Kitabı oku: «Die Politik Jesu», sayfa 3
KOMMENTAR ZU KAPITEL 1
Die Möglichkeit einer messianischen Ethik
Die Grundthese
Bei einer Bestandsaufnahme der Reaktionen auf Die Politik Jesu muss der erste Schritt darin bestehen, den Debattenstand der neutestamentlichen Forschung zu betrachten, inwiefern Jesus im Grundsatz eine politische Person war. Unter den Fachtheologen gibt es im Detail immer noch tiefe Meinungsverschiedenheiten, doch weniger denn je wird behauptet, Jesus sei apolitisch gewesen. Ernst Bammel und C. F. D. Moule etwa, zwei der angesehensten Forscher der älteren Generation, veröffentlichten die Dokumentation eines umfangreichen Symposiums, Jesus and the Politics of His Day.19 Es ging ihnen vor allem darum, der extremen These von Brandon entgegenzutreten. Doch konnten sie es nicht vermeiden, ihm dabei auf halbem Weg entgegenzukommen.
Die umfangreiche Forschung auf diesem Gebiet20 und der dahinter stehende größere Forschungszusammenhang entstand nicht als Reaktion auf Die Politik Jesu. Manches reagiert, wie schon erwähnt, direkt auf die weiter reichende These Brandons21, Jesus sei zwar sehr politisch gewesen, doch auf ganz herkömmlich gewalttätige, staatsorientierte und militärische Weise.
Manche Forscher bearbeiten die Fragestellung: „War Jesus politisch?“ mit innovativen Methoden („postmodern“, poststrukturalistisch“ oder „soziologisch“), die es so in den 1960ern noch nicht gab. Was es heißt, dass jeder Leser eines Textes eine spezifische ihm eigene Perspektive hat, statt eine quasineutrale „Objektivität“ zu suchen oder zu behaupten, ist selbst Teil weitergehender Methodendiskussion. Diese Debatte hat sich seit 1970 geradezu wuchernd ausgebreitet. Ich will hier keine Einschätzung wagen, was diese neuen Interpretationsraster leisten können, doch sie werden keinesfalls zu dem vorkritischen, apolitischen Jesus zurückkehren.22
Die zu beobachtende Wiedergewinnung der politischen Dimension des Dienstes Jesu wurde gefördert durch spezifische Interpretationsperspektiven, besonders im breiten Spektrum verschiedener „Befreiungstheologien“. Als einigermaßen informierter Amateur auf diesem Gebiet habe ich dazu zwar eine Meinung,23 doch die These der Politik Jesu hängt nicht davon ab, ob ich auf dem neuen Themenfeld „Befreiungstheologie“ eigene Fachkompetenz behaupte. Grundvoraussetzung für die angemessene Lektüre jeden Textes ist die Empathie oder Kongenialität des Lesers mit der Intention oder dem Genre des Textes. Wir erwarten kaum, dass einer, der dem Fach Mathematik feindselig gegenübersteht, einen mathematischen Text als Experte liest. Einen Text der Gattung Evangelium unter der Grundannahme zu lesen, so etwas wie „Gute Nachricht“ könne es gar nicht geben, scheint ebenso unangemessen – ob es sich nun um eine echte Botschaft oder eben um diese Textgattung handelt.
Ich möchte mit diesen Bemerkungen nicht die zahlreichen kritischen Einwände gegenüber manchen allzu groben Vereinfachungen und Kurzschlüssen vom Tisch wischen, wie sie in Theologien unter der Überschrift „Befreiung“ auch formuliert wurden.24 Solche Kritik ist jedoch nur dann berechtigt oder angemessen, wenn sie Bezug nimmt auf den Text und dessen Kontext. Es kann nicht grundsätzlich als falsch angesehen werden, den Text des Neuen Testaments als Zeugnis einer Befreiungsbewegung zu lesen.
Warum nicht Jesus?
Eine zweite Komponente meiner seit 1972 anhaltenden Auseinandersetzung mit kritischen Kommentaren muss sich den Gründen (S. 11ff) zuwenden, die verschiedene Schulen der Ethik anführen, Jesus nicht unmittelbar als ethisches Modell zu nehmen. Damals identifizierte ich sechs solcher Gründe. Es finden sich noch weitere: So gibt es, selbst wenn wir Jesus nachfolgen wollen, eine historisch-kritische Skepsis, inwiefern der Text überhaupt ausreichend klare Aussagen ethischer Wegweisung liefert. Die Aufmerksamkeit der Experten für die Kluft innerhalb des Kanons zwischen dem, „was wirklich geschah“, und „was der Text tatsächlich sagt“, hat sich in der letzten Generation in komplexer Weise weiter entwickelt. Es gibt immer noch Forscher, die sehr skeptisch sind, was die Zuverlässigkeit der alten Texte in historischen Details betrifft. Andere zeigen größeres Vertrauen, dass die Texte einen verlässlichen historischen Kern enthalten.25 In beiden Fällen hat die Entwicklung der Forschung jedoch weder zur Entdeckung eines unpolitischen Jesus geführt, noch haben gerade die scharfsinnigsten Forscher es aufgegeben, sich auf die Autorität der Figur hinter dem Text zu beziehen.26
Eine weitere historisch-kritische Debatte fragt nicht, ob in den alten Texten klare Aussagen zu finden sind, sondern ob das Gefundene innere Konsistenz hat. Jeder neutestamentliche Autor hatte seine eigenen Quellen und seine spezifische Leserschaft. Ein und derselbe Autor konnte unterschiedliche Leser in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichem Rat ansprechen. Jeder Redakteur konnte verschiedene Traditionen aus mehr als einer Quelle weitergeben. Diese Beobachtung mag fundamentalistische Grundannahmen infragestellen oder die einer altprotestantischen Schulphilosophie, in denen der Inhalt des Glaubens, dem die Menschen treu bleiben wollen, nicht wirklich biblisch ist, sondern ein nahtlos konsistentes System von Lehrsätzen darstellt, worin alle offenbarten „Lehren“ eine zusammenhängende Einheit bilden. Diese Wahrnehmung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit untergräbt jedoch in keiner Weise ein postkritisches oder narratives Verständnis. Für ein solches Verständnis besteht das Zeugnis eines Textes zum einen aus dessen ursprünglicher Richtung und bewegt sich zum anderen auf der Linie früher Überlieferung bis zur gegenwärtigen Herausforderung, und zwar innerhalb des Lebenszusammenhangs der Gemeinschaft für die und zu der der Text spricht oder gesprochen hat. Aus dieser Perspektive ist Einheit in Vielfalt glaubwürdiger und hilfreicher, als simple Uniformität es sein könnte.
Unter jüngeren Forschern gibt es eine allgemeine theologische Voreingenommenheit gegen die historisch partikulare Qualität der narrativen und prophetischen Stränge der Schrift und ihre Verkündigung eines „handelnden Gottes“27 zugunsten der „weisheitlichen“28 Überlieferung, also zugunsten weniger zeit- und ortsgebundener ethischer Einsichten. Niemand wird abstreiten, dass das Alte wie das Neue Testament sein Zeugnis in zahlreichen literarischen Gattungen entfaltet.29 Daraus folgt jedoch weder priori noch empirisch, dass Jesus als Weiser,30 als Rabbi,31 als inkarnierte Weisheit32 politisch weniger relevant wäre als Jesus, der gewaltfreie Zelot.
Es gibt den Versuch einiger systematischer Theologen, das Zeugnis der Evangelien durch ein wesentlich späteres erkenntnistheoretisches Raster zu filtern. Sehr populär ist das „distributive“ erkenntnistheoretische Modell der Trinität, wie es von H. Richard Niebuhr vertreten wird.33 Man solle die Wichtigkeit Jesu für die Ethik nicht übertreiben, argumentiert Niebuhr, denn Gott, der Vater, steht für eine andere (wohl eher institutionell konservative) Sozialethik, die sich auf ein Verständnis der Schöpfung oder Vorsehung gründet, deren Inhalt sich nicht von Jesus, sondern anderswo herleitet. Gegründet auf die seit Pfingsten in der Kirchengeschichte fortschreitende Offenbarung, führe uns Gott, der Heilige Geist, ebenfalls zu einer anderen Ethik.34 Dieses einflussreiche Schema verdient sorgfältige kritische Aufmerksamkeit,35 doch da es sich aus einer modernen, dem Neuen Testament fremden Erkenntnistheorie herleitet, gehört das Argument nicht hierher. Niebuhrs Analyse macht keine der drei Personen der Trinität mehr oder weniger politisch als die anderen. Würde eine solche Differenzierung überhaupt inhaltliche Differenzen herausarbeiten,36 so zugunsten einer anderen politischen Ethik, nicht aber zugunsten einer apolitischen Haltung. Sie würde voraussetzen, dass Jesus politisch ist.37
Jesus kam nicht, eine Lebensweise zu lehren. Seine Rolle ist die des Erlösers. Und dass wir einen Erlöser brauchen, zeigt sich schon darin, dass wir nicht nach den von ihm vertretenen Idealen leben.38 Die klassische lutherische Tradition behauptet mit dem Konzept des usus elenchticus, die Funktion des Gesetzes sei weniger, uns zu sagen, was wir tun können, als uns auf die Knie zu bringen, weil wir es nicht tun können.
A. E. Harvey39 liefert eine erhellende Diskussion, auf welche Weise verschiedene intellektuelle Kräfte auf der Suche nach einer zu verallgemeinernden Ethik die charakteristischsten Lehren Jesu beiseite lassen. Die von ihm zitierten Überlegungen überlappen sich mehr oder weniger mit den oben aufgeführten, wenn auch in anderer sprachlicher Formulierung. Harveys Projekt unterscheidet sich von dem dieses Buches: a) Er konzentriert sich auf eine Handvoll „schwierige“ oder „charakteristische“ Texte, vor allem aus der Bergpredigt, wogegen ich mich dagegen wende, diese wenigen Kapitel herauszugreifen. b) Mehr, als ich es tue, vertraut er der Fähigkeit des Forschers, hinter den Texten unterschiedliche Traditionsstränge oder -schichten zu rekonstruieren, die jeweils mit unterschiedlichen Glaubensstilen und -schattierungen verschiedener Untergemeinschaften des ersten Jahrhunderts korrespondieren. c) Er postuliert eine klare Trennung zwischen „Aphorismen“ und dem, was als Regeln für das Gemeinschaftsleben „gemeint war“. d) Im größten Teil seiner Darstellung lässt er die Möglichkeit außer acht, der Grund für Jesu Radikalität, „eine Maxime ihrer logischen Schlussfolgerung zuzuführen“, könne im Kommen des Gottesreiches liegen.40
Wenn nicht Jesus, was dann?
Ginge es uns hier darum, das Wesen der Sozialethik auszubuchstabieren, so wäre es angemessen, das Thema „Gibt es eine andere Norm?“ auszuweiten (vgl. S. 15ff).41 Die Theologen berufen sich zu diesem Zweck auf die klassischen Begriffe „Natur“, „Vernunft“, „Schöpfung“ und „Realität“. Gemeinsam ist diesen vier Begriffen:
a) dass behauptet wird, ihre Bedeutung sei selbstevident;
b) dass diese Bedeutung sich schwer so konkret definieren lässt, dass sie eine starke ethisch-moralische Weisung darstellen würde, besonders im Blick auf Anleitung und Motivation zum Dissens;
c) dass diese Ratgeber sich in ihrer moralischen Substanz (nämlich darin, was wir tatsächlich tun sollen) von Lehre und Beispiel Jesu unterscheiden;
d) dass ihnen a priori eine höhere oder tiefere Autorität zugeschrieben wird als den „spezifisch“ jüdischen oder christlichen Quellen moralischer Einsicht, sei es die Bibel im Allgemeinen oder Jesus im Besonderen.42
Die Verbindung dieser Debatte zu unserem Thema liegt darin, dass die verschiedenen Argumente auf je eigene Weise bewirken, dass die Autorität Jesu beiseite gestellt wird. Und zwar weder durch das offene Eingeständnis, sich gegen seine Nachfolge zu entscheiden, noch durch eine Lektüre der Evangelien, die eine andere Botschaft darin findet, sondern indem auf die eine oder andere Weise Jesu Anspruch auf das Leben seiner Jünger a priori aus systematisch logischen Gründen außer Kraft gesetzt wird. Die Fragestellung dieses Buches will die Probe darauf machen, ob diese Außerkraftsetzung fair ist gegenüber der Intention und dem Inhalt der neutestamentlichen Texte.
2 Anführer dieses Trends ist wohl Rose (1967), S. 125. Recht ähnlich Paupert (1969) und Brown (1969). Paupert und Brown gehen ernsthafter vor als Rose, doch ihr Stil ist immer noch so impressionistisch, dass theologische Leser sich nicht sicher sein können, inwiefern ihre Aussagen über „Mahatma Jesus“ als Exegese ernstgenommen werden sollten oder einfach eine neue symbolische Einkleidung sind für etwas, das auch ohne diese gesagt werden könnte.
Näher am Anliegen unserer Studie, wenn auch nur den Tod Jesu betrachtend, dies aber in eingehender Textanalyse, ist Stringfellow (1970).
Eine Position, die meiner noch am nächsten kommt, vertreten zwei Autoren aus der Church of the Brethren: Brown (1971) und Gish (1970). Sie gehen von einer ähnlichen Sicht aus, die sie jedoch nicht ausführlich aus dem Neuen Testament herleiten.
3 „Trotz einer größeren Bereitschaft, die Probleme nun offen anzugehen, die sich unvermeidlich daraus ergeben, dass eine historische Person als die Inkarnation Gottes betrachtet wird, besteht immer noch eine merkwürdige Abneigung, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Jesus könnte politische Ansichten gehabt haben“, Brandon (1967), S. 24. Unter Neutestamentlern ist Brandon ein Außenseiter. Eine noch treffendere Beschreibung der zeitgenössischen neutestamentlichen Forschung hätte sich wohl ergeben, wenn er gesagt hätte, in einzelnen Texten seien die Fachleute sehr wohl bereit, die politische Dimension des Wirkens Jesu anzuerkennen, aber es bestehe eine Abneigung, die Beobachtungen zu verbinden. Vgl. den Kommentar von Etienne Trocmé (S. 60, Anm. 94).
4 In nuce wurde dieses Material schon vorgetragen auf der zweiten „Puidoux“-Konferenz über Kirche und Frieden in Iserlohn im Juli 1957, und etwas ausführlicher in Yoder (1964a), S. 3–7ff. Seine jetzige Gestalt verdankt es einer streng neutestamentlichen Studie, die am 27. April 1968 vor der Chicago Society for Biblical Research vorgetragen und in dieser erweiterten Form zur Veröffentlichung in BR freigegeben wurde. Die Vorbereitung profitierte von zahlreichen Vorschlägen von William Klassen und John E. Toews.
5 Allgemein sichtbar war das Problem, das in diesem Buch behandelt wird, spätestens seit den Schriften der Brüder Niebuhr in den 1930er Jahren; doch ein neuer Höhepunkt intensiven Interesses zeigt sich im Zuge des ökumenischen Nachdenkens über politische Ethik, besonders in Lateinamerika, was starken Ausdruck fand auf der Genfer Konferenz über Kirche und Gesellschaft im Juli 1966. Hier wird „Revolution“ zum Schlüsselbegriff (z. B. Richard Shaul, [1967], S. 91ff). In diesem Kontext wird Jesus oft als revolutionäre und politische Figur dargestellt; doch geschieht dies eher formal, schlagwortartig. Es geht nicht einher mit einem inhaltlichen Interesse an der Art von Politik, die Jesus verkörperte. Manchmal wird die Relevanz der konkreten Führung Jesu sogar ausdrücklich zurückgewiesen und doch weiter behauptet, in seinem Auftrag zu handeln. Eine solche Haltung ist daher gerade durch die Abwesenheit der Belange gekennzeichnet, denen sich dieses Buch widmet. Anm. 2 weist auf andere mehr journalistische Versuche hin, die sich der Thematik „Jesus als Agitator“ widmen, sich jedoch weder ernsthaft mit den Fragen biblischer Hermeneutik noch zeitgenössischer systematischer Sozialethik beschäftigen, die es brauchen würde, ernsthafter Kritik an dieser Parallelisierung standzuhalten.
6 Auch heute, 1993, halte ich das noch für eine angemessene „Laiensicht“ auf die akademische Landschaft der 1960er Jahre. Die Kommentare zu den folgenden Kapiteln zeigen auf, dass sich inzwischen einiges zum Positiven verändert hat.
7 Die fortdauernde Legitimität theologischen Rückbezugs auf den ganzen Text des Evangeliums in seiner überlieferten Form wurde von Filson (1966) überzeugend vertreten; und ähnlich von Wedel (1963), S. 17ff. Conzelmann (1954) argumentiert ebenso S. 4ff: Obwohl es Teil der Arbeit des Wissenschaftlers sei, die Dokumente zu werten und die Ereignisse dahinter zu rekonstruieren, müsse das Interesse jeglicher Textlektüre darin liegen, die Intention des Autors zu erfassen. Indem er das von Lukas sagt, zitiert Conzelmann ein ähnliches Argument von Dibelius über die Apostelgeschichte. Wir konzentrieren uns für den gegenwärtigen Zweck auf den Text, wie er uns vorliegt; das konzediert jedoch in keiner Weise, dass die tiefer schürfende Forschung nach den Ereignissen hinter dem Text unsere Ergebnisse schwächen würde; vgl. S. 19, 51 (Anm. 77), 116. In meinem Vorwort (S. 3) finden sich einige klärende Bemerkungen bezüglich des Etiketts „biblischer Realismus“.
8 Sheldons (2009) Klassiker des populären Protestantismus der Jahrhundertwende ist kein ernstzunehmendes Muster der Vision von Jüngerschaft, wie wir sie hier beschreiben. Die Werte, an die der Held des Buches, Henry Maxwell, gebunden ist, haben keinen materiellen Bezug zu Jesus. „Tun, was Jesus tun würde“, heißt für Sheldon einfach: „Tu, was recht ist; koste es, was es wolle.“ Doch was recht ist, kann man nach Sheldon auch ohne Jesus wissen. Sheldon ist eher ein Befürworter der hier beschriebenen Betrachtungsweise, die die wesentlichen Normen der Ethik woanders als in den Evangelien findet. Um Modelle zu finden, die ernst machen mit Jesu Vorbildhaftigkeit für die Sozialethik, müssen wir zurückgehen zu den Franziskanern, den Böhmischen Brüdern oder den Täufern. Anfänge einer modernen Neuformulierung dieses Anspruchs finden sich in MacGregor (1955). Vgl. auch C. H. Dodd, S. 109, Anm. 173.
9 Im Kommentar bringe ich noch einige weitere Dimensionen dieser Behauptung.
10 Die klassische amerikanische Formulierung der Abhängigkeit der Ethik Jesu von seiner Erwartung eines baldigen Endes der Geschichte ist Niebuhrs (1935); ihr folgen Paul Ramsey und viele andere.
11 „Jesus behandelt nur die einfachste moralische Situation … den Fall einer Person in Beziehung zu nur einer anderen. Er unternimmt es nicht, zu erklären, wie Menschen, die (für sich selbst) keinerlei Widerstand leisten sollen …, wenn sie allein die Schläge erhalten, in komplizierteren Fällen handeln sollen.“ Ramsey (1950), S. 167 ff. Ein Vertreter der Tendenz, die Lehre Jesu zu enthistorisieren, gerade in der Absicht, sie ernst zu nehmen, ist Colwell (1963). Obwohl Colwells Buch dahin zielt, die grundsätzliche historische Zuverlässigkeit der Evangelienberichte neu zu bestätigen, meint er, dies dürfe nicht dahingehend verstanden werden, dass damit soziale Konkretheit eingeschlossen sei. Die Versuchungslegende (S. 47) ist ein dramatisches Gleichnis der Demut, keine Versuchung. Die Häufigkeit wirtschaftlicher Motive in Gleichnissen und ethischer Lehre sollte nicht als Anzeichen einer bestimmten Einstellung zu Reichtum und Arbeit angesehen werden (S. 60). Habsucht ist falsch, nicht weil sie dem Bruder das Brot wegnimmt, sondern weil sie in geistlicher Hinsicht verderblich ist.
12 Eine Standardformulierung dieser Auffassung findet sich bei Mehl (1966), S. 44ff. Nach Mehl war Jesu Anliegen ausschließlich auf das Individuum bezogen. Er verhielt sich indifferent gegenüber sozialen oder politischen Angelegenheiten, und er stand dem Anliegen der Zeloten fern. Es ist daher eine Neuerung (nach Mehl eine heilsame), dass die christliche Ethik sich erst in moderner Zeit und als Antwort auf die Herausforderung des Sozialismus mit Fragen der Sozialstruktur beschäftigt. Es könnte ausführlicher gezeigt werden, wie dieses Denkmuster sich durchhält, sogar unter dem Deckmantel einer Sprache, die anscheinend ziemlich genau das Gegenteil meint. Wenn z. B. von Jesus als demjenigen gesprochen wird, der „wahre Menschlichkeit enthüllt“, oder wenn von der Menschwerdung als Offenbarung gesprochen wird, so könnte das durchaus heißen, wir könnten oder sollten zu dem Menschen Jesus in all seiner möglichen Menschlichkeit gehen, um zu sehen, wie Gott den Menschen will. Doch in der tatsächlichen Praxis der zeitgenössischen „Inkarnationstheologie“ dient diese Sprache im Normalfall als Präambel oder als Bekräftigung einer Definition wesentlicher oder allgemeiner Menschlichkeit, die aus ganz anderen Quellen abgeleitet wird.
13 Dies ist das zentrale Anliegen H. Richard Niebuhrs schon in Niebuhr (1951), besonders S. 234ff, und weiter in Niebuhr (1960) und in Niebuhr (1963).
14 Dass diese Quelle der Ethik „eine andere als Jesus“ ist, braucht natürlich nicht zu bedeuten, dass sie keinen Bezug hat zur Offenbarung. Man kann sehr gut von ihr sprechen als der Ordnung, die Gott der Vater geschaffen hat, oder als einem Imperativ, der in der jeweiligen Situation durch das Wirken des Heiligen Geistes erkannt wird, oder als dem „kosmischen Christus“ oder „Gottes Wirken in der Geschichte“. All diese populären Ausdrücke, wie sie gegenwärtig in der ethischen Diskussion gebraucht werden, führen uns weg von der Konkretheit Jesu zu einer anderen Quelle von Normen. Weitere Beispiele des Standpunktes, der Jesus im Namen der „Offenbarung“ relativiert, weiter unten, S. 114ff.
15 Die ökumenischen Manieren haben sich in den letzten Jahrzehnten etwas gebessert. „Frühkatholizismus“ wird heute nicht mehr als abwertende Bezeichnung gebraucht. Doch der Grundgedanke, dass die Entwicklung eines ethischen Katechismus wegführt von der ursprünglichen Radikalität Jesu, ist noch verbreitet.
16 Vgl. die eingehendere Beschreibung dieser Ansicht auf S. 183ff.
17 Graydon F. Snyder verdeutlicht in seiner unveröffentlichten Dissertation Snyder (1961), S. 18ff, dass die Analyse in vielem von der schon feststehenden hegelianischen Ausrichtung der Tübinger Schule diktiert wurde.
18 Die Vereinfachung der gegenwärtigen Aufgabe im Nichteingehen auf die textkritischen Fragen geschieht nicht, um widersprechendes Material auszuschalten. Textkritische Studien bestätigen im allgemeinen unsere These; vgl. S. 51, Anm. 77.
Es sollte nicht angenommen werden, dass diese Studie in ihrer Entscheidung, historisch-kritischen Problemen nicht ausführlich nachzugehen, irgendwelche neo-fundamentalistische Vermutungen über die Komposition des Evangelientextes anstellt oder über die Verschiedenheiten in der Entwicklung der frühen Gemeinden und während der Herausbildung der kanonischen Texte. Es werden auch nicht irgendwelche besonderen Vorstellungen entwickelt, wie man hinter den Evangelientexten in ihrer überlieferten Form zu einem Verständnis des „historischen Jesus“ kommt. Weitere Diskussion oder die Konstruktion von Hypothesen über dieses Thema werden hier zurückgestellt, nicht weil sie als unwichtig angesehen werden oder weil der Verfasser sich darüber im Klaren wäre, was sie erbringen sollten, sondern nur deshalb, weil eine sorgfältige Lektüre des kanonischen Textes für unsere gegenwärtige These genügt. Es wäre allerdings ein Argument gegen unsere Lesart der Jesus-Geschichte, wenn die historisch-kritischen Forscher solide Beweise auftischten, dass der von ihnen gefundene „wirkliche Jesus“ ziemlich unvereinbar mit demjenigen sei, den wir im kanonischen Bericht finden. Wir werden dieser Herausforderung begegnen müssen, wenn sie auftauchen sollte. Aber bisher hat noch kein Forschungsansatz solche Ergebnisse erbracht. Im Gegenteil, je skeptischer die Forscher hinter den Dokumenten nach dem suchen, was sie als „harte Fakten“ anerkennen (in der Annahme, den Evangelienschreibern sei es weniger um solche Daten gegangen), und je selbstsicherer sie ihr neues Konzept, wie es tatsächlich war, entwerfen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Interpretationen entstehen könnten, die das traditionelle dogmatische Bild des apolitischen Jesus unterstützen, und desto wahrscheinlicher wird die Bekräftigung der Glaubwürdigkeit jener Elemente des Bildes, mit denen wir uns hier beschäftigen.
Die traditionelle dogmatische Zurückweisung der Relevanz des sozialen Beispiels Jesu für die Ethik war nicht auf eine alternative kritische Rekonstruktion des „wirklich Geschehenen“ gegründet, und daher braucht eine Herausforderung dieser Tradition nicht neue anerkannte kritische Resultate abzuwarten.
Doch nachdem ich nun meine ernsthafte Offenheit gegenüber der textkritischen Aufgabe dargelegt habe, sei es mir erlaubt, auch einen gewissen Skeptizismus zu bezeugen, und zwar über das Ausmaß an Klarheit, das die in diesem Forschungsfeld geläufigen Techniken versprechen. Jeder, der den vorliegenden Versuch, ehrlich mit dem kanonischen Text umzugehen, mit den sehr kühnen und kreativen Rekonstruktionen Carmichaels und Schonfields, Brandons oder Hamiltons vergleicht, wird wohl kaum zu dem Schluss kommen, die letzteren zögerten selbstkritisch vor dem Risiko fragwürdiger Hypothesen.
19 Bammel & Moule (1984).
20 N. Thomas Wright und Marcus Borg sprechen von „einer dritten Suche nach dem historischen Jesus“. Vgl. Borg (1991). Borg rezensiert fünf wichtige Forscher, von denen drei eine Interpretation der soziopolitischen Wirkung Jesu liefern, die „neu ist in der Jesusforschung“.
21 Ich gehe in meinem Buch mehrfach auf Brandons Text ein, vgl. Index. Es gab zahlreiche weitere eher populärwissenschaftliche Beschäftigungen mit demselben Thema: Schonfield, Joel Carmichael, James Pike etc.
22 Etwa Crossan (1991). Crossan ist ein Beispiel, wie jenseits der gewohnten Skepsis der Begriff „historischer Jesus“ wieder Akzeptabilität gewinnt (vgl. Anm. 20 oben). Ähnlich Meier (1992). Borg (Anm. 20) meint, zwei der Porträts würden Jesus als apolitisch beschreiben. Doch das trifft nur zu, wenn der Begriff „politisch“ enger gebraucht wird als in dieser Studie.
23 Meine Überlegungen dazu habe ich zuletzt zusammengefasst in Yoder (1990). Vgl. auch meine Zusammenfassung eines Symposiums in Yoder (1989a), S. 159–168.
24 In den 1970ern sahen einige Rezensenten dieses Buches, etwa James McCord, darin einen besonders fundierten Ausdruck der „Befreiungstheologie“; andere lasen es als Kritik dieser Bewegung. Beide hatten recht, denn „Befreiung“ ist ein Thema oder ein Themenfeld, nicht eine einzelne oder einheitliche Position.
25 Vgl. die Übersicht bei Borg (Anm. 20) und die „Sprüche-Schule“, wie sie Crossan vertritt (Anm. 22).
26 Zuvor bezog ich mich auf Forscher, die überzeugt sind, in den Quellen sei ein verlässliches Zeugnis über Jesus zu finden. Jetzt weise ich auf Forscher hin, die ihm, falls er sich als auffindbar erweist, eine Autorität zuschreiben.
27 Das protestantische akademische Verständnis der Bibel stand seit den 1950ern unter dem starken Einfluss von Wright (1952). Jedes Thema, das eine Zeitlang zur dominierenden Mode wird, wird von der nächsten Generation weniger geschätzt werden.
28 Diese Wortwahl bedeutet einen Umbruch in der Theologie insgesamt, nicht nur im Verständnis Jesu oder eines Datums. Ein frühes Beispiel liefert Brueggemanns (1973). Eine Darstellung der prophetischen Botschaft, die der Autor in einer sehr zeitbewussten Weise als Korrektiv des „neo-orthodoxen“ und „pietistischen“ Denkens seiner eigenen Vergangenheit einsetzt. Jesus zu lesen, kann auch ein Korrektiv sein gegenüber neo-orthodoxen und pietistischen Vorurteilen.
29 Manche halten den Pendelschwung der biblisch-theologischen Forschung weg von der „Geschichte“ und hin zur „Weisheit“ für übertrieben. Das ist hier nicht meine Sorge. Ein Buch nach mehr als Jahrzehnten wieder aufzulegen, befreit von der Sorge darüber, wo das Pendel gerade schwingt.
30 Die Gattung des Gleichnisses soll die Zuhörer oder Leser verblüffen und eine neue Sicht der Dinge eröffnen. Das wird unter den kreativen Auslegern allgemein so gesehen; vgl. Crossan (1973), und Crossan (1983). Gleichnisse ähneln der Weisheitsliteratur darin, dass sie nicht an konkrete Ereignisse gebunden sind. Zugleich sprengen sie jedoch die traditionell weisheitsaffinen Bereiche wie Sprichwort und Kosmologie. Mit der Annahme, die literarische Gattung der „Weisheit“ müsse mit einer konservativen Voreingenommenheit in der Substanz ethischen Denkens einhergehen, unterliegt der ethische „Mainstream“ einem Irrtum. Harvey (1990), S. 62ff, verdeutlicht, dass dies weder auf heidnische noch auf hebräische Modelle zutrifft. Harvey beschreibt die doch auf Veränderung zielende Intention solcher Literatur.
31 Die ganze Bergpredigt, am deutlichsten Matthäus 5, illustriert die Konzentration des Rabbi auf die äußere und innere Bedeutung der halakah (wenn auch das meiste Wissen über Rabbis aus Quellen stammt, die jünger sind als die Evangelien). Die Bergpredigt wird im vorliegenden Buch unterbetont, weil sie in früheren Debatten eher überbetont wurde.
32 Mit logos bezeichnet das vierte Evangelium die göttliche Weisheit, die mit Jesus in unser Leben kam. Eine formale Parallele liefert hokma in Sprüche 8. Wenn dieses „Wort“ jedoch die Sphäre menschlicher Erfahrung betritt, ist es nonkonform mit der herrschenden Kultur; es wird abgelehnt von den Seinen. Vgl. meinen Aufsatz „Glory in a Tent“, in: Yoder (1985), S. 69ff.
33 Niebuhr (1946), in derselben Zeitschrift nachgedruckt in Niebuhr (1983). Zur weiteren Diskussion mit Niebuhrs Argumentation s. Stassen et al. (1996).
34 Manche Zeitgenossen würden diese Aussagen über den Geist „charismatisch“ verstehen, also dass heutige Weisheitsworte den Gläubigen neue kontextuelle ethische Weisung geben könnten. Niebuhr jedoch meinte das nicht so, er dachte vielmehr an die „Lektionen der Geschichte“, die in Jahrhunderten von der Kirche vorgenommenen Anpassungen an Strukturen wie Volk, Staat oder Wirtschaft als den störrischen Konstanten der gefallenen Welt. Die Bitte um Leitung durch den Heiligen Geist zielt auf Bestätigung dieser Anpassungen.
35 Vgl. Anm. 33.
36 Inwiefern Niebuhr tatsächlich vorhatte, in der ethischen Substanz je nach ihrem Bezug auf Vater, Sohn und Geist zu unterscheiden, ist Teil der oben zitierten Diskussion, s. Anm. 16.
37 Borg (1991, s. Anm. 20) merkt an, dass die Debatten der früheren Forschung, ob Jesus nun „politisch“ war oder nicht, voraussetzten, dass es nur zwei Optionen gab: zelotische Revolution oder apolitische Gewaltfreiheit. Diese Alternative schließt das Material der Evangelien a priori aus, das hat jedoch nichts mit den Texten selbst zu tun. Auch die von Borg präsentierten fünf verschiedenen Porträts Jesu und ihre Differenzierung haben mehr mit hermeneutischen a-priori-Festlegungen zu tun als mit dem Text.
38 „Die Gute Nachricht des Evangeliums ist nicht das Gesetz, dass wir einander lieben sollen. Die gute Nachricht … ist, dass es eine Quelle göttlicher Gnade gibt. …“ Niebuhr (1940). Diese Ansicht ist eine Verfeinerung von Negation 6 der ursprünglichen Liste.
39 Harvey (1990), S. 7ff.
40 In den Anfangskapiteln fehlt diese Dimension weitgehend; ab S. 192ff ist sie jedoch gegenwärtig.