
„Irgendwie ist es beruhigend“, meinte Dennis mit einem sanften Lächeln unter seinem Bart.
„Was denn?“
„Dass du seelisch nicht kaputtgegangen bist“, er überlegte, ob er es sagen sollte, entschloss sich, dass Turel die Wahrheit verdiente, nach allem, was er ihm angetan hatte. „Ich habe dafür gebetet, dass du es überstehen würdest.“
Turel musste lächeln. Das war einfach so derart surreal. Dazu kam, dass er immer noch alles so scharf und hyperrealistisch wahrnahm. Eine gesteigerte Wahrnehmung.
„Zu welchem Gott denn?“
„Zu dem, der gerade zuhören wollte“, sagte Dennis irgendwie erleichtert.
„Turel?“, hörte er von Weitem. Sah an dem noch immer an der Hauswand des geschlossenen Elektrowarengeschäftes lehnenden Dennis Dorl vorbei und einige Meter entfernt Lauras blonden Schopf auftauchen.
Turel wandte sich Dennis zu. Wusste nicht, was er sagen sollte. Was Nettes wollte er nicht sagen und was Fieses fiel ihm gerade nicht ein, als er zum Naheliegendsten griff: Er wedeltet ein paar Mal mit dem Zeigefinger vor Dennis herum und meinte schließlich: „Deine Mutter, deine Mutter …“, und zog verwirrt von dannen, mit dem weißen Beutel in der Hand und dem in Alufolie eingewickelten Döner, der inzwischen kalt geworden war.