Kitabı oku: «Fachdidaktik Englisch - Fokus Literaturvermittlung», sayfa 6
Standardlektüren in Sekundarstufe II, ca. 1960-1990 (Thaler 2008: 100)
Die Ausschnitte aus Erzähl- und Dramentexten bzw. Hör- und Drehbüchern in den hier betrachteten Lehrwerken sind nahezu ausnahmslos der Gegenwartsliteratur zuzurechnen (lediglich P.D. James‘ Children of Men erschien schon 1991). Im Hinblick auf dieses auffällige Bemühen um thematische Aktualität der meisten dieser Werke argumentiert Frauke Matz:
If we take the dystopian genre seriously in its entire social critique and employ both its authority and popularity to raise students’ political engagement, then we have to use current texts that are based on contemporary issues. Thus, from a purely content-oriented viewpoint, the classical dystopia has become redundant, unless it is being used purely to teach the origins and development of the genre or the shift in political concerns. (Matz 2015: 268)
Die Literaturauszüge der Lehrwerksgeneration seit 2015 lassen es den Lehrkräften zudem einerseits einfacher erscheinen, anders als z.B. im Fall Shakespeare ‚unbelastet‘ von der Produktivität einer ganzen Forschungsindustrie an die Lehrmaterialien zu gehen. Andererseits fehlt es ihnen dabei an modellbildenden Vorlagen für Lektüren durch literatur- / kulturwissenschaftliche Beiträge – allerdings sind derartige deutende, Bedeutung stiftende Zugänge schon in curricularer Hinsicht stark marginalisiert, weil kommunikative Kompetenzen wie das Sprechen über den literarischen Stoff (anders als der im close reading ermöglichte Dialog mit dem Text) im handlungsorientierten Unterricht favorisiert sind. Was die ästhetische Qualität und gesellschaftliche Aktualität aller Texte betrifft, so lässt sich feststellen, dass sie überwiegend anspruchsvoll auch für fortgeschrittene Leser:innen sind und in ihrer Thematik ein hohes kognitives und affektives Wirkungspotenzial auf die Lernenden bereithalten.
Auffällig erscheint schließlich insbesondere in Green Line und Pathway Advanced die Tatsache, dass die verschiedenen Materialien und Medien keine aktuellen Bezüge zu den Technologien herstellen, die heutige Schüler:innen täglich nutzen und die im weiteren Verlauf des Kapitels so sehr in den Vordergrund rücken. Die Erfinder oder Repräsentanten großer Software- oder Internetkonzerne bleiben unberücksichtigt und es ist geradezu, als gäbe es in den Naturwissenschaften und in der Technologiegeschichte keine weiblichen Persönlichkeiten. Mit Verweis auf Ada Lovelace (Computergeschichte), Marie Curie (Radiologie) oder Lise Meitner (Kernphysik) böte sich hier eine Gelegenheit, zumindest einige Frauen als wichtige Beiträgerinnen zur MINT-Geschichte (hier: Medizin / Ingenieurwesen / Naturwissenschaft / Technologie) in den Vordergrund zu stellen und damit zugleich den möglichen Eindruck zu entkräften, dass es auf den folgenden Seiten ein exklusives ‚Jungenthema‘ zu diskutieren gelte. Dieses einseitige gendering verstärkt sich noch dadurch, dass auch von allen Textausschnitten des „Science“-Kapitels in Green Line nur einer von einer Frau verfasst ist: Fiona Maecraes kritischer Zeitungsbeitrag zur Gentechnik für die Daily Mail (GL 195). So werden schließlich auch mehrere Bildimpulse gesetzt, die suggerieren, dass am Steuer eines Elektroautos und an Überwachungskameras stets ein Mann säße (vgl. GL 186 und 188), bzw. die Welt der Artificial Intelligence nur eine Männer-Welt sei (Szenenfoto aus Robocop, GL 192). Weibliche Figuren finden sich ausschließlich in solchen Zusammenhängen, wo sie als Objekt bzw. als naiv dargestellt werden: Das Gesicht der bekannten Schauspielerin Keira Knightley (in ihrer Rolle als Klonkind Ruth) auf dem Filmcover von Never Let Me Go (2011, GL 190) sowie ein anonymes, vervielfachtes Frauengesicht auf dem Foto einer Bildagentur als ikonischer Stellvertreter für eine geklonte Person (GL 194); schließlich die einfältige Frau im satirischen Cartoon von Guy & Rodd, die ihrem Arzt im Genlabor den Wunsch mitteilt, er möge dem zukünftigen Katalogkind doch einen kleinen Defekt einfügen („a touch of astigmatism“), weil sie Brillenkinder „sooo cute“ finde (GL 195).2
Insgesamt ergibt sich so der Eindruck nicht nur eines unreflektierten und veralteten, sondern geradezu ultrakonservativen Geschlechter-Rollenbildes in der Behandlung des Themas „Science / Technology“, das weder in der gesamtgesellschaftlichen Realität eine Entsprechung findet noch durch bildungspolitische Zielsetzungen gedeckt wird. Dort wird selbstverständlich eine Erhöhung des Frauenanteils in den MINT-Fächern als Maßnahme zur Beseitigung des aktuellen Fachkräftemangels in technischen Berufen gesehen und gefördert.
Das starke gendering des Themas „Science / Technology / Utopia / Dystopia“ zu Ungunsten von Identifikationsangeboten für junge Frauen könnte darüber hinaus zu einem affektiven Hindernis gegenüber dem Lernstoff werden, ebenso wie die allgemein skeptizistische, wenn nicht gar technophobe Haltung gegenüber Wissenschaft und Technologie, die über das entsprechende Kapitel im jeweiligen Lehrwerk vermittelt wird.
Es stellt sich somit die drängende Frage, welche unterschiedlichen Möglichkeiten nun seitens der verschiedenen Lehrwerke angeboten werden, um die zwei hier ausgewählten literaturaffinen Themen für einen schülerzentrierten Unterricht aufzubereiten und sie Lernenden wie Lehrenden ‚schmackhaft‘ zu machen, d.h. sie zugleich inhaltlich frag-, also diskussionswürdig und kommunikativ motivierend erscheinen zu lassen.
2.2.1 Literaturorientierte Aufgabenformate
In den folgenden Abschnitten werden nun aus jeder der zuvor aus Vogelperspektive betrachteten Unterrichtseinheit zu „Science / Technology / Utopia / Dystopia“ die literaturbezogenen Aufgaben untersucht. Es wird dabei in besonderem Maße auf die lerntheoretische Authentizität hinsichtlich der Vermittlung der Text- / Medienkompetenzen, insbesondere der Literaturkompetenzen geachtet. Der Anspruch an die Aufgabenstellungen in den Lehrwerken besteht darin, eine zuverlässige und nachhaltige Vorbereitung auch für diejenigen zu gewährleisten, die jenseits eines persönlichen oder berufsorientierten Interesses an englischsprachigen Kulturen und allgemein kommunikativen Fremdsprachenkompetenzen tatsächlich ein Sprachen- und Literaturstudium aufnehmen und dort häufig mit der Erwartung konfrontiert werden, dass sie hinreichende Fähigkeiten und Kenntnisse in Text-Analyse und Terminologie aus der Schule mitbrächten, die es im Studium systematisch, historisch und theoriegelenkt zu erweitern gilt (vgl. dazu Abschn. 1.1).
Die einzelnen Abschnitte wenden sich, von Lehrwerk zu Lehrwerk fortschreitend, den darin behandelten Texten zu und den Aufgabenformaten, die dazu gestellt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird zudem darauf gerichtet, welche methodisch-didaktischen und inhaltlichen Hinweise die jeweiligen Lehrerhandreichungen als Lösungsvorschläge dazu anbieten, bzw. welche weiterführenden sachdienlichen Informationen über die Texte und deren Hintergründe sie den Lehrkräften bereitstellen. Denn man kann nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass die angebotenen Textpassagen in ihrem Kontext oder in Gänze bekannt sind; nur wenige davon werden an der Universität gelehrt. Es ist daher sinnvoll, jenseits einschlägiger Web-Informationskanäle mit oft detaillierten Inhaltsangaben zu den Texten auch Hintergrundanalysen heranzuziehen, wie sie z.B. in Bänden wie Dystopia, Science Fiction, and Post-Apocalypse: Classics, New Tendencies, Model Interpretations (Voigts / Boller 2015) zu einer Vielzahl von an Schulen eingesetzten Stoffen zu erhalten sind: Neben Analysen zu den aktuellen Lehrwerkstoffen – Atwoods Oryx and Crake, Ishiguros Never Let Me Go und McCormacs The Road und James’ Children of Men – finden sich dort auch Modellanalysen jener klassischen Dystopien, die schon seit Jahrzehnten im ‚traditionellen‘ englischsprachigen Literaturunterricht eingesetzt worden sind, wie z.B. zu Bradburys Fahrenheit 451, Huxleys Brave New World und Orwells Nineteen Eighty-Four. In den meisten Fällen werden die Texte historisch bzw. generisch kontextualisiert sowie in Bezug zu ihren Verfilmungen gesetzt, so dass insgesamt ein hoher praktischer Nutzen für die fachwissenschaftliche Erarbeitung der Texte entsteht, wenngleich die hier gesammelten Einzelstudien über das hinausgehen, was im Unterricht der gymnasialen Oberstufe vermittelt werden kann. Sie liefern jedoch insbesondere den Lehrkräften sinnvolle Analyse-Kriterien und Interpretationsansätze, die für eine stoffnahe Vermittlung im schulischen Unterricht zuträglich sind.
2.2.2 Camden Town: Schulen der Zukunft – Zukunft der Schule?
Anders als die Vergleichswerke nähert Camden Town sich zunächst im Lernmodul „Science and Technology“ mit einem vergleichsweise intensiven Lektüreansatz den fiktionalen Texten an. Statt maximal zwei Textauszüge stehen in „Part B“ nicht weniger als vier Passagen mit zumeist mehr als 800 Wörtern aus Kazuo Ishiguros Dystopie Never Let Me Go zur Diskussion (CT 62-67), die satirische Kurzgeschichte „Harrison Bergeron“ von Kurt Vonnegut als „Advanced Text“ wird zudem als Ganztext dargeboten (CT 70-73). Eingeschoben – mit dem Ziel der autonomen Arbeit am Text unter dem Anspruch auf die Anwendung der zuvor erworbenen Kompetenzen – findet sich der Auszug aus Ernest Clines Ready Player One als Abschluss der Texte für das Grundkurs-Niveau (CT 68-69).
Kazuo Ishiguro, Never let me go (2006). Ein lesefördernder Workshop umfasst vier Textpassagen aus dem Roman. An ihnen sollen die Schüler:innen den problematischen ästhetischen Begriff „Stimmung“ (mit seinen englischen Entsprechungen atmosphere oder mood) erarbeiten (vgl. dazu Kap. 1.4). Als eine Kategorie, die gewissermaßen auf der Grenze zwischen Text und Rezipient verläuft, bekommt der Begriff „Stimmung“ auch im literaturdidaktischen Diskurs seine Signifikanz. Die generelle Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist jedoch, wie man den Schüler:innen ein Gespür für die Plausibilität des Begriffs als Beschreibungsinstrument für einen literarischen Text vermitteln kann.
Dies versucht Camden Town schon zu Beginn des „Science and Technology“-Moduls mit einem Schaubild, das den ersten „Preview“ zu Beginn des Kapitels ergänzt. Es stellt dar, aus welchen repräsentationalen Kategorien sich dieser Begriff zusammensetzt: aus dem setting (darunter werden Zeit, Raum, Wetter, Dinge und die Handlungssituation gefasst), den Charakteren (ihrem äußeren Erscheinungsbild, dem Verhalten, ihrer Sprache und ihrer Interaktion mit anderen Figuren), sowie der Erzählerstimme (Stil, Bildlichkeit, Vorausdeutungen und Rückblenden). Die Symbolik in den Darstellungsformen und ihr Einfluss auf die Lesersteuerung werden im Schaubild (Abb. 1) graphisch hervorgehoben. Es fällt daran auf, dass sich die einzelnen Untersuchungskategorien eng an der Konzeption den in Hoffmann (1978, s.o. Abschnitt 1.4) genannten Kriterien orientiert, mit denen er den „gestimmten Raum“ als symbolisches Konstrukt eines narrativen Textes erfasst, in dem äußerliche Beschreibungen im Konzert mit Figurencharakterisierungen und Erzählerstimme eine „Atmosphäre“ erzeugen, die dann von den Rezipient:innen empathisch erfasst und – im didaktischen Kontext – diskursiv-rational nachvollzogen werden muss.
Abb. 1:
Schema in Camden Town, Unit 2, Part B, Workshop „Analysing Atmosphere“, CT 63
Bevor die Schüler:innen den Beginn von Ishiguros Roman lesen, werden sie anhand der ersten Szene der Verfilmung (2010, Regie: Mark Romanek) in einer pre-reading Phase darauf vorbereitet. Schon hier werden sie in Aufgabe 1b) dazu aufgefordert, auf solche Details zu achten, die speziell dem filmischen Code zur Verfügung stehen: „[…] describe the atmosphere with reference to music, camera work and lighting“ (CT 62). Dabei bleibt zunächst einmal unberücksichtigt, dass für die cineastische Erzeugung von „Atmosphäre“ ganz andere, multimediale Mittel eingesetzt werden, als dies in literarischen Texten auf erzählerischer und erzähltechnischer Ebene der Fall ist: Die Aufgabe eignet sich insbesondere dann, wenn schon in vorhergehenden Unterrichtseinheiten die Prinzipien der Filmanalyse zur Geltung gekommen ist (was schon seit den mittleren Jahrgängen der Sekundarstufe I durchaus der Fall ist). Nichtsdestotrotz erscheint der Hinweis im Lehrerhandbuch sinnvoll, diese Aufgabe arbeitsteilig durchführen zu lassen, so dass einige Schüler:innen die Musik, andere die Kameraeinstellungen und die dritte Gruppe die Beleuchtung betrachten (im Verfahren des split viewing) bzw. mehrere aufeinander folgende viewings einplanen (vgl. CT-LHB 69). Entsprechend liefern die Hinweise auf eine Unterstützungs-Seite (CT 298) und ein Skill File (CT 366) weitere Instrumente, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Erstere bietet eine Auswahl an Formulierungshilfen (scaffolding), indem in einer Tabelle mit drei Spalten eine einleitende Wortgruppe in Subjektfunktion mit einer Verbalphrase und einem Inhaltssatz verbunden werden, wobei die kombinatorischen Möglichkeiten der zu bildenden Satzteile sehr hoch ist, aber jeweils einen sinnvollen Ausdruck ergibt. Nicht jedes dieser Ergebnisse ergibt einen vollständigen Satz, so dass die Lernenden gefordert sind, ihre eigenen Formulierungen (Beobachtungen, Urteile) anzuschließen, z.B. „The use of dark colours / The lack of direct conversation | reveals / points out | that the story is set in a society that seems to be characterized by | … / that something … is about to happen, namely …“ (CT 298).
Wenn die Lösungsvorschläge zu dieser Aufgabe allerdings nur eine einzelne Kameraeinstellung aus der Sequenz der Verfilmung herausgreifen – „The medium shot of Tommy’s body on the operating table draws the viewer’s attention to the fact that Tommy is covered in scars, suggesting the donations that are mentioned are of organs” (CT-LHB 69) –, dann dürften die Schüler:innen aufgrund der allgemeinen Formulierung der Aufgabe weitaus vielfältigere Ergebnisse zutage fördern. Der Lösungsvorschlag benennt die vielleicht wichtigste, aber bei weitem nicht einzige erwähnenswerte Kameraeinstellung. Auch andere Erwartungen sind sehr eindimensional formuliert bzw. können kaum von den Schüler:innen erfüllt werden: So greift die Antwort auf die Aufgabe 1a) „Speculate on what the film and the novel are about“ (CT 62) auf den WordPool zurück, in dem in einem Satz die relevanten literarischen Genres in allzu knapper Weise definiert werden: „Simply put, if these predictions [of the future] are positive, they are called UTOPIAS; if they envision a dark, threatening future, they are DYSTOPIAS“ (CT 48; Herv.i.Orig.). Insofern geht die Formulierung im Lehrerhandbuch über das mögliche Wissen der Schüler:innen hinaus, soweit es keine weiteren Informationen zu dem Stoff gibt: „The opening scene suggests that the film and novel are about a dystopian alternative world“ (CT-LHB 69).1 Tatsächlich klingt eine solche Formulierung eher nach einer zusammenfassenden – oder auch ergänzenden – Bilanz dessen, was die Schüler:innen an Einzelbeobachtungen beitragen, als dass sie eine angemessene kognitive Voreinstellung der Lernenden anbietet.
Nach der pre-reading-Phase folgt ein inhaltlicher Vergleich der Eröffnungsszene des Films mit den ersten Abschnitten des Romans (CT 62-63), die ihrerseits gegenüber dem Originaltext um einige Absätze verkürzt sind (vgl. Ishiguro 2016: 9-12). Ziel der ersten Arbeitsphase ist eine Lektüre des Textes, nachdem die entsprechende Szene schon mehrfach angeschaut und diskutiert worden ist. Die Schüler:innen sind gehalten, in Partnerarbeit die Kompetenzen des zuvor beendeten Teils A anzuwenden (d.h. sich gegenseitig eine Zusammenfassung des Textausschnitts zu liefern, Aufgabe 2a), um dann den eigentlichen Vergleich vorzunehmen (Aufgabe 2b) und sich über die Ergebnisse auszutauschen (Aufgabe 2c). Die Zuordnung zum Anforderungsbereich I („Comprehension“) ist durchaus diskutabel, denn ein Vergleich ist in der Regel auf einem komplexeren (kognitiven) Anforderungsniveau zu verorten als eine einfache Zusammenfassung; nicht zuletzt auch deswegen, weil – wie es das Lehrerhandbuch vorschlägt – die Schüler:innen eigenständig Kriterien entwickeln sollen, die den intermedialen Vergleich zwischen Film und Text ermöglichen bzw. plausibel werden lassen (vgl. CT-LHB 70).
Der Textpassus beginnt mit der Vorstellung der Ich-Erzählerin Kathy H., die ihre Leser durch den Roman führt. Sie beginnt mit Schilderungen ihrer Tätigkeit zum Zeitpunkt des Erzählens und blickt dabei auf ihre Vergangenheit als Schülerin des Internats von Hailsham zurück, in dem Klone auf ihren späteren einzigen Lebenszweck, das Leben anderer Menschen durch Organspenden zu retten, vorbereitet wurden. Im Zentrum ihrer Ausführungen steht ihre Arbeit als Pflegerin von anderen Spenderinnen und Spendern, die sie in den Tod begleitet, der in der Regel nach der dritten oder vierten Organentnahme eintritt. Obwohl von anderen Klonen aufgrund ihrer Bildungsheimat als privilegiert wahrgenommen, versucht Kathy eine Zeitlang, Hailsham hinter sich zu lassen. In diesen ersten Abschnitten erwähnt Kathy auch ihre Freundin Ruth, mit der sie ihre Kindheit in Hailsham geteilt hat und die eine signifikante, gleichwohl ambivalente Rolle in ihrem Leben spielen wird: Diese stellt sich zwischen Kathy und Tommy, einem weiteren Hailsham-Klon, für den Kathy eine tiefe Zuneigung verspürt – was in dem Klon-System weder vorgesehen ist noch gefördert wird, zugleich aber die menschliche Natur der Kinder wiederspiegelt. Ruth beansprucht jedoch Tommy für sich, solange die Heranwachsenden noch zusammenleben. Erst kurz vor ihrem eigenen Tod gibt sie ihn ‚frei‘, als sich die drei wiederbegegnen, nachdem sie sich jahrelang aus den Augen verloren hatten: Tommy und Ruth haben, anders als Kathy, ihren Weg als Organspender längst eingeschlagen und nur noch wenig Lebenszeit zur Verfügung. Die Irrungen und Wirrungen der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen werden in der rückblickenden Vorstellung Kathys zu Beginn des Romans nur leise in der Formulierung angedeutet, „all our differences – while they didn’t exactly vanish – seemed not nearly as important as all the other things: like the fact that we’d grown up together at Hailsham, the fact that we knew and remembered things no one else did“ (CT 62; entspr. Ishiguro 2016: 11). Am Ende dieses ersten Textpassus steht der nostalgische Blick auf die Vergangenheit: „That was when I understood, really understood, just how lucky we’d been – Tommy, Ruth, me, all the rest of us.“ (CT 63; entspr. Ishiguro 2016: 12).
Im Gegensatz dazu zeigt die Eingangsszene der Verfilmung den Zeitpunkt, da Kathy im Begriff steht, Tommy, den sie bis zu dessen Ende pflegen durfte, durch einen weiteren Eingriff zu verlieren. Auch hier sinniert Kathy, die als Erzählerin aus dem off spricht, in episodischen Rückblenden über ihre gemeinsame Vergangenheit im Internat Hailsham und über das Leben als Pflegerin, die ihre Zukunft und letzte, letale Erfüllung („completion“) als Organspenderin erst noch vor sich hat. Die Aussage in den Handreichungen, die Filmsequenz sei weniger narrativ gestaltet („much less narrative description“, CT-LHB 70), kann nur mit Einschränkungen stehen gelassen werden – denn wie im Roman erzählt Kathy zunächst von ihrer Arbeit als Pflegerin; parallel zu ihrer Erzählung wird Tommy in den Operationssaal geschoben und die Kameraeinstellungen wechseln zwischen ihrem Blick durch eine trennende Fensterscheibe auf ihn und seinem Blick zurück auf sie. Dieser perspektivische Wechsel symbolisiert nichts weniger als einen stummen Abschiedsdialog zwischen den beiden, der sich über den stockenden Monolog von Kathys Erinnerungen legt.
An dieser Szene lässt sich zeigen, inwieweit man behaupten kann, dass die Kamera vieles davon ‚erzählt‘, was das Verhältnis der beiden zueinander charakterisiert – und sie stellt zugleich die nüchtern-kühle Krankenhaus-Szenerie dar, vor der sich diese Momente ereignen.2 Die scheinbar emotionsarm vorgetragenen Erinnerungen Kathys werden durch den visuell und symbolisch aufgeladenen Erzählstrang der Kamera konterkariert. Daher ist auch der zweite Lösungsansatz in den Handreichungen, „the beginning of the novel focuses on Kathy, while the opening scene of the film focuses on Tommy“ (CT-LHB 70) unbefriedigend, da er zu viele (insbesondere filmische) Details vernachlässigt: Um die Komplexität der filmischen Komposition herauszuarbeiten, eignet sich hier in besonderem Maße das Verfahren des split viewing (d.h. der getrennten Präsentation von Bild und Tonspur), da die Informationen der Tonspur (Kathys Rückschau aus dem off) sich in markanter Weise von der Kameraerzählung des gegenwärtigen Moments abhebt. Während Kathys Stimme aus dem off eine erhebliche Zeittiefe erzeugt, generieren die Bildschnitte einen geradezu klaustrophobischen Effekt, insofern mit der Enge des Überwachungsraums, aus dem Kathy in den Operationssaal blickt, und mit Tommys Unerreichbarkeit die Ausweglosigkeit und Vorherbestimmtheit der beiden Figuren zum Ausdruck gebracht wird.
Nach dem eher deskriptiven Zugang zu einem Vergleich der beiden Eingangsszenen in Roman und Verfilmung bleibt auch die Beschreibung der erzähltechnischen Verfahren jeweils auf ein Mindestmaß reduziert. Es folgt auf den ersten Aufgabenblock ein zweiter, stärker analytisch ausgerichteter, der allerdings nur mehr den Romantext berücksichtigt. Die Schüler:innen sollen anhand einzelner Wörter die Funktionsweise von Euphemismen herausarbeiten, bei denen die Alltagsbedeutung und ihre Verwendung im Text auseinanderklaffen. Wie sehr diese Aufgaben vom Prinzip der Induktion geprägt sind, zeigt sich an der Tatsache, dass nur in den Lehrerhandreichungen der Begriff „Euphemismus“ erwähnt wird (CT-LHB 70). Den Schüler:innen obliegt es, ausgewählte Vokabeln bzw. Phrasen wie „carer“, „donor“, „agitated“, „donation“, „calm“ und „close to completing“ ggf. mit einem Wörterbuch zu erarbeiten und in einem weiteren Arbeitsschritt deren Bedeutung innerhalb des Textzusammenhangs zu erschließen, dann beides zu vergleichen und schließlich in Aufgabe 3d) zu erklären: „Explain how this choice of words may influence the atmosphere created by the narrator“ (CT 63). Als Hilfestellung sind im Schülerbuch die entsprechenden Fundstellen unterlegt, so dass z.B. auch über die Häufigkeit der Verwendung eines Wortes Schlüsse gezogen werden könnten: „carer“ und „donor“ kommen dabei sehr viel häufiger vor als die anderen Wörter.
Implizit rücken mit der Gestaltung der beiden Aufgabenblöcke die Kategorien, die im „Preview“ schematisch dargestellt sind, ins Zentrum: Während die drei Aufgaben zum Medienvergleich maßgeblich das setting und die Figuren zum Betrachtungsgegenstand werden lassen, rückt in der Aufgabe, die explizit das Sprachbewusstsein der Lernenden erhöhen soll, die Erzählerstimme des Romans in den Vordergrund und dabei vor allem Kathys nostalgisch verbrämte Art ihres Erzählens. Weniger zur Geltung kommt die diskursive Dimension der Zeitlichkeit, die hier wie in jeder retrospektiven Erzählung, bei der erzählendes Ich und erzähltes Ich eine große Zeitspannen voneinander trennen, paradox in Szene gesetzt ist: Einerseits wird deutlich, dass die gesamte Romanhandlung ein Akt der Erinnerung ist und somit einen Gedächtnisraum ausfüllt, andererseits ist es Kathy dadurch möglich, immer wieder atmosphärische An- und Vorausdeutungen auf Momente einzustreuen, deren Bedeutung für die Leser erst sehr viel später im Erzählzusammenhang genauer erkennbar wird. Dieses Auseinanderklaffen von Erzählerstimme und erzähltem Ich, das im Film eine Analogie in der oben beschriebenen Diskrepanz von Ton und Bild erhält, wird in keinem der beiden Aufgabenblöcke thematisiert, obgleich dies für die narrative Gestaltung ebenso wie die Verwendung der genannten Begriffe mit ihrer für die Erzählung spezifischen Umdeutung einen recht hohen Stellenwert einnähme.
Bis zu diesem Zeitpunkt in der Erarbeitung der Romanpassage sind die Schüler:innen noch nicht eingeladen, eigene Interpretationsansätze – sei es zu den Figuren oder zur Handlung – zu entwickeln. Angesichts der Tatsache, dass eine einzelne Textstelle ohnehin zu knapp bemessen sein dürfte, um Aussagen über eine Figur oder die Handlung eines ganzen Romans zu treffen (die folgenden Abschnitte zu den Vergleichs-Lehrwerken innerhalb dieses Kapitels werden dies immer wieder vor Augen führen), sind daher die anschließenden Schritte zur Erarbeitung von drei weiteren Textausschnitten sinnvoll und gerechtfertigt. Dabei handelt es sich zunächst um die Szene in Kapitel 7, in der eine Lehrerin am Internat, Miss Lucy, ihren Schützlingen deren trübe Zukunftsperspektive als Organspender vor Augen führt: Während natürlich gezeugte Kinder viele verschiedene Zukunftsoptionen erträumen bzw. planen dürfen, sind die Klone sehr viel stärker funktional und instrumentell determiniert und entsprechend ihrem Zweck aller beruflicher Perspektiven beraubt. Denn ihnen stellt sich nicht die Frage, ob sie nach Amerika gehen, um dort eine Schauspielerkarriere einzuschlagen, oder ob sie auch nur im lokalen Supermarkt arbeiten möchten (vgl. CT 64; entspr. Ishiguro 2016: 86-88), da ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung sich allein aus ihrer Funktion als Organspender ableitet.3
An dieser Stelle rücken nun die atmosphärischen Details, die im „Preview“ visuell dargestellt werden und die in den vorigen Aufgabenblöcken implizit erarbeitet wurden, in den Blickpunkt. Die Textpassage eignet sich deswegen so gut für eine textnahe Analyse des „gestimmten Raums“, weil die inneren Spannungen, die Kathy an Miss Lucy und ihrer Klasse schildert, auch durch andere Textsignale wie z.B. den Regen, der draußen niedergeht, kommentiert bzw. illustriert werden. Die Schüler:innen werden angeleitet, mithilfe einer sinnentnehmenden Lesetechnik – einhergehend mit dem farblichen Hervorheben einzelner Wörter oder Textpassagen – die verschiedenen Kategorien „setting“, „characters“ und „the narrator’s voice“ zu markieren, um diese in eine Tabelle einzufügen, in der auch über die Sammlung von Zitaten und ihrer Identifikation als Stilmittel hinaus die Interpretation samt Erläuterung des Effekts einer Fundstelle gefragt ist (vgl. CT 65). Einige der Stilmittel werden in einer „Checklist“ erwähnt, so die Bildhaftigkeit (als Symbol oder Metapher) von Gegenständen oder Umständen, des Weiteren auch die Anspielungen auf vergangene oder zukünftige Ereignisse im Handlungszusammenhang, zudem Antithesen / Kontraste: Es wird aber nicht ausbleiben, dass für eine solche Aufgabe auch das Glossary of Literary Terms am Ende des Schülerbandes konsultiert wird. Als Beispiel dafür, was die Schüler:innen mit der Tabelle leisten sollen, gibt das Buch folgende Einträge vor, die zudem per Webcode auch als portable document format (pdf) herunterzuladen sind und den Schüler:innen eine vorformatierte Template liefern, in die sie mit einem Computer ihre Lösungen ergänzen können (CT 65, Herv.i.Orig.):
quotation | type of device | interpretation | concrete function / effect |
„She was leaning over the rail at the front, peering into the rain, like she was trying to see right across the playing field.” (ll. 17-20) | The symbolic meaning of the weather | Miss Lucy appears to be absent-minded and focused on what she wants to tell the students, which is as unpleasant as the rain. | The narrator contrasts the weather and Miss Lucy’s behaviour on the one hand with the students’ carefree behaviour on the other. The reader feels that something important is about to happen. |
Tab. 9:
Camden Town, Anweisung zu Unit 2, Part B, Aufgabe 5b (CT 65)
Deutlich zeigt die Modell-Interpretation der zitierten Zeilen, dass es sich bei der Aufgabe eigentlich nicht um eine paraphrasierende Wiedergabe des dargestellten Inhalts handelt, sondern um dessen Deutung auf der kognitiven Ebene des mind-reading, bei dem das Textzitat (linke Spalte) in der Spalte „Interpretation“ durch eine charakterlich-psychologische Spekulation über die innere Befindlichkeit von Miss Lucy kommentiert wird. Die Spalte „type of device“ ordnet der Beschreibung des Wetters eine Funktion („symbolic“) zu – hier wäre noch zu erfassen, worin denn die Symbolik des Wetters besteht, z.B. in der sinnbildlichen Spiegelung von Gefühls- oder Bewusstseinszuständen in Naturphänomenen. Die rechte Spalte (irreführenderweise mit dem Etikett „concrete function and effect“ versehen) synthetisiert diese beiden, an sich voneinander unabhängig erscheinenden Beobachtungen zur eigentlichen Interpretationsleistung: Hier werden zum einen die Erzähler- und Figurenperspektive deutlich voneinander unterschieden, zum anderen das Wetter und die Befindlichkeit der Figur in Beziehung gesetzt, und schließlich eine mögliche Wirkung dieser Deutung auf den:die Rezipienten:in beschrieben.
Auf diesen synthetischen Aspekt des Interpretierens richtet auch das zugehörige Skill File S12 „Checklist: Analysis – Prose“ die Aufmerksamkeit und fordert die Schüler:innen auf: „Do not just consider the content, but always examine the language used by the author and explain what it reveals about the narrator or a character or what effect it is supposed to have on the reader.” (CT 352) Explizit wird in weiteren Hinweisen folgende Mahnung formuliert: „Don’t speculate – your evidence must be based on the text.“ (CT 352) Durch die Vorgabe im Schema ist gewährleistet, dass die Schüler:innen hinreichend nah am Textmaterial (d.h. mit Zitaten) arbeiten und zugleich ermutigt werden, ihren eigenen Deutungshorizont auszuloten, ohne in womöglich zu nah am eigenen Erlebnis- und Erfahrungshorizont orientierte Spekulationen dirigiert zu werden. Am Ende sollen die Lernenden zu dieser Passage Stellung beziehen: „Miss Lucy is the first one to tell her students openly about their future. Discuss whether she does the right thing and whether she uses the right strategy to confront the students with their fate.“ (CT 65) Hierfür sieht das Lehrerhandbuch eine Schreibkonferenz vor (CT-LHB 73), also eine stumme Diskussion der Schüler:innen in Kleingruppen, in denen sie nicht nur Stellung zur Textvorlage beziehen und Argumente für ihre Position bringen, sondern auch auf Deutungsansätze ihrer Mitschüler:innen reagieren können. Gegenüber den Vergleichswerken, die sehr viel offener mit textfernen Spekulationen umgehen, sind solche Hinweise im Sinne einer wissenschaftspropädeutischen Funktion des Literaturunterrichts keineswegs als nebensächlich zu beurteilen, sondern stellen ein wichtiges Korrektiv innerhalb des gegenwärtigen Unterrichtsparadigmas dar (vgl. Abschn. 2.4).