Kitabı oku: «Die Politik Jesu», sayfa 4

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41 Siehe meine Diskussion „anderer Lichtquellen“ in Yoder (1982), S. 127ff, auch enthalten in Cartwright (1994), S. 182ff.

42 Vgl. Yoder (1962). Dieser Austausch mit Donald Miller war das Ergebnis seiner Kritik des Arguments auf S. 33ff in Yoder (1964b). Ähnliche Argumente über die Berufung auf die „Natur“ bringen Ellul (1960) und Hauerwas (1983), S. 51–60, 99–101.

KAPITEL 2
Das kommende Königreich
Die Ankündigung: Lukas 1,46ff, 68ff; vgl. 3,7ff

Wir sind es nicht gewohnt, die Jungfrau Maria als Makkabäerin anzusehen. Doch wäre das Magnificat in der Geschichte durch seine liturgische Verwendung nicht zur leeren Wiederholung geworden, so wären wir alle beeindruckt, dass sich Maria hier wie eine Makkabäerin anhört.

Er hat Macht geübt mit seinem Arm, er hat zerstreut, die hochmütig sind in ihres Herzens Sinne; er hat Gewaltige von den Thronen gestoßen und Niedrige erhöht. Hungrige hat er mit Gütern erfüllt und die Reichen leer hinweggeschickt.

Lk 1,51–53

Für unsere Absicht hier ist es nicht wichtig zu wissen, aus welcher literarischen Quelle Lukas geschöpft hat oder aus welcher liturgischen Quelle Maria hätte schöpfen können.43

Das vorliegende Zeugnis des Evangeliums sagt uns, dass der, dessen Geburt angekündigt wird, ein Urheber radikalen sozialen Wandels sein wird. Die Hoffnungen derer, die die „Tröstung Israels“ erwarten, sind nicht kultischer oder dogmatischer Art, und so sind sie keine im engen Sinn „religiösen“ Erwartungen; er kommt, die Knechtschaft seines Volkes zu zerbrechen. Einige Verse darauf tut Zacharias, sobald seine Lippen gelöst sind, die Bedeutung der Geburt des Johannes kund:

Um uns Rettung zu schaffen vor unseren Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen. … dass wir, erlöst aus der Hand unserer Feinde, ohne Furcht ihm dienen.

Lk 1,71.74 (Jerusalemer Bibel)

Diese Erwartung wird noch klarer, wenn Johannes selbst sie ausspricht:

Schon ist aber die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum nun, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen … Er hat die Wurfschaufel in seiner Hand, um seine Tenne zu fegen und den Weizen in seine Scheune zu sammeln. Die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen.

Lk 3,9.17 (Jerusalemer Bibel)

Das ist die Sprache, in der Johannes „die gute Nachricht dem Volk predigte“. Zu voreilig haben wir bisher immer alle Worte der Ankündigung durch die Annahme gefiltert, das alles sei natürlich „geistlich“ zu verstehen.44

Auf jeden Fall behielt Johannes nicht recht mit seinen Erwartungen – oder etwa doch? Wir werden später sehen, inwieweit die von Jesus gebrachte Erfüllung sich von den Erwartungen des Johannes unterscheidet; aber auf jeden Fall besteht der Unterschied nicht darin, dass Johannes soziale und politische Erwartungen hatte, die Jesus dann „geistlich“ erfüllte. Wäre das der Unterschied, so hätte Lukas seine Geschichte anders anfangen müssen. Die ersten drei Kapitel müssten einen warnenden Hinweis auf die Unangemessenheit der Hoffnungen Marias, Zacharias’ und auch Johannes’ enthalten. Da ein solches Warnsignal fehlt, können wir nur schließen, dass sogar zu dem späten Zeitpunkt, da Lukas seine Geschichte für Theophil zusammenstellte (vermutlich mit dem apologetischen Interesse, die Christen nicht als Aufwiegler erscheinen zu lassen), er doch nicht darum herum kam, zu berichten, dass die frommen Hoffnungen, die Jesus entgegengebracht wurden, das Leiden Israels in seiner ganzen sozialen und politischen Wirklichkeit umfassten und dass das Wirken des Erwarteten von derselben Art sein würde.

Um der Kürze willen überspringen wir die Geburtsgeschichte, mit der Betonung der kaiserlichen Volkszählung und ihrer ganzen Tragweite für ein unterworfenes Volk: Registrierung, Besteuerung, Identitätskontrolle. Wir brauchen uns nicht ausführlich mit der offensichtlich politischen Bedeutung der Identifizierung Bethlehems als Stadt Davids zu beschäftigen; auch nicht mit der Verkündung der Engel: „Friede auf Erden“ oder den Erwartungen Simeons und Hannas oder mit Matthäus’ Bericht über die Angst des Herodes und den Kindermord; es muss genügen, die Fäden dort wieder aufzunehmen, wo die Sache öffentlich wird.

Wir hätten auch die offensichtlich politische Bedeutung der Beziehung zwischen Jesus und Johannes dem Täufer eingehender verfolgen können. Johannes’ Wirken hatte einen ausgesprochen politischen Charakter und in gewissem Sinne war Jesus sein Nachfolger (siehe die zeitliche Beziehung in Mt 3,12). Die Lehre des Johannes rief nach einer sofortigen Gütergemeinschaft in den Dingen des täglichen Bedarfs (Lk 3,11); die einzigen Zuhörerkategorien, die Lukas aus den „Massen“ benennt (Matthäus erwähnt Pharisäer und Sadduzäer), sind die sozial und politisch missachteten Zöllner (3,12) und Soldaten (3,14). Nach dem Bericht des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus hatte die Gefangennahme des Johannes mit der Angst des Herodes Antipas zu tun, Johannes könne einen Aufstand entfachen.45 Lukas’ Bericht über das Vergehen des Johannes spricht nicht nur von „Herodias, der Frau seines Bruders“, sondern auch von „allem Bösen, das Herodes getan hatte“; darin ist möglicherweise substanziell politische Kritik enthalten. Dass Herodes seine erste Frau verstieß und an ihrer Stelle Herodias nahm, war an sich schon eine öffentliche, politische Angelegenheit, da dadurch ein Krieg mit dem Vater der ersten Frau, Aretas IV. von Nabatea, ausgelöst wurde. Selbst wenn das Urteil des Johannes über die Wiederverheiratung in erster Linie durch seine Ablehnung von Scheidung und Ehebruch motiviert war, so hatte seine Gefangensetzung eine symbolische politische Bedeutung, wie vielleicht auch die Wahl von Machaerus, der Festung an der nabateischen Grenze, als Ort seiner Gefangenschaft und Hinrichtung. Jesu Antwort an die Boten des Johannes erinnert direkt an seine erste Predigt in Nazareth (4,18). Der Bericht über sein Wirken veranlasst Herodes, in ihm einen möglichen Nachfolger für Johannes zu sehen (9,7ff). Jesus stellt sein Schicksal neben das von Johannes (16,16 par).

Schon aus dieser knappen Zusammenfassung wird deutlich, dass eine nähere Untersuchung der Nebenlinien gleich welcher Richtung nur unsere Ergebnisse im Gesamtverlauf der Geschichte bestätigen würde.

Berufung und Versuchung: Lukas 3,21–4,14

Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Lk 3,22

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie explizit diese Worte vom Himmel von Jesus – bzw. von Johannes oder Lukas – als Anspielung auf Psalm 2,7 oder auf Jesaja 42,1b verstanden worden sind. Ist die doppelte Anspielung klar intendiert, so bedeutet sie eine explizite Verschmelzung des Inthronisationsthemas (Ps 2) mit dem des leidenden Gottesknechtes (Jes 42). Wie auch immer, mit oder ohne ausdrücklich messianische Anspielung haben wir es hier mit der Übertragung eines Auftrages in der Geschichte zu tun. „Du bist mein Sohn“ ist keine Definition oder Bestätigung eines metaphysisch definierten Status der Sohnschaft; es ist die Berufung zu einer Aufgabe. Jesus ist beauftragt, in der Geschichte, in Palästina, der messianische Sohn und Diener zu sein, der Träger des guten Willens und der Verheißung Gottes. Dieser Auftrag wird in der Versuchung, in die Jesus unmittelbar darauf hineingerät, näher definiert.

Der hypothetische Syllogismus des Versuchers „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann …“ argumentiert nicht aus einem Konzept metaphysischer Sohnschaft heraus, sondern vom Königtum her. Mit „Sohn Gottes“ kann im Aramäischen kaum die ontologische Wesensgleichheit des Sohns mit dem Vater gemeint gewesen sein, so dass es für den Versucher wie für das erste chalcedonische Konzil angebracht gewesen wäre, zu überlegen, wie Jesus, obwohl er doch die göttlichen Attribute teilt und per Definition allmächtig ist, trotzdem der Versuchung unterworfen sein kann, seine Allmacht zu gebrauchen. Der Sohn Gottes in Psalm 2,7 ist der König; alle Möglichkeiten, die der Versucher Jesus anbietet, sind Wege zum Königtum.46

Der Versuchungsbericht des Lukas stellt die ökonomische Alternative an den Anfang. Der geistliche Filter, durch den wir heute zu lesen gewohnt sind, behandelt die Attraktion dieser Versuchung als eine rein persönliche, fleischliche. Jesus war hungrig. Würde er sich selbstsüchtig seiner Allmacht bedienen, um sich zu speisen? Aber ein vierzigtägiges Fasten bricht man nicht mit krustigem Brot, und schon gar nicht mit einem ganzen Feld felsbrockengroßer Laiber. Weil Jesus selbst für die Qualen des Hungers neu sensibilisiert worden war, konnte daraus die Alternativfrage für ihn erwachsen (oder doch verstärkt werden), ob seine Messianität sich darin ausdrücken würde, dass er ein Festmahl für seine Jünger ausrichtete. Dass das keine unbegründete Einbildung war, zeigt die Fortsetzung der Geschichte: Speise die Massen, und du wirst König sein.47

Der zweiten Versuchung in der Reihenfolge von Lukas wird allgemein sozio-politischer Charakter zugestanden.48 Die Stimme vom Himmel (3,22) hatte Psalm 2,7 zitiert, der Versucher geht einfach weiter zur Verheißung von 2,8. Hier gibt es keinen Zweifel über die politische Natur des versprochenen Lohnes, „alle Reiche des Erdkreises … alle diese Macht und ihre Herrlichkeit“; gefragt werden müsste hier allerdings, was es hätte bedeuten können, „ihm zu huldigen“. Sollen wir uns eine Art Satanskult vorstellen? Oder bietet sich nicht eine viel konkretere Bedeutung, wenn wir Jesus als den verstehen, der mittels solcher Begriffe den götzenhaften Charakter politischen Machthungers und des Nationalismus aufdeckt?

Schließlich wird Jesus auf die Zinne des Tempels geführt. Niels Hyldahl49 kombiniert sehr geschickt die Mischnavorschriften über die Ausführung der Todesstrafe mit einigen alten Berichten über das Martyrium des Jakobus: der Sturz von einem Turm in der Tempelmauer (der gut als pterygion bezeichnet werden kann, was normalerweise mit „Zinne“ übersetzt wird) in das Kidrontal, falls notwendig mit anschließender Steinigung, war die vorgeschriebene Todesstrafe für Blasphemie. Die Versuchung bestünde dann darin: Jesus sieht sich selbst, wie er die Strafe für seinen Anspruch auf göttliche Autorität auf sich nimmt, doch auf wunderbare Weise vor den Konsequenzen gerettet wird.50 Hyldahl trifft keine Entscheidung, wo der Akzent liegen soll: darauf, dass Jesus über die Strafe nachdenkt und damit rechnet, zu entkommen, oder darauf, dass er sich als eine Art Gottesurteil aus eigener Initiative hinunterstürzt. In jedem Falle ist es der quasi-blasphemische Anspruch auf göttliches Königtum, der der Prüfung ausgesetzt wird.

Wenn wir, statt auf Hyldahls Vorschlag eines Sturzes außerhalb der Tempelmauer einzugehen, bei dem traditionelleren Bild einer plötzlichen Erscheinung von oben und zwar innerhalb des Tempelhofes bleiben, so müssen wir Hyldahl auf jeden Fall zustimmen, dass es nicht um ein rein akrobatisches Kunststück zur Beglaubigung von Jesu Ruf als Wundermann ging. Das wäre ein Zeichen der Art gewesen, die Jesus den Neugierigen und Zweifelnden standhaft verweigerte. Wenn wir überhaupt zu rekonstruieren versuchen, was als die konkrete menschliche Möglichkeit in Jesu Versuchung über die Bedeutung seiner Mission hätte angesehen werden können – wäre nicht eine unerwartete Erscheinung von oben der beweiskräftigste Weg für den Botschafter der Verheißung, um nach Maleachi 3,1–3 „… plötzlich in seinen Tempel zu kommen und … die Söhne Levis zu reinigen“? Weiter (sogar noch deutlicher in Matthäus’ Bericht, wo diese Versuchung nicht den Höhepunkt darstellt, sondern zum Angebot der Weltherrschaft führt) sehen wir Jesus über die Rolle als religiöser Reformer, himmlischer Botschafter nachdenken, der unangekündigt von oben erscheint, um die Dinge ins Lot zu bringen.

Soll nicht dieses Herabschweben von einem so bedeutungsvollen Ort den Auftakt bilden zu einem religiös-politischen Freiheitskampf, der Jesus schließlich zum Triumphator macht, so wie es jene falschen Messiasprätendenten anstrebten, von denen das Neue Testament und Josephus gerade für die damalige Zeit genug Beispiele bieten?51

Das öffentliche Wirken: Lukas 4,14ff

Lukas beginnt nicht mit einer Zusammenfassung dessen, was Jesus „zu predigen begann“. Anders Matthäus und Markus. Beide berichten, dass Jesus in seiner ersten Botschaft dieselben Worte gebraucht wie vorher Johannes der Täufer (und später die Jünger): „Das Reich Gottes ist nahe; tut Buße und glaubt an die gute Nachricht.“ Die Sprache – „Königreich“, „Evangelium“ – kommt aus dem politischen Bereich. Diese eigentümliche Wortwahl wäre äußerst unangemessen, hätte sich Jesus, gegen die Erwartungen des Johannes, nicht für diesen Bereich interessiert. Dass „Königreich“ ein politischer Begriff ist, braucht kaum hervorgehoben zu werden; dass aber „Evangelium“ nicht irgendeine alte willkommene Botschaft ist, sondern eine öffentlich bedeutsame Bekanntmachung, die es wert ist, durch Eilboten weiterbefördert und durch ein Fest empfangen zu werden, ist dem normalen Bibelleser weniger bewusst.

Auch Lukas spricht von der Verkündigung „des Evangeliums vom Königreich“ (4,43), doch er gebraucht diese Begriffe nicht gleich am Anfang von Jesu Wirken; für Theophil hätten sie nicht dieselbe Dichte des terminus technicus wie für die Leser des Markus. Lukas entfaltet stattdessen denselben Anspruch in einem ausführlicheren Bericht aus der Synagoge zu Nazareth.

Der Abschnitt aus Jesaja 61, den Jesus hier auf sich anwendet,52 ist nicht nur eindeutig messianisch: er formuliert die messianische Erwartung auch in ausdrücklich sozialen Begriffen.

Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkündigen und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen zu befreien und zu entlassen, ein angenehmes Jahr des Herrn zu verkündigen.53

Lk 4,18–19

Es ist gut möglich, dass das „angenehme Jahr des Herrn“ im Buch des Propheten sich auf ein besonderes Ereignis am Ende seines Zeitalters oder in der unmittelbaren Zukunft der Gefangenen in Babylon (oder auf beides) bezog; aber für das rabbinische Judentum und somit für die Zuhörer Jesu bedeutete es sehr wahrscheinlich keins von beiden, sondern vielmehr das Jubeljahr, die Zeit, in der die Ungleichheiten, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, ausgelöscht werden und das ganze Volk Gottes am gleichen Punkt wieder anfängt. Erwartet wird also nicht, dass Jesus Palästina aus dem Zeitverlauf am Ende herausnimmt, sondern vielmehr, dass der gleichmachende Einfluss des Sabbatjahres nach Palästina kommt.

In einem kleinen genialen Buch54 hat André Trocmé das Beweismaterial gesammelt, dass Jesu Konzept des herannahenden Reiches weitgehend aus dem prophetischen Verständnis des Jubeljahres entlehnt ist. Diese Hypothese wirft Licht auf viele Anspielungen und einige der schwierigen Gleichnisse. In der Ausschließlichkeit, mit der Trocmé seine Hypothese als Schlüssel benutzt, mag man ihn zu originell und phantasievoll finden. Aber es ist nicht, wie aus dem Schweigen, womit kontinentale Neutestamentler auf Trocmés Buch reagierten, geschlossen werden könnte, ein gänzlich neuer oder undenkbarer Gedanke.

Schon Standardkommentare wie La Grange und Plummer lieferten dieselbe Interpretation dieser Passage.55 Der Unterschied liegt eher im Grad der Bereitschaft, das Licht, das dieser Abschnitt auf das übrige Wirken Jesu und auf sein Selbstverständnis werfen könnte, ernstzunehmen.

Es geht uns hier nicht darum, die Ursprünge des Sabbatjahres und des Jubeljahres zu diskutieren, die vermutlich aus einer Art Bankrott- und Verpfändungsregelung im alten Israel herrühren.56

Noch brauchen wir zu diskutieren, ob und in welchem Ausmaß die Vorschriften in Levitikus 25 jemals buchstäblich eingehalten wurden57, sei es in Form eines Fünfzig-Jahre-Rhythmus für bestimmte Verpflichtungen oder als umwälzende wirtschaftliche Reorganisation, die alles Eigentum sofort umverteilte. Wir konzentrieren uns auf den prophetischen Gebrauch der Jubeljahrsvision. Mit Levitikus 25 blieb die Vision einer Zeit lebendig, in der das wirtschaftliche Leben von Grund auf neu beginnen sollte; und das Zeugnis in Jesaja 61 zeigt die Fruchtbarkeit dieses Textes als Vision der kommenden Erneuerung.

Mindestens einmal wurde diese Vision des Jubeljahres in Israel als konkrete Erfahrung lebendig. Jeremia (Kap. 34) berichtet von einer Erneuerung des Bundes im belagerten Jerusalem; König Zedekia setzte das alte Gesetz wieder in Kraft und verkündete die Freiheit aller hebräischen Sklaven. Die Sklavenhalter jedoch fackelten nicht lange, nahmen die freigelassenen Sklaven wieder gefangen und unterwarfen sie erneut.58

Eine direkte Antwort darauf sind die prophetischen Worte, mit denen Jeremia im Namen JHWHs, des Gottes Israels, an die Bedeutung der Freilassung im Sinaibund erinnert; ausdrücklich wird festgestellt, dass Jerusalem wegen der Nichteinhaltung des erneuerten Bundes in die Hände Nebukadnezars fällt. „Ihr habt nicht auf mich gehört, dass ihr, ein jeder für seinen Bruder und ein jeder für seinen Nächsten, Freilassung ausgerufen hättet. So rufe ich denn um Freilassung für euch aus (d. h. ich liefere euch aus), spricht der Herr, dass ihr dem Schwert, der Pest und dem Hunger verfallen sollt“ (Jer 34,17). Bei der prophetischen Vision geht es also um die Erneuerung des Gottesvolkes. Als solche meint sie beides: die konkrete Erneuerung, die gelegentlich in der Vergangenheit geschehen und jetzt noch möglich ist, und auch die Erneuerung nach dem Ende der Zeiten – beides vollzieht sich in Form des Jubeljahres. Dieselbe Vision findet sich in Jesaja 58,6–12. Jesus macht also keinen willkürlichen Gebrauch von Jesaja.59

Wir müssen folgern, dass Jesus dem buchstäblichen Sinn seiner Worte nach, ebenso wie Maria und Johannes, den bevorstehenden Anbruch einer neuen Herrschaft ankündigte, die man daran erkennen sollte: Die Reichen geben den Armen, die Gefangenen werden befreit, und die Menschen erhalten ein neues Bewusstsein (metanoia), wenn sie diese Botschaft glauben.

Wir wissen nicht genau, was Jesus mit der Feststellung meinte, dass „dieses Wort erfüllt ist“. Wie ist Jesu Anspruch zu verstehen, in seiner Person beginne gerade jetzt etwas zu geschehen? Geschah überhaupt etwas? Kündigte er ein Ereignis an, dessen Verwirklichung vom Glauben seiner Zuhörer abhängig war, so dass es schließlich dann doch nicht geschehen konnte wegen ihres Unglaubens? Oder kündigte er etwas an, das dann wirklich geschah, aber für eine Weile wenig sichtbar war?

Das ist eine ernstzunehmende Frage. Doch handelt es sich um eine Frage der systematischen Hermeneutik, die von Lesern in den Lukastext hineingelesen wird, die nicht dabei waren. Diese Frage hat damit zu tun, inwieweit die von Jesus versprochene Erfüllung historische Realität war. Sie hat nichts mit der klaren Tatsache zu tun, dass es im Text um ein soziales Anliegen geht. Wir mögen große Schwierigkeiten haben, herauszubekommen, wie dieses Ereignis stattfand oder hätte stattfinden können; doch was stattfinden sollte, ist klar: eine sichtbare sozio-politische, ökonomische Neuordnung der Beziehungen im Volke Gottes, und das durch sein Eingreifen in der Person Jesu als des Gesalbten und mit dem Geist des Begabten.

Mit dem Zusammenstoß in der Synagoge erregt Jesus erstmals direktes Ärgernis bei seinen Hörern. Unter Berufung auf die Propheten verkündet er, dass das neue Zeitalter auch für die Heiden offenstehe. Diese zweite Stoßrichtung scheint nicht aus der Jubeljahrsverkündigung zu stammen; sie erwächst vielmehr aus Jesu Antwort auf den Unglauben seiner Zuhörer. Zwischen beiden Themen besteht ein eher negativer Zusammenhang: das zweite Anliegen, das sich gegen den ethnischen Egoismus Israels richtete, verhinderte, dass das erste im nationalistischen Sinne missverstanden wurde. Der Hinweis des Propheten auf die Gefangenen und Unterdrückten bleibt also nicht auf Israel oder das Judentum im Ganzen als kollektiv Unterdrückte beschränkt; dafür ist die Befreiung zu umfassend. Die neue Zeit ist für alle Menschen da, und das Zögern der Einwohner von Nazareth wird die weitere Verkündigung nur beschleunigen.

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