Kitabı oku: «Ichsucht», sayfa 2

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Ist die Zeit der Ichlinge tatsächlich zu Ende?

Wahrscheinlich wird es so sein, dass sich jeder sein eigenes Bild unserer Gesellschaft machen muss, um zu bewerten, wie er die Lage sehen möchte: egoistisch oder sozial? Vielleicht verändert sich der Blick auch je nach der momentanen Situation und je nachdem, wohin man schaut? Aber es ist Bestandteil unserer komplexen und unterschiedlichen Gesellschaft, dass sich jeder um seine eigene Sichtweise bemüht und sich immer wieder entscheidet, wie sein Lebensentwurf aussieht. Und genau das ist ja bereits das Kennzeichen für eine Gesellschaft aus Individualisten, die es dem Einzelnen nicht mehr abnimmt, wie er leben möchte, sondern ihm alles selbst überlässt – bei einer unübersehbar großen Palette von Möglichkeiten. Die Frage ist also nicht, ob wir in einer Gesellschaft der Ichlinge leben, sondern wie wir – jeder von uns – leben, unser Ich gestalten, formen und einsetzen – zum Wohl eines umfassenden Wirs, aber ohne uns selbst dabei aufzugeben und kleinzumachen: mutig, selbstbewusst und sozial bis zum Anschlag, mit einem starken Ich, aber auch weit darüber hinaus schauend – bis hinein in eine neue, kommende Zeit. Wird es tatsächlich die Zeit neuer Formen von Gemeinschaft sein und eine Zeit, in der Religion die größte Rolle spielt – weil Gott das Ich des Menschen aufbaut, schützt und ermöglicht? Wird es eine neue Gesellschaft geben, die nicht mehr aus einem Haufen total vereinzelter Menschen besteht, „deren eigentliches Wesen in ihrem Inneren verschlossen ist und die daher allenfalls äußerlich und von der Oberfläche her miteinander kommunizieren”?22 Und wenn sich beim Übergang zur Ichgesellschaft der soziale Horizont verengt (wie Horst-Eberhard Richter sagt23), dann möge sich nun beim Übergang in eine offene Wirgesellschaft der Horizont weit über die menschliche Perspektive hinaus ausweiten, vielleicht bis hinein in Gottes Reich. Vielleicht wird der Mensch erst dann frei von seinem eingefleischten Egoismus, wenn ihm klar wird, dass Gottes Möglichkeiten offenstehen und seine Wiederkunft bevorsteht, wenn etwas ganz Neues, Unerwartetes geschieht.

Die folgende Geschichte macht das deutlich.

Der Kampf ums Ich

In der großen Stadt kochten die Emotionen hoch. Seit Wochen ging es darum, wer am meisten Einfluss bekommen sollte. Die Situation war angespannt, teilweise kam es zu massiven Ausschreitungen, die nur mit starkem Polizeieinsatz begrenzt werden konnten. Es gab kein anderes Gesprächsthema mehr als die Frage, wer am wichtigsten war. Anlass für die Zuspitzung war der zunächst harmlose Wettbewerb gewesen, den eine Werbeagentur ausgeschrieben hatte. Es sollten sich unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft bewerben, sich darstellen und letztlich der Frage stellen: Wer hat den größten Einfluss? Eine Abstimmung sollte die Entscheidung bringen.

Es hatten sich 12 Bereiche der Gesellschaft zur Wahl gestellt: Vertreter aller Einzelhandelsgeschäfte hatten sich zusammengeschlossen zu einem Verein für unbeschränkten Konsum. Ihre Vertreter waren der Meinung, dass die Menschen nur dann glücklich sind, wenn ihnen alles zur Verfügung steht, was sie sich nur wünschen.

Einige potente Finanzberater hatten sich um den ersten Platz beworben mit dem Slogan: „Wo das Kapital ist, da ist das Leben.”

Eine Initiative für grenzenlose Mitbestimmung hatte sich gebildet, die sich vor allem aus ergrauten Altachtundsechzigern formierte. Sie waren der Meinung: „Wer mitbestimmen kann, ist beteiligt.”

Ganz anderes betonte die Gruppe der Eventanbieter: „Der Spaß zählt!” Diese Menschen waren der Meinung, dass das Leben ernst genug sei und deshalb der Spaßfaktor vergrößert werden müsste: „Wir müssen nicht alles so tierisch ernst nehmen!”

Seriöser war die Fortschrittspartei aufgestellt. Sie bestand aus ernst zu nehmenden Wissenschaftlern, die der Meinung waren, dass nur durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung des bisher Erreichten der Wohlstand und damit die Zufriedenheit der Menschen erhalten werden konnte.

Eine Gruppe, die sich „Die Mobilisten” nannten, plädierte für eine unbegrenzte Freiheit. Denn nur die Menschen, die ohne jegliche Einschränkungen tun konnten, was sie wollten, wären wirklich glücklich.

Ein paar Jugendliche der Stadt dagegen mobilisierte die Bevölkerung mit Schreckensbotschaften über Klimawandel und Naturzerstörung. Sie wollten, dass die Ökologie der wichtigste Faktor in der Stadt wurde nach dem Motto: „Wenn es der Natur gut geht, dann geht es uns allen gut.”

Eine weitere Gruppe nannte sich „Die Zukunftspioniere”. Sie setzten auf „Zukunft für jeden” und waren der Ansicht, dass jeder seine eigene Zukunft so schaffen durfte, wie er sie sich vorstellte.

Dann gab es die Fitnessfreaks. Sie wollten Menschen, die sich sportlich verhielten, denn „nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist”. Sie hatten dieses Schlagwort irgendwo aufgegriffen.

Aber es gab auch etliche, die für eine freie und grenzenlose Sexualität plädierten. Sie wollten, dass sich jeder so ausleben konnte, wie es ihm passte: „Wer tun kann, was er will, ist glücklich “, war ihre Devise.

Aber es gab auch die „Nichts-Partei”: Nach ihrer Meinung war der Mensch am glücklichsten, der nichts leisten muss, nichts erlebt und vollkommen befreit von allem Gegenwärtigen sich nur noch ins Nichts versenkt. Denn diese Menschen seien die freiesten auf der Welt.

Zuletzt meldete sich eine Gruppe von religiösen Menschen, die auf Werte achtete und wollte, dass der Bezug zu einer höheren Macht nicht verloren ging. „Nur wer glaubt, lebt wirklich”, betonten sie. An was die Einzelnen glaubten, war jedem freigestellt.

Vertreter dieser letzten Partei waren es, die bei der großen Bewertungsveranstaltung in der überfüllten Stadthalle in den Saal riefen: „Wir sind doch alle gleich. Wir haben alle höhere Ziele. Wie sind zwölf Vertreter von zwölf Richtungen. Wir sind die zwölf Jünger der neuen Zeit.” In dieser Veranstaltung sollten sich die Vertreter der unterschiedlichen Richtungen mit ihren Anliegen vorstellen, damit anschließend in einer Abstimmung die wichtigste Gruppe gewählt werden konnte. Und was niemand für möglich hielt, geschah: Alle 12 Bewerber erhielten genau die gleiche Stimmenzahl.

In den folgenden Monaten spaltete sich die Stadt in zwölf Bezirke auf und jeder Bewohner wählte seinen eigenen Schwerpunkt, nach dem er sein Leben ausrichtete:

In einem großen Kaufhaus wurde alles angeboten, was möglich war. Es war wie an Weihnachten, man konnte bekommen, was das Herz begehrte. „Einfach abräumen und mitnehmen!”, nannte sich dieses Angebot. Bezahlen konnte man später. Und die Menschen taten es, körbeweise schleppten sie die Waren nach Hause.

Die Kapitalisten versprachen hohe Renditen, redeten von enormen Zuwächsen und ständiger Kapitalvergrößerung. Wer zu dieser Gruppe gehörte, sah sich bald als Mitglied im Club der Millionäre.

Die, die für Mitbestimmung waren, veranstalteten viele Foren, wo man seine Meinung äußern konnte. Hauptsache, es wurde diskutiert, die Ergebnisse waren nicht so wichtig.

Die Eventmanager lockten die Menschen mit immer ausgefalleneren Ideen in ihre Veranstaltungen: Die Matthäuspassion von Bach wurde verjazzt in einer uralten, ungeheizten Kirche mit Glühweinstand angeboten. Ein Chor sang Beethovens 9. Sinfonie („Freude schöner Götterfunken”) auf einer Bergspitze. Man konnte sich per Hubschrauber hinaufbefördern lassen. Daneben gab es Theateraufführungen im Spaßbad und dann wurde als bisher größter Event ein Theaterkrimi in einem ganzen Stadtteil durchgeführt mit allen Bewohnern als Beteiligte.

So formte jede Gruppe in der nächsten Zeit auf ihre Weise das Leben in der Stadt. Und es gelang den unterschiedlichen Richtungen, die Menschen an sich zu binden. Wohin jeder gehörte, erkannte man an der jeweiligen Bekleidung. Man setzte sich ab von den anderen und zeigte seine Zugehörigkeit: mit Krawatte und Anzug, im Freizeitlook, in Jogginghose oder mit verführerischen Dessous, die offen getragen wurden. Natürlich gab es Menschen, die zu mehreren Bereichen gehörten. Aber das fiel nicht auf, da sie sich jedes Mal umzogen, wenn sie in einen anderen Bereich wechselten. Auf diese Weise war jeder mit seinen Vorlieben und Interessen genau identifizierbar.

Aber dadurch splitterte die Gesellschaft in der großen Stadt immer mehr auf. Man grenzte sich ab, lebte nur noch in seinem Bereich. Die Beziehungen untereinander erloschen. Jeder Bereich versuchte, sich selbst zu stärken, das eigene Anliegen hervorzuheben und in den Vordergrund zu schieben. Mal gelang es den einen besser, mal den anderen.

Dann kam der Tag, an dem ein Gerücht die Runde machte. Später konnte niemand mehr genau sagen, wo es begonnen hatte. Hatte es ein Fremder mitgebracht, der in die Stadt gekommen war? War es in den Kreisen derer entstanden, die sich aus allem heraushielten? Oder waren es die Unzufriedenen, die Ewiggestrigen, die es aufbrachten? Die Nachricht verbreitete sich schnell: „Es wird etwas geschehen!” Das war alles. Es war nicht klar, was geschehen würde. Aber da offen war, was es sein könnte, machte sich jeder seine eigenen Gedanken. Die einen redeten von einer großen Katastrophe. Die anderen von einer Invasion aus dem All. Wieder andere hofften auf einen Neuanfang. Jedenfalls war die Folge dieses Gerüchtes, dass sich die Menschen nicht mehr so wie bisher für die 12 wichtigsten Bereiche interessierten. Sie waren mehr mit sich und ihren Fragen beschäftigt. Sie standen zusammen und redeten miteinander. Sie machten sich Gedanken über die Zukunft. Das hatte es bisher nicht gegeben. Sie tauschten sich aus über ihre persönlichen Hoffnungen oder Befürchtungen. Wer – scheinbar – mehr wusste als der andere, wurde umlagert und ausgefragt. Für kurze Zeit interessierten sich die Menschen füreinander und sie begannen wahrzunehmen, wie starr und festgelegt ihr Leben geworden war. Manche begannen sich tatsächlich zu wünschen, dass es noch etwas ganz anderes geben würde, das von außen kommen müsste, um sie aus ihren Abhängigkeiten zu befreien. Der Wunsch wurde laut: Es möge doch tatsächlich endlich etwas Richtiges passieren!

Das konnten sich die 12 Mächtigen natürlich nicht bieten lassen. Sie trafen sich, um gemeinsam Notmaßnahmen zu überlegen, wie sie ihren Einfluss zurückgewinnen könnten. Die Menschen sollten sich mit ihnen und sich nicht mit etwas anderem beschäftigen, das außerhalb ihres Einflussbereiches lag. Und obwohl die 12 bisher Konkurrenten waren, begann sie nun ihre unterschiedlichen Angebote zu vernetzen. Sie hoben die Abgrenzungen auf, sie vermischten sich, kombinierten ihre Interessen und machten ihre Angebote damit attraktiver. Das wirkte sich auch auf die Kleidung aus: Nun wurde alles wild durcheinander kombiniert, alles war möglich, jeder konnte das anziehen, was ihm gerade gefiel. Es gab zuletzt nicht mehr zwölf unterschiedliche Anliegen, sondern nur noch das eine: Die Menschen auf seine Seite zu bringen, abzulenken und zu beschäftigen! Das gelang schnell. Denn die meisten Menschen konnten den Schnäppchenangeboten, den Kombiattraktionen und den Einführungsverlockungen nicht widerstehen. Das Gerücht war bald vergessen. Es gab so viel anderes. Ständig war etwas Neues los. Ständig mussten tolle Veranstaltungen besucht werden, die ein unvergessliches Erlebnis suggerierten, und immer mehr waren die Menschen damit beschäftigt, alles zu verstehen, um dann das nützlichste, beste, kostengünstigste Angebot herauszufinden. Sie hatten gar keine Zeit mehr, sich Gedanken darüber zu machen, dass es noch etwas anderes geben könnte, geschweige denn, dass es eine Zukunft gab, die ganz anders sein würde als das Heute. Alle waren mit der Gegenwart beschäftigt, sie hatten keine Zeit für die Zukunft, für das Morgen, für etwas, das vielleicht, irgendwann einmal, unter Umständen passieren könnte.

Es waren nur ganz wenige, die an dem Gerücht festhielten. Sie warteten, sie erwarteten etwas. Sie sehnten sich danach, denn sie sahen, dass eine Veränderung von außen kommen musste. Sie litten unter der Vereinnahmung, sie spürten den Sog der Gegenwart und sahen, wie die Menschen immer mehr in den Strudel gezogen wurden, der ihnen Glück, Wohlstand und Zukunft verhieß, sie aber nur ausnützte. Sie sahen, wie die Menschen sich in Wirklichkeit dabei mehr und mehr verloren, immer blasser, bedürftiger, ärmer wurden. Statt Glück zu gewinnen, verloren sie: sich selbst. Deshalb warteten sie und hofften, dass etwas geschehen würde, was die Menschen aufweckte. Sie streckten sich sehnsuchtsvoll danach aus. Und dann sahen sie, wie sich dort, weit im Osten, der Himmel veränderte. Es war so, als würde die Sonne aufgehen – und das, obwohl es bereits Tag war. Sie nahmen wahr, dass das Gerücht stimmte und etwas Neues hervorbrechen wollte. Aber nur sie erkannten es, die Menschen in der großen Stadt waren zu beschäftigt, um die lichten Zeichen der Veränderung zu bemerken.

Das versteckte und rudimentäre Ich

„Wo Es war, soll Ich werden.” Diesen prägnanten Satz formulierte Siegmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse 1933. Er macht deutlich, dass der Weg zum Ich lang und beschwerlich sein kann und Arbeit erfordert. Vor allem dann, wenn dieses Ich ein starkes Ich sein soll und nicht nur ein aufgeblähtes, narzisstisches Ich, das sich lediglich großmacht. Ebenfalls wird es anstrengend, wenn das Ich nicht nur klein, rudimentär und kindlich-fordernd bleiben, sondern eine erwachsene, mündige Form finden soll. Gesunde Ichwerdung erfordert den Einsatz der ganzen Persönlichkeit. Da ist es doch einfacher, so zu sein wie alle anderen auch.

In einer Gesellschaft, in der das Ich insgesamt überhöht wird, besteht die Gefahr, dass der Einzelne sein Ich aufgibt zugunsten eines allgemeinen (und damit unechten) Wir. Gerade die Menschen, die sowieso verunsichert sind und sich schwach vorkommen, finden es gut, wenn sie von der gemeinsamen Größe profitieren können. Damit ist man den ständigen Entscheidungen des Lebens enthoben. Man fügt sich ein, lässt andere entscheiden. Das ist der einfachste Weg, verlockend in einer Welt, die immer komplizierter und undurchschaubarer wird. So kommt es, dass sich die Ichlinge verstecken. Sie geben sich unauffällig und harmlos. Sie verbergen sich in der Masse ihresgleichen. Dort fallen sie nicht auf. Sie tauchen unter in der Gesellschaft der Individualisten. Dort können sie sich selbst verwirklichen: Sie profitieren von den anderen. Sie sind Konsumenten. Sie sind Verbraucher. Sie verbrauchen, was sie bekommen, für sich. Sie benötigen einander zur eigenen Bestätigung, indem man sich zugehörig fühlt. Oder ist es so, dass der Masse der Menschen Individualität suggeriert wird, um sie zu willigen Konsumenten zu machen? Umso mehr betont man die eigene Autonomie bis zum Egoismus: „Ich bin wie alle, aber trotzdem bin ich anders.” Der Individualist betrachtet alles von sich her und bewertet es aus seinem Blickwinkel. Der subjektive Eindruck zählt: Was er für richtig hält, ist richtig; was er will, steht ihm zu; was er tut, entspricht ihm und ist deshalb (für ihn) gut. Der Individualist sagt: „Von mir aus können es die anderen genauso machen. Aber sie dürfen mir nicht querkommen.” Die „Goldene Regel” (Matthäus 7,12) wird auf den Kopf gestellt. Der Individualist denkt: „Alle machen es ja so! Dann darf ich das auch.” Und umgekehrt ist sein Grundsatz: „Soll doch jeder tun, was er will!” So benötigt der Einzelne die anderen als Alibi für sein Verhalten, grenzt sich aber gleichzeitig von ihnen ab. Das ist ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen Zugehörigkeit und Autonomie. So unlogisch es klingt: Die Massebildung leistet dem Individualismus Vorschub und umgekehrt: Der Individualismus ist die Grundlage für die Entstehung einer Masse – eines bedingt das andere Das sieht beispielsweise so aus: Die Massengesellschaft redet den Menschen ein: „Tu, was du willst.” Jeder soll sich grenzenlos selbst verwirklichen. Wenn jedoch jeder genau das macht, führt dies zum Kollaps der Gesellschaft, weil sich alle in totaler Selbstbezogenheit nur um sich selbst drehen. Der Mensch wird immer einsamer. Viktor E. Frankl, der Begründer der Logotherapie (1905 - 1997), stellt fest: „Paradoxerweise bringt die Vermassung in der Industriegesellschaft eine Vereinsamung mit sich, die das Aussprachebedürfnis steigert.”24 Weil sich der Individualist einsam fühlt, verspürt er einen zunehmend unwiderstehlichen Drang nach Anschluss an irgendeine Menge von Menschen. In der Sehnsucht nach Zugehörigkeit ist er ausnutzbar. Er sucht immer wieder neu nach Selbstbestätigung und in der Befreiung von sich selbst nach jemand anderem, der ihm Entscheidungen abnimmt und ihn entlastet von der ständigen Frage, was er eigentlich will. An diesem Punkt ist gerade der Individualist eine leichte Beute für starke (Ver-)Führer. Sie und die Eingliederung in die große Menge der Masse versprechen ein leichtes Leben, Befreiung von den Ansprüchen des eigenen Ichs und gleichzeitig deren Verwirklichung. Man ist jemand, weil man dazugehört. Man ist wichtig, weil man ein Teil einer Bewegung ist. Aber damit wird deutlich, dass der Individualist jemand ist, der zwar gern „Ich” sagt, aber eigentlich kein eigenes Ich besitzt. Was er für sein Ich hält, ist etwas Äußeres, etwas Gedachtes. Er stellt sich vor, dass er so ist, aber er ist es nicht. Er tut nur so. Er dreht sich ständig um sich selbst und betont seine Eigenständigkeit, aber er fragt sich dabei, wie er ankommt, wie er sich optimiert, wie er sich am besten auf Kosten anderer verwirklicht. Und dabei ist er nicht frei. Er ist nicht wirklich beziehungsfähig, deshalb ist ihm auch sein eigenes Ich abhandengekommen – oder konnte sich überhaupt nicht entwickeln. Denn das Ich findet man nur in der Beziehung zu einem Du. Das würde erfordern, dass man aus sich herausgeht und dem anderen entgegentritt, jemandem aktiv begegnet: „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung”, sagt der jüdische Philosoph Martin Buber (1878 – 1965)25.

Das Ich, bevor es zum Ich wird, ist ein Es. Das Es bleibt im Ungefähren: Es nimmt etwas wahr, es fühlt etwas, es stellt sich etwas vor. Es bleibt allgemein und unbestimmt. Es hat sich noch nicht gefunden und weiß noch nicht, was es wirklich will. Es kreist um sich und dabei ist es verführbar, das zu tun, was alle tun. Das Es ist ein Teil einer allgemeinen Masse. Erst am Du wird der Mensch zum Ich. Denn in einer Beziehung zu einem anderen sagt der Mensch „Ich” und wird zu dem, der er ist. Erst durch ein lebendiges Gegenüber versteht sich der Mensch als eigenständiges Wesen mit einer sozialen Haltung und echter Verantwortung für den Nächsten. Das Es übernimmt keine Verantwortung, denn es ist ein „Dasein ohne Existenz”, wie der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969) beschreibt: „Im naiven Dasein tue ich, was alle tun, glaube, was alle glauben, denke, was alle denken. Meinungen, Ziele, Ängste, Freuden übertragen sich von einem zum anderen, ohne dass er es merkt, weil eine ursprüngliche, fraglose Identifizierung aller stattfindet.”26

Nicht der Einzelne handelt im täglichen Dasein aus seiner eigenen freien und verantwortlichen Entscheidung, sondern er wird getrieben und geleitet von dem unfassbaren und unmerklichen Einfluss des „man”. Er denkt, wie „man” denkt, er handelt, wie „man” handelt. In der anonymen Kollektivität dieses „man” ist jede Besonderheit des Einzelnen eingeebnet, alles ist gleichförmig geworden, unter dem Zwang der unsichtbaren und doch unwiderstehlichen Macht. Der Mensch ist gar nicht mehr er selbst, sondern in ihm lebt das „man”27. Er ist zum Teil einer „Masse” geworden.

Elias Canetti beschreibt 4 Eigenschaften einer Masse28:

1.Die Masse will immer wachsen. Wo viele sind, kommen immer noch mehr dazu. Was viele denken, sagen, meinen, kann nicht falsch sein. Wenn ich dazugehöre, bin ich genauso richtig wie alle anderen auch.

2.Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Wer dazugehört, wird nicht infrage gestellt. Alle sind eins. Es herrscht die Selbstgerechtigkeit der Gleichmacherei. Wir müssen uns nicht voneinander unterscheiden. Wir sind keine Ichs, sondern jeder ist ein Es, ein gleiches Teilchen.

3.Die Masse liebt Dichte. Jeder steht für den anderen. Das Gemeinschaftsgefühl ist grandios. Wir sind uns nahe, zwischen uns kommt nichts. Wir handeln gemeinsam wie ein Mann.

4.Die Masse braucht eine Richtung. Wir haben alle das gleiche Ziel. Wir gehen miteinander und wissen gemeinsam, was wir wollen, das macht uns unschlagbar.

Es ist es ein tolles Gefühl, Teil einer größeren Sache zu sein, mit dabei zu sein, wo etwas Großes geschieht – ohne dafür verantwortlich zu sein, Anteil zu haben an den großen Emotionen unserer Zeit – ohne sich selbst engagieren zu müssen, im Zuschauersessel zu sitzen und dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben wird – ohne irgendein eigenes Zutun. Man fühlt sich wichtig – ohne jegliches Risiko. Das ist bequem, das ist das Beste: Das Gefühl, ein Ich zu sein, ohne es in der Begegnung mit dem Du entwickeln, entfalten und leben zu müssen. Man findet sich gemeinsam unbesiegbar. Jeder nimmt, aber keiner gibt. Wie kann das funktionieren?

Die Masse bestätigt sich aus sich selbst heraus. Sie sagt sich: „Wir sind viele” – und das ist der Beweis, dass wir richtig sind. Der deutschamerikanische Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900 – 1980) nennt dieses Phänomen „Gruppennarzissmus”: „Der Gruppennarzissmus hat wichtige Funktionen. Vor allem fördert er die Solidarität und den inneren Zusammenhalt der Gruppe und erleichtert ihre Manipulation, da er an narzisstische Vorurteile appelliert. Zweitens ist er außerordentlich wichtig als ein Element, das den Mitgliedern der Gruppe Befriedigung verschafft, vor allem jenen unter ihnen, die an sich wenig Grund hätten, sich stolz und schätzenswert zu finden. Wenn man das armseligste, ärmste und am wenigsten respektierte Mitglied einer Gruppe ist, wird man für seinen elenden Zustand durch das Gefühl entschädigt: ‚Ich bin ein Teil der wundervollsten Gruppe der Welt. Ich, der ich in Wirklichkeit ein armseliger Wurm bin, werde zum Riesen dadurch, dass ich zu dieser Gruppe gehöre. ‘ Folglich entspricht der Grad des Gruppennarzissmus dem Mangel an wirklicher Befriedigung im Leben.”29

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