Kitabı oku: «Ichsucht», sayfa 3
Der Turmbau zu Babel und die christliche Gemeinde
Die Bibel warnt eindrücklich vor diesem gemeinsamen, grandiosen Ich, das die eigenständige Existenz und Verantwortlichkeit des Menschen aufhebt. Gott will die Mündigkeit des Menschen. Am Du Gottes soll der Mensch sein Ich entwickeln, auf eigenen Füßen stehen und seinen Weg in Verantwortung Gott gegenüber gehen. Gleich in einem der ersten Kapitel der Bibel ist als grundlegende Urerzählung von jenem gefährlichen Vorgang die Rede, bei dem der Mensch auf sein Ich verzichtet und ein gemeinsames, großes Wir an die Stelle Gottes treten soll: die Geschichte vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11, 1-9).
Am Anfang war alles gut: Die Menschen hatten alle einerlei Zunge und Sprache. Man verstand sich. Es gab keine Kommunikationsprobleme. Aber das führte bald dazu, dass man sich zu gut verstand. Und schnell fand man heraus, dass man vor allem gemeinsam stark war: Wenn man nur miteinander festlegte, was man wollte, dies dann mit Nachdruck verfolgte und sich dabei noch hohe Ziele setzte, dann war man unüberwindbar. Wenn man das Miteinander nur weit genug optimierte, könnte man es sogar schaffen, stärker als Gott zu sein. Deshalb war nun neben der gemeinsamen Sprache, dem gemeinsamen Willen und dem Zusammenschluss zu einer starken, unverbrüchlichen Gemeinschaft ein gemeinsames Ziel nötig, ein Projekt, das alles bündelte und fokussierte: Sie wollten einen Turm bauen, der mit seiner Spitze bis in den Himmel reichte, um sich einen unauslöschlichen, machtvollen Namen zu machen. Wenn sie das geschafft hätten, könnten sie damit beweisen, was der gemeinsame Wille vermag. Dann wäre es offensichtlich, wie unschlagbar sie wären, welch große Dinge des Menschen Geist bewirken könnte. Dann wären sie vielleicht sogar stärker als Gott? Auf jeden Fall hätten sie einen sichtbaren Beweis erbracht, was Menschen erreichen, wenn sie sich einig sind. Und für jeden Einzelnen, der an diesem Projekt beteiligt war und zu dieser Gemeinschaft gehörte, wäre das die Bestätigung zu der leistungsfähigsten, stärksten und besten Gruppe zu gehören. Der Gruppennarzissmus lässt grüßen!
Aber Gott widersetzte sich diesem Bemühen um eine gemeinsame, starke Grandiosität. Gott musste das tun. Was wäre gewesen, wenn die Menschen tatsächlichen ihren Turm gebaut hätten – und nun? Was hätten sie in ihm getan, mit welchem Inhalt hätten sie diesen grandiosen Traum gefüllt? Dann wäre doch klar geworden, wie hohl ihr Bemühen um Größe war: „Viel drum rum und nichts darin.” Es war die Gnade Gottes, dass er dem riesigen gemeinsamen Ich der Masse gleicher Menschen entgegentrat. Und seine Maßnahme war so einfach wie wirkungsvoll: Er kämpfte nicht gegen diese geballte Übermacht selbstgefälliger Überzeugung, sondern setzte an der Schwachstelle an: Gott störte die Gleichheit aller. Er verwies sie auf ihre Unterschiedlichkeit. Er entlarvte die Parole „Wir sind eins” als Unwahrheit. Er trat als großes Du den Menschen entgegen und verlangte, dass sie zum Ich wurden – jeder Einzelne für sich. Und von diesem Augenblick an war klar, dass sie nichts waren. Jeder sah nur sich selbst und wollte den Erfolg für sich. Der nackte Egoismus trat zutage, der Individualismus zeigte sich. Sie wollten zwar alle das Gleiche, aber jeder nur für sich. Das konnte gar nicht funktionieren. Und noch ehe der Turm vollendet war, zerstritten sich die Menschen in ihrer eigenen selbstgezogenen Bedürftigkeit. Jeder schrie: „Ich!”, und verlangte, dass sein Mangel gestillt würde. Weil sie nichts mehr gemeinsam waren, war auch der Einzelne nichts mehr, war jeder wieder nur ein kleines, unbedeutendes Teilchen. Sie spürten, dass sie sich erst einmal auf den Weg machten mussten, sich selbst zu werden, ich zu sagen. Und sie ahnten, dass das eine härtere Arbeit sein würde, als gemeinsam ein riesiges Hochhaus zu bauen, denn sie mussten an sich selbst arbeiten, sich ihrer Bedürftigkeit stellen und die echte Beziehung zueinander und zu Gott wagen.
Die Erzählung vom Turmbau zu Babel ist aktuell. Sie betrifft auch die christlichen Gemeinden. Sie ist vor allem dort aktuell, wo Gemeinde als Ersatz für das eigene Ich verstanden wird. Wo gedacht wird, man könnte für sich glauben lassen. Man wäre schon richtig dadurch, dass man zu dieser tollen Gemeinde gehöre. Wo man sich im christlichen Betrieb eingerichtet hat und davon profitiert, dabei zu sein. Die gemeinsamen Ziele, die man sich kühn gibt, dass Wachstum und der Standard, den man erreichen will, signalisieren, dass alles gut läuft. Man betont die Einheit und Einmütigkeit und fühlt sich stark, weil man sich als Teil einer Gemeinschaft versteht. Man ist ein Gleicher unter Gleichen und das bestätigt die eigene Existenz. Alles ist gut, alles kann so bleiben, wie es ist. Wir kommen gemeinsam in den Himmel, weil wir bereits heute ein Stück Himmel auf Erden leben.
Das Problem ist nur: Würde Gott in diese Gemeinde treten und würde die Wahrheit sichtbar werden, könnte es rasch zu Ende sein mit der Gleichmacherei. Dann würde man erkennen müssen, dass jeder ganz persönlich vor Gott steht und von Gott herausgefordert wird, Antwort zu geben.
Für Gottes Reich und seine Gemeinde gilt: Einheit und Pluralität sind keine Gegensätze. Die Einheit besteht aus starken Ichs, nicht aus gefügigen, gleichgemachten. Nachfolge ist keine Passivität, sondern ein aktives, eigenverantwortliches Vorangehen. Gemeinschaft bedeutet Arbeit, sich ausliefern, einander begegnen. Einheit entsteht dadurch, dass man die Gegensätze aushält, erträgt und sich ein- und unterordnet. Einmütigkeit geht nur über langwierige Prozesse des Redens und Hörens – vor allem in dem Bemühen, einander verstehen zu wollen. Die Gemeinschaft der Christen marschiert nicht im Gleichschritt der Gleichgesinnten, sondern lebt von der Verschiedenartigkeit der Geistesgaben, die im Leib Christi aufeinander angewiesen sind. Nicht alle sind gleich, sondern jeder hat seinen Auftrag, jeder trägt seinen Teil dazu bei, dass das Ganze gelingt. Die christliche Gemeinschaft ist keine abgeschlossene Ganzheit, sondern ein spannungsreiches Gefüge aus vielen selbstständigen Ichs, die sich einbringen, sich aufgeben und dabei sterben. Das Miteinander der Christen ist keine zu sichernde Stabilität, sondern ein labiles Fließgleichgewicht, keine statische Figur, sondern ein dynamischer Prozess, an dem jeder beteiligt ist. Jeder. Auf seine Weise. Und zwar so, dass miteinander Ziele erreicht werden, für die sich jeder auf seine ureigene Weise einsetzt. Viele unterschiedliche Schritte sind nötig, um am gemeinsamen Ziel anzukommen.
Die Gemeinde als Leib (1. Korinther 12,12 ff.) ist nicht das Produkt ihrer Glieder, sondern die Schöpfung Gottes. Niemand kann die Gemeinde für sich vereinnahmen oder seinen Wert daraus ziehen, dass er dazugehört. Denn jeder gehört Gott und alle sind von Gott beschenkt mit ihrem unverwechselbaren Ich. Das dürfen sie einbringen – zur Ehre Gottes und zum Aufbau dieses Leibes. Jeder gibt und Gott nimmt. Und von dem, was Gott dann allen austeilt – nicht gleichmäßig, nicht gerecht, aber doch so, dass jeder das bekommt, was er benötigt –,nährt sich die Existenz eines jeden. Jeder wird satt, niemand kommt zu kurz. Keiner leidet Mangel. Das echte Wir gibt dem Einzelnen Raum und die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern, sich zu entfalten und anders zu sein als die anderen. Das echte Wir ist das Wir, das Gott ermöglicht. Es setzt sich zusammen aus erlösten und befreiten Ichs.
Problemanzeige
Gibt es Ichlinge in der christlichen Gemeinde? Vor allem gibt es sie dort, wo Menschen ihren Mangel in der Gemeinde stillen wollen. Weil sie ihre tiefe Bedürftigkeit mitbringen und fordern, dass andere sie satt machen. Ichlinge gibt es dort, wo das Ich an der Garderobe abgegeben wird und die Gemeindeglieder zum Es werden, die sich wie Babys versorgen lassen. Es passiert dann Folgendes: Die Predigt wird zur Verkündigung und ist keine lebendige Begegnung mit Gott mehr. Das Gebet wird zur Liturgie und das Gespräch zwischen Mensch und Gott erlahmt. Der Glaube reduziert sich auf das Für-wahr-Halten und äußert sich nicht in einer tiefen Beziehung zum Gott des Lebens. Die Kirche wird zur Wohlfühlgemeinde und die Gemeinschaft zur Heilsinstanz eines frommen Wirs, das die Seele streichelt.
In der Gemeinschaft der Ichlinge hat auch die Ichsucht ihren Platz. Es ist das große Ich, das sich über die anderen kleinen, rudimentären Ichs stellt und sie beherrscht – weil es dadurch seinen Wert und seine Bedeutung bekommt. Aber alle anderen bleiben klein und abhängig.
Die tiefe Sehnsucht der Menschen nach dem wahren, dem wirklichen, dem echten Leben fordert den Menschen auf, sich auf die Suche zu machen. Es ist die Suche nach dem „Ich”. Wird er nicht fündig, misslingt die Suche oder geht in die Irre, wird sie zur Sucht: Der Mensch wird abhängig – von seinen Bedürfnissen und von anderen Menschen. Denn im Bereich seiner Sehnsüchte ist der Mensch am verletzlichsten. Wenn es um sein Ich geht, geht es um alles, geht es um seine ganze Existenz.
2Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt 1986, Seite 199
3Faith Popcorn, Der Popcorn Report, München 1992, Seite 40
4Claudia Szczesny-Friedmann, Die kühle Gesellschaft, München 1991, Seite 11
5Heiko Ernst, Psychotrends, München 1996, Seite 14
6Friedrich Schorlemmer, Zeitansagen, München 1999, Seite 342
7K. Peter Fritzsche, Die Stressgesellschaft, München 1998, Seite 10 ff.
8Johannes Fiebig, Abschied vom Ego-Kult, Krummwisch 2001, Seite 122
9Horst W. Opaschowski, Deutschland 2020, Wiesbaden 2004, Seite 39
10Horst W. Opaschowski, Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft haben, Hamburg 2010
11Matthias Horx, Das Megatrend Prinzip, München 2011, Seite 126
12www.alltagsforschung.de/die-psychologie-des-narzissmus/
13Gerhard Schulze, Die beste aller Welten, München 2003, Seite 212
14Peter Hahne, Schluss mit lustig, Lahr 2004, Seite 141
15Stephan Grünewald, Deutschland auf der Couch, Frankfurt 2006, Seite 63
16Hans-Willi Weis, Exodus ins Ego, Düsseldorf 1998, Seite 10 ff.
17Frank Schirrmacher, Ego – Das Spiel des Lebens, München 2013
18Thomas Ramge, Nach der Ego-Gesellschaft, München 2006, Seite 202
19Horst-Eberhard Richter, Das Ende der Egomanie, Köln 2002
20Horst W., Opaschowski, Wir!, Hamburg 2010, Seite 200 f.
21Stephan Valentin, Ichlinge, München 2012, Seite 328
22Horst-Eberhard Richter, Der Gotteskomplex, Gießen 2005, Seite 35
23Horst-Eberhard Richter, Die Krise der Männlichkeit, Gießen 2006, Seite 80
24Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge, München 2014
25Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 1995, Seite 12
26Karl Jaspers, Philosophie Band 2, Berlin 1932, Seite 51, zitiert nach Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, Stuttgart 1949, Seite 46
27Nach Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, Stuttgart 1949, Seite 46
28Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt 1980, Seite 30
29Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Hamburg 1977, Seite 229
2.Die Sehnsucht der Menschen
Auf der Suche nach dem Ich
In unserer konsumorientierten Gesellschaft werden alle Sehnsüchte der Menschen bedient. Für Geld kann man alles haben. Wirklich alles? Es gibt Sehnsüchte, die bleiben unbefriedigt, auch wenn man Geld genug hat. Sie zu stillen wird zu einem größeren Wert als alle Konsumartikel. Diese Sehnsüchte haben alle mit dem Ich des Menschen zu tun: mit seinem Selbstverständnis, seinem Selbstwert, seiner Identität. Der Kampf um das „Ich” ist entbrannt. Es geht darum, das Ich zu fördern, zu optimieren, zu finden und zu entfalten, möglichst groß zu machen, aufzupolieren, durchsetzungsfähig zu gestalten, unverletzlich abzusichern und vieles mehr. Aber das geht nur, wenn das Ich in seiner Wurzel gesund ist. Stimmt die Grundlage nicht, ist sämtliche Arbeit am Ich doch nur eine kosmetische Operation, eine mühsame Reparatur und es bleibt beim Versuch, etwas abzustützen, was wackelig ist. In folgenden Sehnsüchten zeigt sich, wo das Ich Mangel leidet:
1. Die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung
Liebe und Anerkennung sind etwas Selbstverständliches, sie sind überlebensnotwendig. Wer keine Liebe und Anerkennung bekommt, verkümmert. Deshalb will jeder Mensch wahrgenommen und geliebt werden. Er will wichtig sein. Aber wer gibt Liebe und Anerkennung, wenn sie jeder für sich möchte? In unserer Gesellschaft gibt es zunehmend viele Ichs, die gesehen werden wollen. Wer schaut sie an? Viele schreien nach Zuwendung. Wer hört sie und gibt ihnen, was sie brauchen?
2. Die Sehnsucht nach Sicherheit
Die Komplexität der Welt ist für viele verunsichernd. Die ständigen Veränderungen und Umbrüche lassen nicht zur Ruhe kommen. Was heute gilt, ist morgen anders. Die Zukunft ist fragwürdig. Das Gleichgewicht der Mächte ist filigran und bedroht. Die wirtschaftliche Stabilität ist nicht nachhaltig. Permanent bedroht eine Krise die momentane Ruhe. Es gibt keine wirkliche Absicherung, nichts ist tatsächlich dauerhaft stabil. Was ist zu tun? Wo gibt es Orte der Geborgenheit? Wo kann man sich wirklich sicher sein?
3. Die Sehnsucht nach Bedeutung
Man will gern eine wichtige Rolle spielen, nicht nur ein kleines Rädchen im allgemeinen Getriebe sein. In der großen Masse möchte man auffallen, als Individuum erkenntlich sein. Das zwingt zur Individualisierung, zum Selbstmanagement, man muss sich optimieren. Es genügt nicht, einer von vielen zu sein, man muss seine Besonderheiten herausstreichen – und wenn man dabei zum bunten Hund wird: Was ist mein Markenzeichen? Was ist meine Stärke? Auch Kleinigkeiten bekommen eine große Bedeutung und werden marktschreierisch präsentiert.
4. Die Sehnsucht nach Freiheit
Man sehnt sich nach Unabhängigkeit, will überall sein, alles mitnehmen und von einer größtmöglichen Weite und vielen Alternativen profitieren. Das Kleine genügt nicht, Einschränkungen hindern die Entfaltung. Es darf nichts geben, was die eigene Individualität begrenzt. Alles ist möglich und alles geht. Ja nicht mit weniger zufrieden sein. Das Leben leben bis zum Anschlag. Wehe, wenn sich Krankheit, Behinderung oder sonstige Beeinträchtigungen in den Weg stellen. Gesetze werden nicht akzeptiert, Verbindlichkeiten nur dann, wenn sie nicht einschränken.
5. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit
Der Wunsch, in der großen, weiten Welt einen Ort zu haben, wo man zu Hause ist, einen Menschen, bei dem man andocken kann und dem man der Wichtigste ist. Stärke dadurch bekommen, dass man Mitglied einer Gemeinschaft ist, Teil eines großen Ganzen, das einen stützt und schützt. Sich einmal nicht mehr um sich kümmern müssen, sondern sagen können: Wir sind viele – und ich gehöre dazu. Das Bemühen um die eigene Identität übernehmen andere, sie sagen einem, wer man ist, und sprechen einem zu, dass man okay ist, wie man ist.
Hinter all diesen Sehnsüchten steckt die Suche nach dem Ich. Es ist dem Menschen bei allem, was ihn beschäftigt, abhandengekommen, deshalb muss er es finden. Er jagt seinem Ich nach; hat er es gefunden, tut er alles, um es zu pflegen und zu nähren. Das Selbst empfindet einen Mangel und versucht ihn auszugleichen. Der Mensch ist innerlich nicht satt und versucht nun, seinen Hunger zu stillen. Er sorgt sich um sich – wer tut es sonst? Aber so vereinzelt der Mensch und das Ich bläht sich immer weiter auf. Irgendwann platzt die Blase. Die Ichsucht ist die Mangelerscheinung des Ichs. Es fehlt ihm an Anerkennung, Sicherheit, Bedeutung, Freiheit und Geborgenheit. Das, was fehlt, wird nun künstlich erzeugt. Aber da der Mangel nur mit echter Liebe, zuverlässiger Sicherheit, realistischer Bedeutung, verbindlicher Freiheit und gelassener Stärke zu füllen ist, bleiben viele Menschen hungrig. Ihr Hunger wird nicht wirklich gestillt, dem Mangel nicht aufgeholfen. Deshalb brauchen sie immer mehr. Die Gier wächst ins Unermessliche – und trotzdem reicht es nicht. Es muss immer mehr von demselben zugeführt werden. Das ist die Sucht. Das ist das unersättliche Ich, das nie zufrieden ist. Aber irgendwann kollabiert das Ganze, dann geht nichts mehr.
Definition von Sucht
Sucht ist nach WHO (World Health Organization) ein Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, verursacht durch wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Substanz, der für das Individuum und die Gemeinschaft schädlich ist.
Psychische (seelische) Abhängigkeit ist definiert als übermächtiges, unwiderstehliches Verlangen, eine bestimmte Substanz/ Droge wieder einzunehmen (Lusterzeugung und/oder Unlustvermeidung). Physische (körperliche) Abhängigkeit ist charakterisiert durch Toleranzentwicklung (Dosissteigerung) sowie das Auftreten von Entzugserscheinungen.
Abusus oder Missbrauch beinhaltet den unangemessenen Gebrauch einer Substanz/Droge, das heißt überhöhte Dosierung und/oder Einnahme ohne medizinische Indikation. Wiederholtes Einnehmen führt zur Gewöhnung, psychisch durch Konditionierung, körperlich in der Regel mit der Folge der Dosissteigerung.
Zu den krankheitstypischen Verhaltensweisen zählen Beschönigung, Verleugnung, Bagatellisierung und Dissimulation mit Verheimlichungstendenzen. Das Selbstwertgefühl ist durch Schuldgefühle reduziert, meist findet sich eine erniedrigte Frustrationstoleranz.30 Der Liedermacher Konstantin Wecker sagt es aufgrund eigener Suchterfahrungen so: „Sucht ist die Folge eines Phantomschmerzes, wenn man die Spiritualität wegoperiert hat.” Es fehlt also etwas ganz Entscheidendes und das führt dazu, dass man es sucht und das Loch mit unmäßigen Mitteln zustopfen möchte.
Der amerikanische Psychiater und Theologe Gerald May (1940 - 2005) bezieht den Grund der Sucht auf nicht erfüllte Sehnsucht: „In überfließender Liebe hat uns Gott erschaffen und uns dabei den Keim der Sehnsucht eingepflanzt. Unser ganzes Leben lang nährt Gott dieses Verlangen und lockt uns, das große Doppelgebot der Liebe zu erfüllen: du sollst Gott mit ganzem Herzen lieben und deinen Nächsten wie dich selbst! Wenn wir unsere Sehnsucht nach Liebe als den wahren Schatz unseres Herzens anerkennen könnten, dann wären wir in der Lage, mit Gottes Gnade dieses Doppelgebot auch zu leben.”31 Aber durch die Sucht wird die Sehnsucht gefangen gehalten und der Süchtige unterwirft sich Dingen, die er, wenn er ganz ehrlich ist, gar nicht will. Die Sucht missbraucht die Freiheit und verdrängt die Liebe. Das gilt für alle Formen der Sucht, so schreibt Gerald May weiter: „Dieselben Mechanismen, die zu Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit führen, wirken in uns, wenn wir an Idealen hängen, Macht anstreben, Arbeit und Beziehungen nachjagen, von Stimmungen und Fantasien abhängig sind oder was dergleichen an Abhängigkeiten noch denkbar ist … Die Sucht macht uns zu Götzendienern und -dienerinnen. Indem wir gezwungen werden, dem Objekt unserer Begierde zu huldigen, sind wir unfähig, Gott und unseren Nächsten in Freiheit zu lieben. Es ist paradox: Sucht bringt einen starken Willen hervor, unser Wille ist jedoch nicht mehr frei und unsere Würde längst untergraben. Sucht ist also ein Teil der menschlichen Natur und arbeitet doch gegen sie. Sie ist eine erbitterte Feindin der menschlichen Freiheit, geradezu eine Gegenleidenschaft zur Liebe.”
Was ist Ichsucht?
Ichsucht ist keine klinische Diagnose, sondern ein Überbegriff über all die unterschiedlichen Fehlformen des Ichs. Ichsucht beschreibt den Zustand des kranken, bedürftigen Ichs, das vieles auf sich nimmt, um sich zu stabilisieren und das dadurch in den Mittelpunkt der eigenen Aufmerksamkeit rückt. Es dreht sich alles um das Ich, ständig ist man mit sich selbst beschäftigt und andauernd bemüht, sich ins rechte Licht zu rücken. Je mehr das Selbstwertgefühl reduziert ist, desto mehr Aufmerksamkeit benötigt das geschwächt Ich. Da auch die eigene Frustrationstoleranz gering ist, erträgt man keine Kritik, keine Anfrage von anderen, reagiert frustriert und unternimmt alles, um sich selbst wieder aufzubauen. Ein beständiger Kreislauf, der viel Kraft kostet.
Im weitesten Sinn gehört die Ichsucht zu den nichtstofflichen Süchten wie Sexsucht, Internetsucht, Spielsucht, Kaufsucht, Esssucht, Magersucht. Aber es gibt zum Beispiel auch die Beziehungssucht, die Sportsucht oder die Arbeitssucht. Man spricht hier von den neuen Süchten des Alltags. Beim postmodernen Menschen tun sich offensichtlich immer mehr und größere Löcher auf, die er mit allen möglichen Drogen zu stopfen hat. Bei der Ichsucht heißt die Droge: Anerkennung, Akzeptanz, Aufmerksamkeit. Das Ich will beachtet werden. Ist das einmal nicht der Fall, macht es sich sofort deutlich bemerkbar. Das Ich benötigt starke Reize, um sich spüren und wahrzunehmen, dass es noch da ist. Wie bei einer Zahnlücke beschäftigt man sich ständig mit dem, was fehlt, und rückt es in den Fokus des eigenen Interesses. Da der gespürte Mangel nicht dauerhaft beseitigt werden kann – das Ich ist wie ein Fass ohne Boden – ist man ständig damit beschäftigt, es zufriedenzustellen. Das führt zu einer Suchtentwicklung: Die Gedanken kreisen um das Ich, man sehnt sich nach dem nächsten Kick der Anerkennung, giert nach dem Hochgefühl der Akzeptanz durch andere und versucht alles, um ein Übermaß an Aufmerksamkeit zu erreichen. Erst dann ist man einigermaßen zufrieden. Aber sobald man dieses Ziel erreicht hat, ist es bereits wieder zu wenig, und man braucht die nächste „Dosis”. Dadurch entsteht Abhängigkeit und der Versuch, den Rausch der allgemeinen Bestätigung und Wertschätzung zu erzeugen, muss immer öfter unternommen werden. Aber je öfter man das tut, desto tiefer gerät man in die Abhängigkeit – in die Abhängigkeit von dem kleinen, bedürftigen Ich, das gern groß und allmächtig sein möchte32.
Es gibt bei nichtstofflichen Süchten keine körperliche Abhängigkeit (wie z.B. beim Alkoholiker, der anfängt zu zittern, wenn er keinen Alkohol zu trinken hat), aber Kontrollverlust und psychische Abhängigkeit. Kontrollverlust bedeutet, dass sich der Ichsüchtige in seinem Suchtverhalten nicht mehr kontrollieren kann. In diesem Sinne ist auch der Ichsüchtige abhängig und zeigt Entzugserscheinungen. Diese machen sich vor allem dann bemerkbar, wenn sich der Betroffene aus seiner Sucht befreien will. Er wird von einem inneren Zwang beherrscht, der ihn nicht mehr loslässt. Der Ichsüchtige braucht Anerkennung und grenzenlose Akzeptanz, um gute Gefühle zu haben und negative Gefühle zu vermeiden (bzw. negative Gefühle zu betäuben) und um mit Belastungen und Problemen umgehen zu können.
Bei einem Ichsüchtigen ist es auch nicht wie bei einem Alkoholiker, der vielleicht nur einmal im Monat seinen regelmäßigen Rausch hat oder nur ab und zu betrunken ist, wenn sich eine Gelegenheit dazu bietet. Ein Ichsüchtiger ist immer von seiner Sucht betroffen, denn das Ich braucht beständig seinen „Stoff”. Es kann höchstens sein, dass die Gier nach Anerkennung, Akzeptanz und Annahme zeitweise nachlässt, weil der Ichsüchtige in Verhältnissen lebt, wo er sein nötiges Quantum in ausreichendem Maß beständig erhält. Weil er es dort freiwillig bekommt, muss er es nicht fordern, weil allen Beteiligten klar ist, dass er das „braucht”, bekommt er es selbstverständlich. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Ichsüchtige eine Gemeinschaft leitet, die ihm den Status zugesteht, den er für sich beansprucht – das wäre der Fall in einem autoritären, machtdominierten System. Da er die „Droge” beständig erhält, fällt er nicht besonders auf. Wird er jedoch infrage gestellt und wackelt seine Machtposition, wird die Ichsucht wieder stärker und macht sich vermehrt in Rastlosigkeit, Ungeduld, Kreisen um sich selbst und die eigenen Bedürfnisse bemerkbar. Unter Umständen agiert er dann massiv und aggressiv, um die Versorgung seines Ichs wieder abzusichern.