Kitabı oku: «Ichsucht», sayfa 4

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Formen der Ichsucht

Ichsucht hat viele Namen und Spielarten – von den leichteren Formen hin zu massiveren Ausprägungen. Ich zähle hier einige auf (in der Reihenfolge von leichter nach schwerer):

Selbstbewusstsein

Das Recht, seinen eigenen Selbstwert entfalten und leben zu können. Man weiß, wer man ist, und bringt sich mit seinen Stärken ein. Wer ein starkes Selbstbewusstsein hat, kann sich besser darstellen.

Individualismus

Die Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen ist wichtiger als seine Teilnahme an der Gemeinschaft. Das Individuum verlangt das Recht, sich so entfalten zu können, wie es möchte, ohne jegliche Einschränkung durch andere.

Assertion

Die Eigenschaft, etwas ganz sicher behaupten zu können und bei seiner Meinung zu bleiben. Wer assertorisch (englisch: assertive) ist, kann seine Interessen deutlich vertreten, sich die nötige Geltung verschaffen, seine Wünsche ausdrücken, bestimmt auftreten und sich durchsetzen.

Geltungsdrang

Das Bemühen, sich nach vorn zu schieben, wichtig zu sein, und zwar in dem Maß, dass die anderen das auch merken. Unkenntliche Details werden herausgestrichen, man macht sich wichtig.

Selbstmanagement

Mehr scheinen als sein: Man übt sich, der zu sein, der man sein möchte. Man versucht einem optimalen Bild von sich zu entsprechen und das auch anderen als das wirkliche Ich zu verkaufen. Dieses Verhalten macht ein ständiges Bemühen erforderlich, sich unter Kontrolle zu haben.

Kompetitivität

Man konkurriert mit anderen, will besser sein als sie. Man sucht die Herausforderung und misst sich: Bin ich besser oder der andere? Da man ständig am Vergleichen ist, versucht man sich besser darzustellen als der andere. Notfalls wird der andere abgewertet.

Selbstoptimierung

Es gibt viele Kurse, Programme oder Bücher, die zeigen, wie man sich noch besser präsentieren kann. Denn auf den Eindruck nach außen kommt es an: Wie wirke ich auf andere? Diese Wirkung wird optimiert, die eigene Ausstrahlung soll unübertroffen sein.

Egoismus

Die eigenen Bedürfnisse spielen eine größere Rolle als die der anderen. Eigensüchtig kümmert man sich nur um die eigenen Bedürfnisse. Man drängelt sich vor und behauptet sein vermeintliches Recht. Man denkt, dass einem mehr zusteht als den anderen.

Ego-Shooter

Man sieht sich als Einzelkämpfer, der gegen den Rest der Welt steht, ist ständig dabei, sich zu verteidigen. Besser ist, man greift an, als dass man wartet, was der andere tut.

Eristik

Man hat immer recht und lässt eine Gegenmeinung nicht zu. Die eigenen Argumente zählen grundsätzlich mehr. In einer Diskussion hat man das letzte Wort. Man ist vollkommen von sich überzeugt.

Egozentrisch

Das eigene Ich ist der Mittelpunkt von allem. Alles wird auf die eigene Person bezogen. Es handelt sich um eine übertriebene Selbstbezogenheit und den Versuch, alles aus der eigenen Perspektive zu bewerten.

Egomanie

Hierbei handelt es sich um eine krankhafte Selbstbezogenheit und Selbstzentriertheit. Man redet nur über sich und lässt andere gar nicht zu Wort kommen. Man kreist so sehr um sich, dass man die anderen überhaupt nicht wahrnehmen kann, es gibt sie nicht. Es ist so, als wäre man allein auf der Welt.

Hedonismus

Die Lebenslust ist der Lebenssinn. Man will genießen und sich dabei selbst spüren. Es geht vor allem um die Befriedigung der eigenen Triebe, um das Gefühl, geliebt zu werden. Aber selbst liebt man nicht.

Narzissmus

Diese Form der Ichsucht äußert sich in Selbstverliebtheit, Eitelkeit, Selbstbewunderung. Hier handelt sich um eine klinische Diagnose, ein klares Krankheitsbild. Wir werden uns mit diesem Begriff noch ausführlich befassen.

Soziopathie

Auch hier handelt es sich um eine klinische Diagnose. Während der Narzisst Selbstmitleid empfindet und von sich auf andere schließen kann, hat der Soziopath nicht die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden – weder mit sich noch mit anderen Menschen. Er ist deshalb auch nicht sozialfähig. Er kann die Folgen seines Verhaltens nicht abschätzen und ist deshalb oft asozial, das heißt, er verhält sich nicht so, wie es ein normales Miteinander nötig machen würde. Er ist oft aggressiv, gewalttätig und unbeherrscht, weil es ihm nichts ausmacht, wenn andere leiden.

Die Skala der ichsüchtigen Verhaltensweisen geht von harmlos (oben) bis krank (unten). Wobei der Begriff „harmlos” sehr subjektiv ist: Wer näher mit einem selbstbewussten Individualisten zu tun hat, wird ihn nicht so harmlos finden und vielleicht sogar unter seinem Verhalten leiden und das, was andere für schrullige Marotten halten, ablehnen.

Überlegen Sie sich, wo Sie sich selbst eventuell auf dieser Skala einordnen würden:

Individualist - Egoist - Eristiker - Egomane - Hedonist - Narzisst - Soziopath


Ich kann Sie beruhigen. Bisher hat noch niemand bei dieser Skala sein Kreuzchen rechts von der Mitte gemacht. Das liegt daran, dass die Fähigkeit der Selbsteinschätzung nach rechts abnimmt. Das heißt, dass ein Egomane, ein Hedonist, ein Narzisst und ein Soziopath sich nie als einen solchen bezeichnen würden. Sie finden sich in diesen Kategorien nicht wieder. Denn sie haben eine ganze eigene Sicht der Welt. Für sie ist ihr Verhalten vollkommen normal und berechtigt.

Hier zeigt sich ein Problem: In diesem Buch behandeln wir vor allem diesen rechten Bereich der Skala. Wir befassen uns also mit Verhaltensweisen, die von den betreffenden Personen nicht als schädlich gesehen werden. Wir werden uns der Tatsache stellen müssen, dass es ganz unterschiedlicher Bewertungen des Verhaltens gibt. Was der eine für ichsüchtig hält, ist für den anderen ganz normal. Aber auch das ist ja ein Kennzeichen der Sucht: Man will es nicht zugeben, dass man abhängig ist, sondern tut so, als wäre alles in Ordnung. Wenn dabei nur die innere Leere nicht wäre!

30Nach Möller, Laux, Deister, Psychiatrie und Psychotherapie, Stuttgart 2001

31Gerald May, Sehnsucht, Sucht und Gnade, München 1993, zitiert nach: De’Ignis Magazin Nr. 49/2015, Seite 34

32Quelle: www.lebenshilfe-abc.de

3.Das starke Ich
Die christliche Gemeinde

Die christliche Gemeinde ist der Ort, an dem die Sehnsüchte am richtigen Platz sind. Hier werden sie gestillt. Genaugenommen ist es nicht die Gemeinde, die die Sehnsüchte befriedigt – das wäre eine heillose Überforderung für alle Gemeindeglieder –, sondern es ist Gott, der sich der Einzelnen annimmt und ihnen das gibt, was sie brauchen. Wie sieht das aus?

1. Gemeinde ist ein Ort des Angenommenseins

Der Einzelne kommt zu Gott und empfängt von ihm Zuwendung, Liebe und Heilung. Er spürt, dass Gott ihm nahe ist, ihn meint und ganz für ihn da ist. In sehr vertraulichem Umgang spürt er die Fürsorge Gottes: Tatsächlich, der große und mächtige Gott wendet sich dem kleinen, bedürftigen Menschen zu – mir zu! Das ist eine überraschende und auch überwältigende Erfahrung. Gott spricht ganz persönlich, er ist zärtlich wie eine Mutter und ermutigend wie ein Vater. Gott redet jeden mit seinem eigenen Namen an und macht deutlich, dass er ihn durch und durch kennt, besser als jeder andere. Und dass er diesen Menschen grenzenlos liebt, obwohl er ihn durchschaut (siehe Arbeitsblatt 1).

2. Gemeinde ist ein Ort der Geborgenheit

Der ausgelieferte und verunsicherte Mensch erfährt Schutz. Hier ist Gott am Werk, der dem Menschen wie eine Burg Sicherheit gewährt. Die Zusage Gottes lautet: Ich bin für dich da. Ich lasse dich nicht allein. Dieses Versprechen gilt für heute, für morgen und für die Ewigkeit. Niemand muss sich Sorgen machen, Gott hat alles im Griff. Wer zu Gott gehört, ist auf der sicheren Seite im Leben und im Sterben. Welche Katastrophen auch geschehen mögen, sie können dem, der sich bei Gott birgt, nichts anhaben. Und gleichzeitig ist die Gemeinde ein Ort der Geborgenheit durch den Schutz der Gemeinschaft: Es gibt immer jemand, den der Einzelne um Hilfe bitten könnte. Niemand ist allein (siehe Arbeitsblatt 3).

3. Gemeinde ist ein Ort der Bestätigung

Der einzelne Mensch bekommt seine wirkliche Bedeutung. Er wird von Gott mit Gaben und Fähigkeiten beschenkt. Gott gibt ihm eine Berufung: einen Namen, einen Auftrag und auch die nötigen Mittel, um diesen auszuführen. Der Einzelne findet sich in einem großen Sinnzusammenhang wieder, der ihn aufwertet, seiner Existenz einen höheren Wert gibt. Wer zu Gott gehört, kann an seiner Seite Großes bewirken, Geschichte schreiben und die Welt verändern. Gleichzeitig sind es die Menschen in der Gemeinde, die Wertschätzung geben: Lob, Ermutigung und die Bestätigung, dass der Einzelne, so wie er ist, richtig ist. In der gemeinsamen Aufgabe findet jeder seine Erfüllung: Gemeinsam sind wir stark und unüberwindlich! (Siehe Arbeitsblatt 2.)

4. Gemeinde ist ein Ort der Weite

Alte Festlegungen sind aufgehoben, die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Gott führt den Menschen in eine unendliche Weite. Der Mensch kann über sich selbst hinauswachsen. Nicht nur die Gegenwart bietet ihre vielfältigen Möglichkeiten, sondern auch die Ewigkeit öffnet den Raum für ein Leben mit Tiefgang. Gott zeigt dem Menschen, wie schön das Leben ist, wie gewaltig seine Schöpfung. An der Seite Gottes kann sich der in sich selbst verkrümmte Mensch (homo curvatus) entfalten und entwickeln. Es steht ihm alles zur Verfügung. Der Mensch wird zu einer neuen Kreatur. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Gemeinde kann die Neuschöpfung Gottes erfahren werden: Die Einzelnen geben ihre Vorbehalte und Vorurteile auf und erkennen im anderen das Antlitz Gottes.

5. Gemeinde ist ein Ort der Gemeinschaft

Niemand ist allein in der Gemeinde. Gott ist der ständige Ansprechpartner, im Gebet entsteht eine vertraute und vertrauliche Kommunikation mit ihm. Wer zu Gott gehört, hat einen festen Stand in einer Welt der Beliebigkeit. Der Glaube vermittelt Werte und gibt Halt. Durch die Beziehung zu Gott ist Orientierung möglich: Es wird erkennbar und deutlich, was wichtig ist und was nicht. Jesus, der Sohn Gottes, bietet jedem seine Freundschaft an und so bekommt jeder, der auf dieses Freundschaftsangebot eingeht, ein sicheres Netzwerk – er gehört zu einem verbindlichen und starken Freundeskreis, der unverbrüchlich ist, weil Gott diese Gemeinschaft stiftet, stärkt und schützt.

Diese fünffältige Ausprägung macht die Gemeinde zu einem starken Ort, zu einem Ort der Heilung und Befreiung, der Aufwertung und Erneuerung des Lebens inmitten einer Welt des Todes. Eigentlich ist die Gemeinde ein idealer Ort für alle ichsüchtigen Menschen, für alle, die auf der Suche nach ihrem Ich sind. Hier könnten sie wirklich fündig werden und das bekommen, was sie so dringend ersehnen. Hier könnte ihr Mangel gestillt werden. Das stimmt auch: Die Gemeinde könnte zu einem Ort werden, wo das Ich zur Ruhe kommt und stark werden kann. Aber Achtung: Bevor das Ich erneuert und gestärkt werden kann, muss es sterben. Es gibt keine einfache Veränderung, sondern nur eine vollkommene Umgestaltung. Das alte Ich hat mit dem neuen Ich nichts gemein, beide sind voneinander so verschieden wie die Raupe zum Schmetterling (ich komme in Kapitel 10 noch einmal darauf zu sprechen). Das starke Ich hat also seinen Preis: den Tod des alten Ichs. Und der Ichsüchtige, der verzweifelt an den rudimentären Teilen seines Ichs festhält und fürchtet, dass sie ihm auch noch verloren gehen, der sorgsam seinen inneren Mangel pflegt und absichert, kann nicht sterben. Das ist für ihn zu viel. Sterben kann nur der, der bereits stark ist, der vertraut und hofft. Hergeben kann man nur das, was man vorher besessen hat. Da der Ichsüchtige von seinem Mangel ausgeht, wirkt der letzte Todesstoß seines Ichs auf ihn zutiefst bedrohlich.

Die große Herausforderung

Wenn ich vom Sterben des alten Ichs rede, dann meine ich Folgendes damit:

1. Um Annahme zu erfahren, muss man sich loslassen.

Angenommen werden ist ein freiwilliges Geschenk, man kann es nur passiv zulassen. Sterben bedeutet, das Eigene loszulassen: die Beteuerungen der persönlichen Wichtigkeit aufzugeben, auf die Beweise zu verzichten, dass man die Gnade Gottes verdient hat. Es bleibt nichts übrig, es ist nichts Gutes da, was liebenswürdig wäre. Die Annahme eines Menschen ist ein grundsätzlicher Akt Gottes, der nicht von Verdienst und Würdigkeit abhängig ist. Zum Loslassen gehört auch, auf die eigenen Ansprüche zu verzichten, nicht mehr nur um sich und die eigene Bedürftigkeit zu kreisen, einfach das geschehen lassen, was geschehen soll. Zeit haben, nichts tun müssen, warten und empfangen. Das ist für einen Ichsüchtigen so gut wie unmöglich.

2. Um Geborgenheit zu erfahren, muss man vertrauen.

Vertrauen ist die Fähigkeit, das Gute zu sehen und das Negative zu übersehen. Das geht nur, indem man sich einlässt – auch auf die Gefahr hin, dass das Vertrauen missbraucht wird. Der Vertrauensvorschuss birgt ein hohes Risiko, aber ohne diesen Schritt ins Ungewisse kann man keine positiven Erfahrungen machen. Negative Erfahrungen und Vorbehalte sind hinderlich, sie werden beiseitegeschoben. Sicherheit ist also nur zu gewinnen, indem man auf Sicherheit verzichtet. Schutz erfährt nur der, der um Hilfe bittet und seine Schutzbedürftigkeit zugibt. Sterben bedeutet hier, dass man darauf verzichtet, alles kontrollieren zu wollen. Aber für einen Ichsüchtigen ist das kaum denkbar. Er will in jeder Situation die Kontrolle behalten.

3. Um Bedeutung zu erfahren, muss man bereit sein, konkret zu werden.

Wer sich nur vornehm zurückhält und die anderen machen lässt, wird nicht zu sich finden. Die Bereitschaft, sich einzubringen, ist nötig. Besser etwas Kleines tun als abzuwarten. Wer wichtig sein will, muss bereit sein, eine wichtige Aufgabe zu übernehmen – auch auf die Gefahr hin, dass man damit scheitern könnte. Dazu gehört, dass man sich berufen lässt. Man muss bereit sein, sich senden zu lassen – und das geht nur, indem man sich einem anderen unterstellt. Dazu gehört, auch Rechenschaft über das zu geben, was man tut. Sterben bedeutet hier, auf die eigene Wichtigkeit zu verzichten, um für eine größere Sache wichtig zu sein. Auch das wird einem Ichsüchtigen kaum gelingen. Er fühlt sich ja wichtig und versucht, seine Wichtigkeit aus sich heraus zu erzeugen.

4. Freiheit erhält man nur, wenn man ehrlich ist.

Die Wahrheit macht frei. Aber zur Wahrheit gehört, dass man sich stellt und zugibt, was im eigenen Leben falsch ist. Der in sich verkrümmte Mensch wird nur frei, wenn er bereit wird, seine Sündhaftigkeit zuzugeben. Durch die Vergebung Gottes entsteht Weite und Befreiung. Durch das Bekenntnis der Schuld wird der Mensch entlastet, er spürt eine neue Leichtigkeit und Freude. Bleibt er in sich verkrümmt, bleibt er im Gefängnis seines Ichs in sich verschlossen. Wer dagegen seine Fehlerhaftigkeit zugeben kann, kann über sich selbst lachen. Ein Ichsüchtiger vermag das nicht. Sterben bedeutet deshalb: Mit Humor seinem Stolz einen Stoß geben, den Mut gewinnen, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, dass man nichts aus sich ist, sondern alles von Gott benötigt. Dazu gehört, die eigenen Fehler, Versäumnisse, das bittere Scheitern, die Verzagtheit und die Zweifel zu bekennen, all das vor Gott zu bringen, um es dort zu lassen. Der Ichsüchtige kann weder das eine noch das andere, denn er sucht seine eigene Rechtfertigung und wird immer wieder betonen, wie richtig es ist, was er tut.

5. Zugehörigkeit gibt es nur zu dem Preis der Verbindlichkeit.

Nur wer sich ausliefert, erfährt Nähe. Durch das Gegenüber des anderen wird der Mensch zum Ich. Er braucht das Du. Aber wirkliche Gemeinschaft und Beziehungen entstehen nicht durch kurze Kontakte und unverbindliches Geplänkel. Begegnung ist nur dadurch möglich, dass man mit seiner ganzen Person beteiligt ist, bis in die Tiefe des eigenen Wesens. Dazu gehört Treue, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ausdauer, beharrliche Zuwendung. Man schaut von sich weg und versucht den anderen zu verstehen, man öffnet sein Herz und findet den Zugang zum Herzen des anderen. Man hält sich nicht zurück, sondern ist echt, glaubwürdig, unmittelbar und persönlich. All das sind Eigenschaften, über die der ichsüchtige Mensch nicht verfügt. Er müsste seine Distanz aufgeben und sich auf Nähe einlassen. Er müsste zugeben, dass er nur einer von vielen ist, zwar bedeutsam, aber nicht der Wichtigste. Sterben würde hier bedeuten, auf sein Ich zu verzichten, um das Du zu finden und zu einem Wir zu werden.

Die große Gefährdung

Diese fünf Notwendigkeiten des Sterbens machen deutlich, was es kostet, um in der Gemeinde das zu bekommen, was man unbedingt möchte. Das ist das Geheimnis der Gemeinde: Man bekommt nur, wenn man sich selbst gibt. Man hat das Leben nur, wenn man auf sich verzichtet. Man erfährt sich, wenn man sich loslässt. Nur wer bereit ist zu sterben, kann das bekommen, was er zum Leben benötigt. Das klingt alles sehr eigenartig und das ist es auch. Martin Luther drückt dies in seiner Vorrede über die Epistel an die Römer so aus: „Glaube ist ein göttlich werck in uns, das uns wandelt und neugebieret aus Gott … und tödtet den alten adam, und machet uns gantz andere Menschen, von Hertzen, Muht, Sinn und allen Kräfften, und bringet den H. Geist mit sich.”33 Das heißt: Hinter dem Geheimnis der Gemeinde verbirgt sich eine riesige Chance für etwas ganz Neues, etwas anderes. Aber gleichzeitig wird auch deutlich, wie schwer das ist: Das Leben in der Gemeinde verlangt ganzen Einsatz, die Hingabe der eigenen Existenz. Nur der bekommt, der alles gibt, der sich selbst gibt.

Auf der einen Seite bietet die Gemeinde also optimale Bedingungen für die Entfaltung des eigenen Ichs. Das sind die Vorteile. Auf der anderen Seite kostet das den Einzelnen sehr viel: sein Leben. Der Ichsüchtige nimmt die Vorteile mit, ist aber nicht bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Er will sein Ich, aber er will sich behalten. Dadurch wird alles schief. Gemeinde ohne die Bereitschaft, sein Ich – sich selbst – zu geben, sieht so aus:

1. Die Gemeinde wird zum Ort der Unterordnung.

Akzeptiert und angenommen wird nur der, der sich einfügt. Die göttliche Liebe wird zur menschlichen Sympathie. Es bilden sich Seilschaften, Abhängigkeiten entstehen. Der Ichsüchtige bestimmt die anderen. Er ist ganz oben. Man muss ihm beweisen, dass man liebenswürdig ist. Anerkennung und Akzeptanz bekommt man aufgrund von Verdiensten. Es besteht ein System von Belohnung.

2. Gemeinde wird zum Ort der Gefügigkeit.

Man dient sich nicht gegenseitig, sondern viele dienen wenigen. Was freiwillig gegeben wird, wird ausgebeutet. Was man tut, wird kleingemacht. Es wird so dargestellt, als wäre man unfähig. Wer willig ist und gehorcht, ist richtig. Andere werden ausgegrenzt und ihre Bemühungen werden lächerlich gemacht. Statt eines Systems der Freiwilligkeit herrscht ein System der Beschämung vor.

3. In der Gemeinde herrscht die Macht.

Es gibt eine Hierarchie der Wichtigen, der Ichsüchtige gehört dazu. Er verleiht Bedeutung; wer sich in seinem Glanz sonnen kann, ist bedeutsam. Wer mächtig ist, sagt, was getan wird. Man muss sich nach oben orientieren und beweisen, dass man es kann. Wer sich am besten darstellt, hat gewonnen. Konkurrenzdenken und Neid prägen die Gemeinde: ein System des gegenseitigen Vergleichens.

4. In der Gemeinde nimmt die Unehrlichkeit zu.

Man redet zwar von Unabhängigkeit, stellt aber gleichzeitig Gesetze auf, nach denen alle zu funktionieren haben, nur der Ichsüchtige nicht. Die Fahne der Toleranz wird hochgehalten, aber man traut sich nicht, die Wahrheit zu sagen. Die Gleichheit aller wird betont, aber es gibt einige, die gleicher als die anderen sind. Man zeigt mit dem Finger auf andere, verleugnet aber die eigenen Fehler. Es ist ein System der Lüge, jeder verbirgt sich hinter einer Maske.

5. Die Gemeinde wird zu einem Ort der Beliebigkeit.

Der Ichsüchtige schafft sich seine eigenen Strukturen. Er hat Vorteile, die er ausnützt. Er kommt und geht, wie und wann er will, und verunsichert die anderen durch Aussagen, die heute so sind, morgen anders. Es gibt keine Beständigkeit, stattdessen viel Verunsicherung. Dadurch entstehen Abhängigkeiten. Es herrscht ein System der Ungerechtigkeit.

In dieser fünffachen Abkehr von dem, was Gemeinde sein soll, zeigt sich die Gefährdung. Die Gemeinde ist in ihrem grundsätzlichen Wesen von Ichsucht bedroht. Die Ichsucht stellt alles auf den Kopf: Der Ichsüchtige nimmt, aber er gibt nicht, er fordert Nähe, bietet aber selbst keine an, er verlangt Akzeptanz für sich, aber achtet die anderen nicht, er sehnt sich nach Wertschätzung und Annahme, aber er sieht dabei nur sein eigenes Bedürfnis. Der Ichsüchtige holt das, was er nicht hat, bei anderen. Er lebt auf Pump. Er kann seine eigene Welt nicht verlassen, weil er in ihr gefangen ist. Deshalb macht er seine Welt zur Welt für alle anderen. Er holt sie quasi in sein Gefängnis herein. Das bestätigt ihn in seiner Sichtweise. Es gibt eben doch nur das, was er für wahr und wirklich hält.

Das Dilemma ist: Die Gemeinde bietet ihm eine reichhaltige Tafel. Er müsste nur Platz nehmen und dürfte sich bedienen. Er hätte alles, was sein Herz begehrt. Aber das tut er nicht. Er fürchtet, dass er dann, wenn er an der großen Tafel Platz nimmt, sein eigenes Ich, seine einzigartige Großartigkeit aufgeben würde. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als dass er Menschen, die an dieser Tafel sitzen, auffordert, ihm etwas zu essen zu bringen. Er versucht mit allen Mitteln sie zu bewegen, dass sie ihn versorgen. Aber es ist immer zu wenig. Er bleibt hungrig. Er müsste sich nur selbst bedienen. Doch er ist nicht bereit, den Preis für dieses köstliche Mahl zu bezahlen: die Aufgabe seiner Einmaligkeit und Grandiosität. So bleibt er angesichts des gedeckten Tisches hungrig und immer bedürftig. Dabei wäre es so einfach, satt zu werden. Der Mensch müsste nur in aller Freiheit Platz nehmen und anfangen zu essen. Aber noch einmal: Diese Freiheit hat ihren Preis.

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