Kitabı oku: «Ichsucht», sayfa 5

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Die Freiheit eines Christenmenschen

Die Gemeinde ist der Ort der Freiheit. Diese Freiheit findet allerdings nur der, der auch bereit ist, auf sie zu verzichten. Das schafft jedoch nur das starke Ich, das Ich, das gestorben ist und durch Gott erneuert wurde. Freiheit und Hingabe: In diesen beiden gegensätzlichen Polen bewegt sich die christliche Gemeinde. Sie gehören unbedingt zusammen. Luther sagt es in seiner Denkschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen” 1520 so: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.” Es geht eben um beides: die Freiheit und Unabhängigkeit des Ichs auf der einen und das Dienen und die Unterordnung auf der anderen Seite. Beides gehört unauflöslich zusammen. Diese Spannung des christlichen Lebens gilt es auszuhalten, ohne das Gleichgewicht zwischen diesen Gegensätzen zu verlieren. Der Ichsüchtige ist bereits auf der einen Seite vom Pferd gefallen. Für ihn gilt nur der erste Satz. Aber dadurch wird sein Christenleben einseitig und falsch. Denn der Ichsüchtig denkt einlinig, schwarz oder weiß, es liegt ihm nicht, die gegensätzlichen Pole zu verbinden, er lebt ein Entweder-oder. Deshalb muss er sich auf eine Seite schlagen. Und er wählt die Freiheit. Er kann aber mit der Freiheit nichts anfangen, sie bedroht ihn nur. Er kann sie höchsten für sich ausnützen, indem er sie mit seiner Leere füllt, er setzt sie nicht ein, sondern macht sie sich zu eigen. Deshalb entzieht er auch den anderen ihre Freiheit. Er macht sich nicht untertan und wird nicht Knecht, sondern er macht sich andere untertan und ist selbst der Herr. Dadurch jedoch verliert er seine Freiheit.

Der Ichsüchtig spürt, dass irgendetwas nicht stimmt, er fühlt sich eingeschränkt, etwas passt nicht zum Ganzen. Aber er kommt nicht darauf, was es ist. Er sieht nicht, dass er einseitig ist, weil er nicht wahrnehmen kann, was ihm fehlt. Denn was er nicht sieht, das gibt es für ihn nicht. Er spürt die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen dem, was die Gemeinde für ihn sein könnte, und dem, was er aus ihr macht. Er ahnt, dass Gemeinde eigentlich mehr sein müsste als der Ort seiner Selbstverwirklichung. Aber er kommt nicht darauf, was es sein könnte. Er fühlt sich als Fremdköper. Das erhöht die Unruhe in ihm, die innere Leere zeigt sich in der Gemeinde deutlicher als anderswo. Er hat nicht das, was die anderen haben, er kommt sich vor wie ein Außenseiter. Es ist so, als würde er vor einer Fensterscheibe stehen und hineinschauen. Dort drin ist das, was er sich wünscht. Aber er erreicht es nicht. Es steht etwas zwischen ihm und den anderen. Er ist Zuschauer, andere agieren, leben, lachen, singen, beten, weinen, sind berührt – er nicht. Er hat keinen Zugang und, was noch schlimmer ist, keinen Zugriff. Seine innere Einsamkeit und Leere steigert sich ins Unerträgliche. Umso mehr verstärkt er nun seine Bemühungen, das schlechte Gefühl in sich zu bekämpfen. Er steht vor der Fensterscheibe und wedelt mit den Armen, damit die Leute zu ihm herauskommen. Er macht auf sich aufmerksam und macht sich wichtig. Er will ihnen sagen, dass dort die Musik spielt, wo er sich befindet. Wo er ist, ist es gut. Er will nicht einer von ihnen werden, denn das geht nicht, er ist ja anders und will anders sein. Er will vielmehr als jemand gesehen werden, der mehr ist, der alle überragt, der einzigartig ist. Er will Bewunderung. Und er unternimmt nun alles, um grenzenlose Zuwendung zu erhalten. Er stellt sich als der Größte vor und zeigt sich von einer grandiosen Seite. Dass das alles so nicht wahr ist, erkennt er nicht, will er nicht erkennen. Denn er schafft sich ja seine eigene Wirklichkeit. Für ihn gibt es nur das, was er für wirklich hält. Durch die Bewunderung der anderen kann er bestimmen. Weil er groß ist, sind die anderen klein, weil er mächtig ist, brauchen sie ihn. Weil er der Mächtigste ist, kann er kontrollieren. Nun hat er wieder die Dinge in seiner Hand und ist Herr der Lage. So fühlt er sich dazugehörig, akzeptiert. Er ist auf der sicheren Seite, das schlechte Gefühl verschwindet. Durch die Bewunderung fühlt er sich selbst wieder. Nun ist die Welt in Ordnung. Für ihn jedenfalls. Aber die Gemeinde gerät in Unordnung, sie steht in der Gefahr, zu einem Ort zu werden, wo es nur noch um ihn, den ichsüchtigen Menschen geht.

Im folgenden Kapitel zeige ich anhand einiger Beispiele, wie das konkret aussieht. Die Beispiele sind echt, aber nicht authentisch. Ich habe verschiedene reale Situationen zusammengesetzt. Es gibt also keine Übereinstimmung, aus der man Rückschlüsse auf Personen und Gemeinden ziehen könnte.

33Zitiert nach: Helmut Obst, August Hermann Francke und sein Werk, Halle 2013, Seite 16

4.Beispiele von Ichsucht in der Gemeinde
Beispiel 1: Ricky

Für den Glaubensgrundkurs haben sich nur wenige angemeldet. Einer der letzten war Herr Richard Czkrzcky. Er stellt sich als ein älterer Herr Ende 60 heraus, der allerdings sehr jugendlich gekleidet daherkommt und demonstrativ sein Motorrad vor dem Eingang des Gemeindehauses parkt. Als Erstes fragt er nach der „hohen Geistlichkeit” und ist sichtlich enttäuscht, dass der Pfarrer gar nicht da ist, sondern den Beginn des Kurses seinen Mitarbeitern überlässt. Er hat ein eigenes Namensschild dabei, aus Metall und mit seinem Namen, der eingraviert ist. Sein von den Mitarbeitern vorbereitetes Namensschild (wesentlich kleiner) straft er mit Missachtung. Er sagt zu allen, die er begrüßt, dass man ihn Ricky nennen dürfe, da sein Name ja unaussprechlich sei. Beim Essen erzählt er ausladend und detailliert, was er in seinem Leben bereits schon gemacht hat, von vielen Reisen quer durch die Welt und dass er auch heute noch im Ruhestand ein begehrtes Mitglied vieler Vorstände und Aufsichtsräte sei und gerufen werde, wenn es Probleme gibt. Was er genau beruflich gemacht hat, wird nicht deutlich. Während des Vortrags geht er ungeniert umher und fotografiert. In der anschließenden Gesprächsgruppe hält er ein Koreferat und monologisiert lange Zeit. Er zeigt, dass er eigentlich mehr weiß als der Referent, und korrigiert ihn an einigen Stellen. Auf die Fragen der Gruppenleiterin geht er nicht ein. Als sie ihn bittet, auch einmal andere zu Wort kommen zu lassen, schweigt er beleidigt. Er wird nach seiner Motivation für den Glaubenskurs gefragt. Daraufhin teilt er mit, dass er eigentlich mit dem Pfarrer über den Glauben diskutieren wolle. Er habe es nicht nötig, sich Vorträge anzuhören. Er zeigt deutlich, dass er hier wohl nicht auf seine Kosten kommen würde, und nimmt im Folgenden dann auch nur sporadisch an den Kursabenden teil. Er sammelt allerdings eifrig E-Mail-Adressen von den Mitarbeitern, die ihn interessieren, und verwickelt sie in den kommenden Wochen in einen heftigen, zeitaufwendigen Mailwechsel.

An einem Abend ist der Pfarrer anwesend und Ricky belegt ihn sofort mit Beschlag. In der Abschlussbesprechung schwärmt der Pfarrer gegenüber seinen Mitarbeitern: „Das ist unser Mann. Den müssen wir uns warmhalten. Wenn der hier anbeißt, haben wir einen fähigen Menschen gewonnen. Er hat schon angedeutet, dass er gern Leitungsfunktionen übernehmen würde. Mit dem zusammen werden wir vieles erreichen können. Der wird uns helfen, einiges umzukrempeln.” Die Mitarbeiter schweigen betroffen.

Ricky hat der Leiterin des Seniorenkreises sofort angeboten, dass er einen Vortrag übernehmen könnte. Da Ricky einen sehr kompetenten Eindruck macht, ist die Leiterin darauf eingegangen. Er will über „Die frühzeitliche Besiedlung unserer Gegend” referieren. Dieses Thema war im Seniorenkreis tatsächlich noch nicht dran. An diesem Nachmittag referiert Ricky über anderthalb Stunden, obwohl nur ein Vortrag von maximal 45 Minuten ausgemacht war. Nach einer halben Stunde schalten die ersten Senioren ihr Hörgerät ab und dösen vor sich hin, nach einer Dreiviertelstunde wird es spürbar unruhig. Nach einer Stunde stehen die Ersten auf und verlassen den Saal. Nach der Veranstaltung schwärmt Ricky, dass es ja ein sehr interessanter und guter Vortrag gewesen sei. Die Zuhörer hätten alle aufmerksam zugehört und seien richtig begeistert von dem gewesen, was er gesagt hatte. Viele hätten ihm signalisiert, dass er bald wieder einen Vortrag halten sollte und dass das Thema für sie sehr wichtig gewesen sei. Die Mitarbeiterinnen des Seniorenkreises, die diese Lobeshymnen von Ricky hören, schauen sich an: Waren sie in einer anderen Veranstaltung gewesen?

Beispiel 2: Hanne

Hanne leitet das Lobpreisteam der Gemeinde. Sie ist musikalisch sehr begabt. Allerdings überfordert sie ihr Team mit ihrem hohen Anspruch. Sie setzt viele Proben an, ist meist mit dem Ergebnis unzufrieden, ihr entgeht kein Fehler. Sofort wird kritisiert und darauf Wert gelegt, dass alles stimmt. So dauern die Proben oft sehr lange und sind anstrengend. Dazu kommt, dass Hanne das Repertoire ständig erweitert. Immer wieder sind schwierige neue Stücke zu lernen, obwohl das Bisherige noch nicht sitzt. In den Proben gibt sie willkürliche Einsätze, sie sagt nicht genau, wo man ist, und verwirrt das Team. Wenn die Musiker nach den richtigen Noten suchen, werden sie manchmal richtiggehend angegriffen: „Könnt ihr nicht richtig spielen? Macht es doch so, wie ich es euch sage. Ihr müsst nur richtig spielen!” Erwischt sie einen Musiker bei einem Fehler, kann es passieren, dass sie ihn sehr beschämend bloßstellt und so tut, als ob er den Fehler absichtlich gemacht hätte. Sie entwertet ihr Team systematisch, fordert aber gleichzeitig eine perfekte Leistung. Es gelingt ihr jedoch nicht, genau zu sagen, was sie eigentlich meint. Wenn ihr Team nicht gleich versteht, wird sie ungeduldig und manchmal auch laut. Es kam schon vor, dass sie einige Musiker als unfähig bezeichnet hat. Aus diesem Grund haben bereits Mitglieder das Lobpreisteam verlassen. Manchmal scheint es den Teammitgliedern, als würde Hanne die Verwirrung, die sie anrichtet, genießen. Sie zeigt sich dann als die, die alles im Griff hat, und macht sich lustig über das Unvermögen der anderen. Hanne nimmt öfter Urlaubtage, wie es ihr gerade passt, dann fallen die Proben aus, umso mehr muss in den Zwischenzeiten geübt werden. Auf den Vorschlag, doch nach einer Ersatzlobpreisleiterin zu suchen, geht sie nicht ein. Sie will keine Konkurrenz an ihrer Seite.

Zum Eklat kommt es, als Hanne den Gitarristen vor dem Gottesdienst anfährt: „Du mogelst dich ja nur so durch!” Daraufhin packt er seine Gitarre ein und geht. Kurz entschlossen verweigern sich auch die anderen Musiker. Sie bleiben zwar auf ihrem Platz auf der Bühne, aber sie spielen nicht. „So können wir nicht Gott anbeten”, sagen sie.

Beispiel 3: Maik

Maik ist Leiter des Leitungskreises der Gemeinde. Er wird vom Leitungskreis dazu gewählt, weil man einen Sprecher braucht. Aber er fühlt sich nun als Gemeindeleiter und damit dem Pastor vorgesetzt. Er erwartet, dass der Pastor ihm regelmäßig Rechenschaft über sein Tun ablegt und ihm alles mitteilt. Er dagegen trifft immer wieder Entscheidungen auch über die Köpfe des Leitungskreises hinweg. Er beruft sich dann auf sein Recht auf eine Eilentscheidung, da die Sache nicht hätte warten können. Den Mitgliedern des Leitungskreises ist das zuwider, aber sie sagen nichts mehr. Anfangs hatten sie sich in den Sitzungen gegen die Eigenmächtigkeit von Maik gewehrt, aber dann hatten sie regelmäßig am anderen Tag lange Telefonate ertragen müssen, in denen sie dazu aufgefordert wurden, ihre Meinung zu rechtfertigen. Jede Aussage nahm Maik als Gelegenheit, sie in aller Ausführlichkeit zu widerlegen. So gingen manche Telefonate über eine Stunde und brachten keine Klärung. Deshalb überlassen die Mitglieder des Leitungskreises zunehmend Maik die wichtigsten Aufgaben. Es ist einfach nicht gegen ihn anzukommen. Er macht, was er will. Auch der Pastor zieht sich mehr und mehr zurück und vermeidet den Kontakt mit Maik. Das führt dazu, dass er immer eigenwilliger seine Sache macht und das Feld, das man ihm überlässt, immer stärker besetzt.

Bei einem überregionalen Treffen, an dem Maik zusammen mit anderen Mitgliedern des Leitungskreises teilnimmt, berichtet Maik in glühenden Farben über die Gemeindearbeit. Er streicht dabei vor allem seinen Teil heraus und macht deutlich, dass er als Koordinator und Ideengeber unersetzlich sei. Daraufhin bekommt ein Mitglied des Leitungskreises einen Heulanfall. Von einem Weinkrampf geschüttelt, verlässt sie ohne ein weiteres Wort die Sitzung. Kurz darauf geht auch Maik. Als er wenig später auf diesen Eklat angesprochen wird, sagt er: „Das war wirklich ein blöder Abend. Ich musste den ganzen Heimweg zu Fuß machen und kam erst sehr spät heim. Da setze ich mich ein und habe nur Schwierigkeiten.” (Die Frau, die die Sitzung früher verlassen hatte, hatte ihn in ihrem Auto zum Treffpunkt gefahren.)

Aufgrund dieses Vorfalls wird zur Klärung ein Berater eingeladen. Zunächst ist Maik dagegen, da er der Meinung ist, dass es keine Probleme gibt. Sie könnten alles ohne Berater klären, er würde wissen, wie man in einem solchen Fall vorzugehen hätte. Letztlich willigt er aber ein und es gelingt ihm, die Beratung mit endlosen Gesprächen auszudehnen. Es scheint ihm zu gefallen, dass es vor allem um ihn geht und sogar ein Fachmann von weither anreisen muss, um sich mit ihm auseinanderzusetzen. Dabei gibt er aber dem Berater deutlich zu verstehen, dass er sich im Bereich von „Meditation” sehr genau auskennt (er meint „Mediation”). Er akzeptiert deshalb auch nicht, was der Mediator vorschlägt.

In einer Sitzung mit dem Berater wird deutlich, dass der Leitungskreis geschlossen gegen Maik steht. Er fällt aus allen Wolken. Da aber die Mitglieder des Leitungskreises deutlich machen, dass sie ihr Amt niederlegen, wenn er nicht zurücktritt, erklärt er seinerseits seinen Rücktritt: „Wenn es nicht anders geht, dann gehe ich halt.” Er macht deutlich, dass er nun zum Opfer wird, aber dass er gern bereit ist, sich zu opfern, damit die Arbeit weitergehen kann.

Es wird vereinbart, dass Maik der Gemeinde gegenüber erklärt, dass er zurücktritt, weil sich herausgestellt habe, dass sie aufgrund großer inhaltlicher und persönlicher Unterschiede nicht zusammenarbeiten können. Alle sind sich einig, dass vor der Gemeinde keine schmutzige Wäsche gewaschen wird. Als aber die Gemeinde in einer Gemeindeversammlung von seinem Rücktritt in Kenntnis gesetzt werden soll, zieht Maik eine vorbreitete Rede aus der Tasche, in der er ausführlich mitteilt, dass er zum Rücktritt gezwungen worden sei. Man habe mit ihm nicht geredet, er sei vor vollendete Tatsachen gestellt worden und auch der externe Berater sei ja von Anfang an gegen ihn gewesen. Die Mitglieder des Leitungsteams sind wie gelähmt, sie wissen nicht, wie sie reagieren sollen, und die Gemeinde ist verwirrt.

Nach dieser Gemeindeversammlung teilt sich die Gemeinde in zwei Blöcke. Die einen sind für Maik und die anderen gegen ihn. Es werden von den Gegnern immer mehr Fakten vorgebracht, warum Maik nicht länger Gemeindeleiter sein kann. Maik genießt es sichtlich, dass sich nun die ganze Gemeinde mit ihm beschäftigt. Es werden Stellungnahmen geschrieben, Gespräche anberaumt und wieder abgesagt. Ein weiterer Berater wird hinzugezogen. Bei einem Treffen bringt Maik Freunde von außerhalb der Gemeinde mit, die die Vorgänge nicht verstehen und für ihn sprechen. Maik gelingt es, sich durchzusetzen. Letztlich beschließt die Gemeindeversammlung entnervt um des lieben Friedens willen, dass Maik seinen Leitungskreisvorsitz behalten soll. Aber als dieser Beschluss mitgeteilt wird, erklärt Maik unvermittelt, dass er mit sofortiger Wirkung sein Amt niederlegt mit der Begründung: „Das muss ich mir doch nicht antun!”

Beispiel 4: Erwin

Der Leitungskreis trifft sich regelmäßig bei Erwin. Er ist der Gemeindeleiter und es ist ihm wichtig, diese Aufgabe auch auszuführen. Jede Sitzung beginnt mit einem ausführlichen Abendessen, bei dem sich Erwin als Gastgeber schon über dieses und jenes Thema auslassen kann. Außerdem ist ihm wichtig, dass man sich auch persönlich nahekommt und Gemeinschaft hat, was für ihn allerdings bedeutet, dass er ausführlich über das berichtet, was er erlebt. So wissen die anderen alles über ihn, aber er so gut wie nichts über sie. Wenn die Besprechung endlich beginnt, ist es meist schon sehr spät. Erwin legt die Tagesordnung so fest, wie er es für geboten hält. Er teilt erst zu Beginn der Sitzung mit, um was es gehen soll. Wenn andere Besprechungspunkte vorgebracht werden, werden die schnell abgehakt; die Punkte, die Erwin wichtig sind, jedoch ausführlich diskutiert. Es ist Erwin sehr wichtig, dass alle Details besprochen werden. So kann es sein, dass die Sitzungen bis weit nach Mitternacht dauern und die Teilnehmer des Leitungskreises wie betäubt nach Hause gehen.

In den Sitzungen gibt es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Erwin und dem Pastor. Vor allem wenn der Pastor versucht, seine Ideen einzubringen und durchzusetzen. Er ist der Einzige, dem es in dieser Runde gelingt, Erwin etwas entgegenzusetzen. Er kümmert sich einfach nicht um Erwins Ausführungen, unterbricht ihn oft, beginnt dann mit seinen Argumenten, die nichts mit dem vorigen zu tun hatten. So gibt es manchmal Sitzungen, die sich ausschließlich zwischen den beiden abspielen.

An einem Abend allerdings ist der Pastor sehr leidenschaftlich dabei, eine Idee zu vertreten, die Erwin vehement ablehnt. Da legt der Pastor unvermittelt seinen Kopf auf den Tisch und beginnt laut zu schluchzen: „Niemand spielt mit mir.” Alle sind wie erstarrt und schauen auf Erwin. Der tut aber so, als wäre nichts passiert. Als niemand auf den Pastor eingeht, heult er noch lauter. Aber als auch das nicht wirkt, bricht das Weinen genauso abrupt ab, wie es begonnen hat, und die Sitzung geht weiter, als wäre nichts geschehen. Erst ganz zum Schluss sagt Erwin mit einem strafenden Blick in Richtung des Pastors: „Was hier getan wird, bestimme ich, und wer heult, auch!”

Beispiel 5: Anna

Die Frau des Pastors regiert die Gemeinde, das ist allen klar. Was sie sagt, hat mehr Gewicht als das, was der Pastor vertritt. Sie regiert auf ihre Weise: Sie übernimmt federführend bestimmte Gemeindeaktionen (Gemeindeessen, Krippenspiel, Gemeindefest, Gemeindeausflug) und gestaltet diese nach ihrem Gusto, hier ist sie die Königin. Jedes Mal beim ersten Treffen des Mitarbeiterteams eines solchen Events bringt sie bereits fertige Pläne mit. Es werden lediglich die Aufgaben verteilt. Das geschieht so, dass die Gemeindeglieder, die ihr besonders gewogen sind, die wichtigsten Aufgaben bekommen. So hat sie die Sicherheit, dass alles nach ihren Plänen läuft. Korrekturen und Kritik gibt es nicht. „Wer die Verantwortung hat, darf bestimmen”, ist ihr Motto. Und es ist klar, dass sie immer die Verantwortung innehat. Sie ist schließlich die Frau des Pastors, die Mutter der Gemeinde. Als solche lässt sie sich gern bezeichnen. Und als Mutter hat sie auch ihre Lieblinge. Wer nicht dazugehört, muss das deutlich spüren. Sie kann sich oft zynisch und sarkastisch über Personen äußern und abwertend urteilen. Das tut sie ungeniert und offen. Da sie mit ihrem Urteil meist genau ins Schwarze trifft, ist sie gefürchtet. Man kann ihr nichts entgegensetzen. Auf der anderen Seite gibt es Leute in der Gemeinde, die sie hofiert. Es sind Menschen mit einem gewissen Ansehen oder einer bedeutenden Stellung im Ort. Sie umgibt sich gern mit diesen wichtigen Leuten, die sie zu Nachmittagstreffen zu sich einlädt. In diesen Runden urteilt man offen über andere, bewertet Vorgänge und ist sich meistens einig in dem, was man ablehnt. Man ist ganz bewusst anders als die anderen – anders heißt in jedem Fall: besser.

Anna unterscheidet genau in das, was sie interessiert, und das, was ihr gleichgültig ist. Wird ihr etwas mitgeteilt, was sie nicht berührt (und das ist das meiste), dann zeigt sie deutlich ihr Desinteresse. Ihre Welt ist klar in Schwarz und Weiß eingeteilt, in das, was ihr nützt, und das, was ihr nichts bringt. Für Anregungen, Vorschläge anderer zum Beispiel interessiert sie sich nicht. Bei der Mitarbeiterbesprechung zum Krippenspiel kommt es schließlich zu der Situation, dass einige Mitarbeiter sich doch mit ihren Vorschlägen für eine Veränderung des Planes von Anna durchsetzen können. Daraufhin ist Anna wochenlang eingeschnappt, zieht sich von allem zurück und lässt alle spüren, wie egal ihr diese Gemeinde ist: „Sollen die anderen doch herausfinden, wie sie ohne mich zurechtkommen wollen”, sagt sie sich. Erstaunlicherweise gelingt es ohne sie aber recht gut. Als sie das merkt, ruft sie nach einiger Zeit die Mitarbeiter an und teilt ihnen großmütig mit, dass sie ihnen ihr aufrührerisches Verhalten verzeihen würde. Von da an ist sie wieder die Alte.

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