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Teil 1 Verteidigung und Ausländerrecht › II. Verteidigungsstrategien zur Vermeidung der Ausweisung › 2. Nicht-EU-Ausländer (Erwachsene)
2. Nicht-EU-Ausländer (Erwachsene)
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Auf Nicht-EU-Ausländer findet die Ausweisungssystematik der §§ 53 ff. AufenthG Anwendung.
§ 53 AufenthG enthält insoweit die für jede Ausweisung anzuwendende Grundnorm.[1] Anders als unter Geltung des alten Ausweisungsrechts ist stets eine Abwägung der beteiligten Interessen im Einzelfall erforderlich, wobei die zum alten Recht entwickelten Grundsätze, insbesondere die Geltung und Reichweite von Art. 8 EMRK,[2] zu berücksichtigen sind; ein abgestuftes System von „Ist-“, „Regel-„ und „Kann-Ausweisung“ ist nicht mehr vorgesehen, es existiert nur noch ein Ausweisungstatbestand.[3] Der Grundtatbestand wird durch §§§ 54, 55 AufenthG ergänzt[4]; während § 54 AufenthG das „Ausweisungsinteresse“ konkretisiert, wird in § 55 AufenthG das „Bleibeinteresse“ des betroffenen Ausländers normiert. Die Vorschriften orientieren sich an den Regelungen zum alten Recht, wobei einzelne Ausweisungstatbestände (ersatzlos) gestrichen[5] und bei anderen durch Absenkung der Voraussetzungen eine erhebliche Verschärfung erfolgt ist. Daneben ist in Abweichung zum alten Recht über die Ausweisung nicht (mehr) nach Ermessen zu entscheiden, d.h. es liegt eine gebundene Entscheidung vor, die bei Fehlen der Voraussetzungen im gerichtlichen Verfahren durch das Gericht ersetzt werden kann.[6] Wird der Ausländer ausgewiesen, gilt es schließlich zu beachten, dass das neue Ausweisungsrecht eine Befristung zwingend vorschreibt (vgl. § 11 Abs. 2 AufenthG); die Ausländerbehörde kann die Entscheidung nicht mehr – wie nach altem Recht oftmals üblich – zurückstellen.
Hinweis
Über die Ausgestaltung der Befristung – insbesondere die Länge der Frist – ist dagegen nach Ermessen zu entscheiden, so dass die Entscheidung der Ausländerbehörde teils als gebundene teils als Ermessensentscheidung ergeht; der systematische Bruch wird zurecht als „unglücklich“ kritisiert,[7] es bleibt abzuwarten wie die Praxis mit dem Problem umgehen wird.
a) Ausweisungsinteresse
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Bereits die Unkenntnis der Ausweisungstatbestände kann schnell zu einem Fallstrick werden; so sollte der Verteidiger beispielsweise wissen, dass der Drogenkonsum einen Ausweisungsgrund darstellen kann (§ 54 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG), wenn er diesen Umstand strafmildernd geltend machen will. Die richtige Wahl der Verteidigungsstrategie setzt daher eine detaillierte Kenntnis der einzelnen Ausweisungstatbestände voraus.
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In Anlehnung an die frühere Rechtslage unterscheidet das neue Recht zwischen verschiedenen Fallgruppen, die als „schwer-“ (§ 54 Abs. 2 AufenthG) bzw. „besonders schwerwiegend“ (§ 54 Abs. 1 AufenthG) eingestuft werden. Der Ausweisungsgrund wird also durch die Regelung seinem Schweregrad nach bewertet und – als eine Art Gegengewicht – dem Bleibeinteresse des Betroffenen im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung gegenübergestellt.
Im Einzelnen gilt Folgendes:
aa) Das „schwerwiegende“ Ausweisungsinteresse (§ 54 Abs. 2 AufenthG)
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Hat ein bestimmter Lebenssachverhalt in § 54 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG eine Regelung erfahren, kann selbst dann nicht auf die Grundnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG zurückgegriffen werden, wenn § 54 AufenthG die Ausweisung aufgrund dieses Sachverhalts an bestimmte Voraussetzungen knüpft, die im konkreten Einzelfall nicht vorliegen; liegt also eine Zuwiderhandlung gegen Rechtsnormen vor, steht einer Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG die Sperrwirkung der spezielleren Norm (§ 54 AufenthG) entgegen (vgl. 55.1.0 Anwendungshinweise zum AufenthG)[8]. Das Interesse des Verteidigers sollte sich daher in erster Linie auf die Vorschrift des § 54 AufenthG konzentrieren. Insofern sind folgende Ausweisungstatbestände von besonderer Bedeutung:
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§ 54 Abs. 2 Nr. 1. Das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG wiegt gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist.
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Der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG setzt eine rechtskräftige Verurteilung voraus. Voraussetzung ist ein einziges Urteil[9]. Unerheblich ist, ob die Strafe wegen einer einzelnen Tat verhängt oder im Wege einer (nachträglichen[10]) Gesamtstrafe gebildet worden ist.[11] Unbeachtlich ist auch, ob die Strafe zu Bewährung ausgesetzt worden ist,[12] was gegenüber dem alten Recht eine erhebliche Verschärfung darstellt.
Hinweis
Wird die Strafe gemäß §§ 56, 57 StGB zur Bewährung ausgesetzt, ist diese Tatsache jedoch im Rahmen der Gefahrenprognose zu berücksichtigen[13]; da bei positiver Sozialprognose die Ausweisung regelmäßig nicht auf spezialpräventive Gründe gestützt werden kann (vgl. Rn. 84), fällt die Gefahrenprognose zum Vorteil des verurteilten Ausländers aus, sofern generalpräventiv motivierte Erwägungen (ausnahmsweise) unzulässig sind (vgl. Rn. 92 f.). In diesem Fall wird also im Ergebnis der Generalprävention die entscheidende Bedeutung zukommen.
Ist eine Gesamtfreiheitsstrafe (nachträglich) zu bilden, gilt es § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB zu beachten, wenn neben der Freiheitsstrafe eine Geldstrafe ausgeurteilt worden ist; in diesem Fall kann ausnahmsweise von der Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe abgesehen werden, was zum Fortfall des Ausweisungstatbestandes führen kann, wenn die Einsatzstrafe zwar eine Freiheitsstrafe darstellt, aber (knapp) unterhalb der Jahresgrenze liegt. Wird durch die Einbeziehung der Geldstrafe das für den Verurteilten kritische Strafmaß erreicht, so z.B. bei drohendem Verlust der Beamteneigenschaft,[14] ist anerkannt das die (Nicht-)einbeziehung der Geldstrafe einer besonderen Begründung bedarf. Die hierzu ergangene Rechtsprechung sollte in geeigneten Fällen auch im Hinlick auf § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG fruchtbar gemacht werden.
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Weitere Voraussetzung ist die Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat.
Dies ist bei in Tateinheit begangenen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten der Fall, wenn in den Urteilsgründen ausdrücklich ausgesprochen oder nach den Tatumständen oder den verletzten Straftatbeständen offensichtlich ist, dass das Gericht die Freiheitsstrafe von mind. einem Jahren schon allein im Hinblick auf die Vorsatztat(en) verhängt hat (vgl. 53.1.1.1 Anwendungshinweise zum AufenthG). Lässt sich der auf die fahrlässig begangenen Tat(en) entfallende Strafanteil nicht in Abzug bringen, scheidet der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG aus.[15]
Hinweis
Angesichts dieser Rechtslage stellt es eine nur scheinbare Wohltat dar, wenn das Gericht den bzw. die fahrlässig begangenen Tatteil(e) gemäß § 154a StPO einstellt. Obwohl die Zustimmung der Verteidigung nicht erforderlich ist, sollte der Verteidiger auf die daraus resultierenden, gravierenden ausländerrechtlichen Folgen aufmerksam machen.
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Ist wegen in Tatmehrheit begangener vorsätzlicher und fahrlässiger Taten eine Gesamtfreiheitsstrafe verhängt worden, ist der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfüllt, wenn
• | wegen einer Vorsatztat eine Einsatzstrafe von mind. einem Jahr ausgesprochen worden ist, |
• | aus den für die Vorsatztaten verhängten Einzelstrafen ausdrücklich eine gesonderte Gesamtfreiheitsstrafe von mind. einem Jahr gebildet worden ist oder |
• | nach den Strafzumessungserwägungen des Gerichts, den Tatumständen oder den verletzten Straftatbeständen offensichtlich ist, dass das Gericht auch allein wegen der Vorsatztaten eine Gesamtfreiheitsstrafe von mind. einem Jahr verhängt hätte (vgl. 53.1.1.1 Anwendungshinweise zum AufenthG). |
Hinweis
Ist der ausländische Mandant wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Taten angeklagt und eine die 1-Jahres-Grenze übersteigende Freiheitsstrafe zu erwarten, kann es ratsam sein, den „Weg der Verständigung“ zu suchen, um so den auf die Vorsatztaten entfallenden Strafanteil auf ein unterhalb der kritischen Grenze liegendes Strafmaß zu reduzieren.
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Die Vorschrift des § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG sieht keinen bestimmten Zeitpunkt vor, in dem die Straftat begangen worden oder die Verurteilung erfolgt ist. Das Ausweisungsinteresse ist also auch in Fällen gegeben, in denen die Straftat vor dem Inkrafttreten der Regelung bzw. ihrer Änderungen[16] begangen worden ist, wenn die Norm in dem für die gerichtliche Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung Geltung beanspruchte und ihre Voraussetzungen vorlagen.[17]
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§ 54 Abs. 2 Nr. 1a. Das Ausweisungsinteresse wiegt gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG bei einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jungendstrafe schwer, wenn diese wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verhängt wird, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gewalt für Leib oder Leben oder List begangen worden ist; liegt der Verurteilung wegen eines Eigentumsdeliktes eine serienmäßige Begehung zugrunde, ist der Tatbestand auch dann erfüllt, wenn der Täter keine Gewalt, Drohung oder List angewendet hat.
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§ 54 Abs. 2 Nr. 1a. § 54 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG erweitert den Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ganz erheblich, da hier bereits die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe genügt, ungeachtet ihrer Höhe und/oder der Frage einer Strafaussetzung; es reicht bereits die Verhängung einer kurzeitigen, zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe. Daneben wird – anders als in Abs. 2 Nr. 1 – auch die Jugendstrafe erfasst.
Hinweis
Soweit § 54 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat verlangt, ist beim Zusammentreffen von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten auch hier zu prüfen, ob der auf die Vorsatztat entfallende Strafteil ermittelt werden kann (vgl. oben Rn. 25 f.); gleiches gilt, soweit der Ausweisungstatbestand die Verurteilung wegen einer bestimmten Tat fordert, z.B. einer solchen wegen eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit. Trifft die Tat tateinheitlich mit einem anderen Delikt zusammen, welches in § 54 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG keine Erwähnung findet – z.B. (gefährliche) Körperverletzung in Tateinheit einem Verstoß gegen das WaffG – ist ebenso zu prüfen, ob der auf das benannte Delikt entfallende Strafteil ermittelt werden kann. Ist dies nicht möglich, findet der Ausweisungstatbestand keine Anwendung (vgl. Rn. 25 f.).
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Angesichts der erheblichen Verschärfung gegenüber der alten Rechtslage ist der Verteidiger daher insbesondere im Bereich der (drohenden) kurzzeitigen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) gefordert, vor allem dann, wenn diese – wie so oft im Bereich des Ausländerstrafrechts – auf die Notwendigkeit der „Verteidigung der Rechtsordnung“ gestützt werden soll.
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§ 54 Abs. 2 Nr. 2. Die Regelung in § 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfasst die Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr, die in § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nicht genannt wird. Anders als § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG setzt die Regelung eine Verurteilung ohne Strafaussetzung zur Bewährung voraus.[18] Der Tatbestand ist also nur erfüllt, wenn die Vollstreckung der Jugendstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Eine Aussetzung der Vollstreckung in diesem Sinne ist nur bei einer Entscheidung nach § 21 JGG gegeben, nicht jedoch bei einer an andere Voraussetzungen anknüpfenden Aussetzung gemäß § 88 JGG[19].
Hinweis
Hat das Strafgericht die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt, ist der Tatbestand auch dann nicht erfüllt, wenn diese Entscheidung zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung widerrufen worden ist.[20]
Im übrigen kann auf die Ausführungen zu § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verwiesen werden (Rn. 23 ff.).
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§ 54 Abs. 2 Nr. 3. Hat der Ausländer als Täter oder Teilnehmer eine in § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtmG genannte Tat verwirklicht oder versucht, liegt der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG vor. Durch den Verweis auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtmG ist also der Anwendungsbereich eröffnet, wenn der Ausländer ohne Erlaubnis Betäubungsmittel anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie ohne Handel zu treiben, ein- oder ausführt, veräußert, an einen anderen abgibt oder sonst in Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft.
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§ 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erfasst – anders als das alte Ausweisungsrecht – auch die Beschaffung zum Eigenkonsum, nicht aber den unerlaubten Besitz von Drogen oder deren Konsum.[21] Im Übrigen wird aber jeder Verstoß gegen das BtmG – einschließlich Anstiftung und Beihilfe (!) – vom Tatbestand erfasst. Die Erfüllung des Tatbestandes setzt insbesondere nicht voraus, dass der Verstoß geahndet worden ist, so dass auch die Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a StPO in den Anwendungsbereich der Norm fällt,[22] erfolgt eine Einstellung mangels Tatnachweises (§ 170 Abs. 2 StPO) bzw. ein Freispruch tritt indes eine (faktische) Bindung ein, da die Ausländerbehörde in der Regel über keine besseren Erkenntnismöglichkeiten verfügt.[23]
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§ 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG setzt also auch keine rechtskräftige Verurteilung voraus (vgl. 54.3.1 Anwendungshinweise zum AufenthG)[24]. Auch kommt es – anders als bei § 53 Nr. 2 1. Alt. AufenthG a.F. – nicht darauf an, ob der auf das Betäubungsmitteldelikt entfallende Strafanteil ausgeschieden werden kann, da bereits der Verstoß gegen das BtmG die Ausweisung rechtfertigt.
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Da § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG somit wenig Handlungsspielraum lässt, gilt es vorrangig das für die Gesamtabwägung ebenso bedeutsame Bleiberecht (Rn 65 ff.) sowie die Besonderheiten im Zusammenhang mit der Gefahrenprognose zu beachten (Rn. 81 ff.).
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§ 54 Abs. 2 Nr. 4. Einen Ausweisungsgrund stellt auch der Konsum von Heroin, Kokain oder eines vergleichbar gefährlichen Betäubungsmittels dar, sofern der Ausländer zu einer erforderlichen, seiner Rehabilitation dienenden Behandlung nicht bereit ist oder sich dieser Maßnahme entzieht; vergleichbar gefährlich i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG sind die in Anlage I, II und III zum BtmG aufgeführten Stoffe, nicht jedoch Canabisprodukte.[25]
Hinweis
Macht der Verteidiger den Drogenkonsum seines Mandanten strafmildernd geltend, sollte er zuvor sicherstellen, dass eine entsprechende Therapiebereitschaft vorhanden ist; andernfalls gerät der Mandant „vom Regen in die Traufe“.
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§ 54 Abs. 2 Nr. 5. Hindert der Ausländer eine andere Person in verwerflicher Weise, insbesondere unter Anwendung oder Drohung von Gewalt, am wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilzuhaben, ist der in § 54 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG genannte Tatbestand erfüllt.
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Angesichts der erheblichen Ermittlungs- und Beweisschwierigkeiten hat die Vorschrift keine praktische Relevanz[26].
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§ 54 Abs. 2 Nr. 6. Der Fall der sog. „Zwangsehe“ wird von § 54 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG erfasst. Da die „Zwangsehe“ häufig schwer von der nicht erfassten arrangierten Ehe abzugrenzen ist[27] und zudem der entsprechende Straftatbestand zahlreiche weitere Rechtsprobleme aufwirft (vgl. Rn. 164) kommt § 54 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG vorwiegend Symbolcharakter zu.
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§ 54 Abs. 2 Nr. 7. Der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 7 AufenthG ist erfüllt, wenn der Ausländer in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt dient, der deutschen Auslandsvertretung oder der Ausländerbehörde gegenüber frühere Aufenthalte in Deutschland oder anderen Staaten verheimlicht oder in wesentlichen Punkten vorsätzlich keine, falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des Terrorismus oder der Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verdächtig sind; die Ausweisung auf dieser Grundlage ist nur zulässig, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf den sicherheitsrechtlichen Zweck der Befragung und die Rechtsfolgen verweigerter, falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde.
Hinweis
Soweit die Verweigerung von Angaben als Anknüpfungspunkt für einen möglichen Ausweisungsgrund genannt wird, ist eine mögliche Kollision mit dem Schweigerecht des Ausländers zu beachten.[28]
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§ 54 Abs. 2 Nr. 8. Gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG wiegt das Ausweisungsermessen schwer, wenn der Ausländer in einem Verfahren nach dem AufenthG oder zur Erlangung eines einheitlichen Sichtvermerks nach Maßgabe des Schengener Durchführungsübereinkommens falsche oder unvollständige Angaben zum Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels gemacht oder trotz bestehender Rechtspflichten nicht an Maßnahmen der für die Durchführung des AufenthG zuständigen Behörde im In- und Ausland mitgewirkt hat, wobei die Ausweisung nach dieser Vorschrift nur zulässig ist, wenn der Ausländer vor der Befragung ausdrücklich auf die Rechtsfolgen falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen wurde.
Da vorsätzliche Falschangaben des Ausländers bzw. die Weigerung, erkennungsdienstliche Maßnahmen zu dulden, bereits nach altem Recht (vgl. § 46 Nr. 2 i.V.m. § 92 Abs. 2 Nr. 2 bzw. 1 Nr. 5 AuslG a.F.) die Ausweisung rechtfertigten, dürfte der Neuregelung – auch weiterhin – primär Klarstellungsfunktion beizumessen sein[29].
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§ 54 Abs. 2 Nr. 9. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG entspricht im Wesentlichen der alten Regelung des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F.; danach konnte ausgewiesen werden, wer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen oder außerhalb des Bundesgebietes eine Straftat begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche Straftat anzusehen ist. Die Neuregelung übernimmt den Regelungsinhalt fast vollständig; ersetzt wird lediglich das Wort „Straftat“ durch „Handlung“, womit der Gesetzgeber deutlich machen wollte, dass auch solche Handlungen die Ausweisung rechtfertigen können, die nach ausländischem Recht keinen Straftatbestand erfüllen[30] – wie z.B. die Beschneidung eines Mädchens.[31]
Hinweis
Die Regelung ist im Gesetzgebungsverfahren durch den Bundesrat[32] zu Recht – wenn auch letztlich ohne Erfolg – gerügt worden; hält man sich nämlich vor Augen, dass unter Geltung des alten Ausweisungsrechts bereits Geldstrafen von mehr als 30 Tagessätzen als „nicht mehr geringfügig“ eingestuft wurden (vgl. Rn. 46), d.h. ein „schwerwiegendes Ausweisungsinteresse“ begründen können, wären die übrigen, sehr viel schwerwiegenderen Ausweisungsgründe eigentlich überflüssig.
Da an der Regelung gleichwohl festgehalten worden ist, dürfte die zum alten Recht entwickelte Rechtsprechung fortgelten:
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Ein vereinzelter oder geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, d.h. Gesetze, Rechts-, Polizeiverordnungen oder Satzungen, erfüllt bereits nicht den Tatbestand. Umgekehrt bedeutet dies, dass auch ein vereinzelter Verstoß den Tatbestand erfüllt, wenn dieser nicht geringfügig ist und ein geringfügiger Verstoß die Ausweisung rechtfertigen kann, wenn dieser nicht nur vereinzelt begangen worden ist.[33]
Wann ein strafrechtlich erheblicher Verstoß als nicht mehr geringfügig anzusehen ist, konnte früher nur anhand einer umfangreichen Kasuistik beantwortet werden; dem Grundsatz nach galt, dass ein strafbares Verhalten keinen geringfügigen Rechtsverstoß darstellt.
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Die Frage hat durch die Anwendungshinweise zum Aufenthaltsgesetz eine Präzisierung erfahren, deren Kenntnis unabdingbare Voraussetzung einer sachgerechten Verteidigung ist. Danach ist für die Bestimmung, ob ein geringfügiger Verstoß i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vorliegt u.a. Folgendes von Bedeutung:
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Eine Straftat, die zu einer Verurteilung bis zu 30 Tagessätzen geführt hat, ist als geringfügig anzusehen (vgl. 55.2.2.3.1 Anwendungshinweise zum AufenthG).
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Eine mit Strafe bedrohte Tat kann nach erfolgter Einstellung des Strafverfahrens (§ 153a StPO) als geringfügig eingestuft werden, wenn der wegen dieser Tat festgesetzte Geldbetrag nicht mehr als 500 € beträgt (vgl. 55.2.2.3.2 Anwendungshinweise zum AufenthG)[34].
Hinweis
• | Diesen Gesichtspunkt sollte der Verteidiger stets bedenken, wenn er mit Gericht und/oder Staatsanwaltschaft über eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153a StPO verhandelt; gegebenenfalls kann dies auch ein Argument für die Reduzierung des festzusetzenden Geldbetrages sein. Lehnt der Mandant ein Einstellungsangebot – unterhalb der 500 €-Grenze – ab, sollte er dahingehend aufgeklärt werden, dass im Falle der Verurteilung bereits bei einer Geldstrafe von mehr als 30 Tagessätzen ausländerrechtliche Maßnahmen drohen. Wird dieser „Schwellenwert“ nicht erreicht, kann der Mandant wegen eines nicht nur vereinzelten Rechtsverstoßes ausgewiesen werden, wenn er über (einschlägige) Vorahndungen verfügt. Der Mandant geht also ein hohes Risiko ein, wenn er ein entsprechendes Angebot ausschlägt. |
• | Übersteigt der festzusetzende Geldbetrag die 500 €-Grenze, sollte – in Absprache mit dem zuständigen Staatsanwalt – eine (geständige) Einlassung vermieden werden; andernfalls droht die Gefahr, dass die Angaben des Mandanten im verwaltungsrechtlichen Verfahren zu seinem Nachteil verwertet werden. |
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Eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld von nicht mehr als 1.000 € geahndet werden kann, ist im Hinblick auf die in § 87 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung selbst dann als geringfügig anzusehen, wenn es sich um einen Wiederholungsfall handelt[35]; in diesem Fall kann jedoch eine Ausweisung wegen eines nicht nur vereinzelten Verstoßes gegen Rechtsvorschriften in Betracht kommen (vgl. 55.2.2.3.3 Anwendungshinweise zum AufenthG).
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Eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer höheren Geldbuße als 500 € geahndet worden ist, stellt gemäß 55.2.2.3.4 Anwendungshinweise zum AufenthG in der Regel keinen geringfügigen Rechtsverstoß dar.[36]
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Der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG setzt nicht voraus, dass der Verstoß schuldhaft begangen worden ist; es genügt bereits die objektive Rechtswidrigkeit.[37]
Hinweis
Dies sollte der Verteidiger beachten, wenn das Ermittlungsverfahren mit der Argumentation eingestellt wird, „der Beschuldigte habe jedenfalls nicht schuldhaft gehandelt“. Zwar ist die Staatsanwaltschaft – nach h.M.[38] – nicht verpflichtet, das Ermittlungsverfahren mit dem Ziel des Nachweises der Unschuld fortzuführen; ist jedoch der hinreichende Tatverdacht bereits aus anderen Gründen nicht gegeben, sollte jedenfalls in eindeutigen Fällen der Versuch der Gegenvorstellung unternommen werden. Andernfalls sieht sich der Rechtsanwalt der Gefahr ausgesetzt, der Ausländerbehörde gegenüber erklären zu müssen, dass das Ermittlungsverfahren zwar mangels Schuldfähigkeit eingestellt worden sei, das Verhalten seines Mandanten aber dennoch keinen Straftatbestand erfülle. Dass der Versuch, die Staatsanwaltschaft zu überzeugen, eher von Erfolg gekrönt sein wird, bedarf keiner weiteren Erklärung.
50
Ob der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bereits erfüllt ist, wenn lediglich der (dringende) Verdacht einer Straftat gegeben ist, war bislang umstritten.[39] Während eine entsprechende Auslegung von Teilen des Schrifttums[40] abgelehnt wird, ist die „Verdachtsausweisung“ in den Anwendungshinweisen zum Aufenthaltsgesetz ausdrücklich vorgesehen (vgl. 55.2.2.4 Anwendungshinweise zum AufenthG). Die Verwaltungsvorschrift folgt damit der bislang herrschenden Rechtsprechung,[41] die die Verdachtsausweisung im Hinblick auf den ordnungsrechtlichen Charakter der Ausweisung für zulässig hält.
Erhebliche Bedeutung kommt der Verdachtsausweisung vor allem für solche Tatbestände zu, die eine rechtskräftige Verurteilung voraussetzen, da der Ausländer in diesen Fällen bereits im Ermittlungsverfahren ausgewiesen werden kann. Eine entsprechende Vorgehensweise ist in den Anwendungshinweisen zum AufenthG (vgl. 55.2.2.5) ausdrücklich vorgesehen.
Hinweis
Die frühzeitige Ausweisung ist insbesondere dann äußerst misslich, wenn im Falle des Zuwartens – unter Mitwirkung des Mandanten – die Möglichkeit bestanden hätte, die Ausweisung doch noch zu vermeiden. Im Regelfall wird es daher ratsam sein, gegen die Ausweisungsverfügung selbst dann Widerspruch einzulegen, wenn praktisch keine oder nur minimale Erfolgsaussichten bestehen. Dabei wird insbesondere zu prüfen sein, ob die Staatsanwaltschaft das notwendige Einverständnis erteilt hat (vgl. § 72 Abs. 4 AufenthG). Ist dies nicht der Fall, ist die Ausweisung bereits aus diesem Grunde rechtswidrig.[42]
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Wird die Ausweisung gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG auf eine Auslandstat gestützt, kommt es nicht darauf an, ob die Tat im Ausland mit Strafe bedroht ist oder in den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts fällt, d.h. eine Verurteilung im Bundesgebiet möglich wäre; allein entscheidend ist die Frage, ob der konkrete Sachverhalt nach deutschem Recht als vorsätzliche Straftat anzusehen wäre.[43]
Hinweis
Soweit die alte Rechtslage u.a. die Möglichkeit der Ausweisung im Falle längerfristiger Obdachlosigkeit (§ 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG a.F.) oder Inanspruchnahme von Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie oder Hilfe für junge Volljährige nach dem Achten Buch des Sozialgesetzbuchs (§ 55 Abs. 2 Nr. 7 AufenthG a.F.) vorsah, sind die entsprechenden Regelungen ersatzlos gestrichen worden.