Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 2

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Also gingen die Kinder noch ein Stück Wegs gemeinsam, bis sie sich, teils lachend, teils seufzend „Bis morgen!“ verabschiedeten und in verschiedene Richtungen auseinander liefen.

Rudolph und Johannes stürzten sich in das Gewimmel der Hauptstraßen, dem man den Unterschied zur werktäglichen Geschäftigkeit anmerkte: Pferdebusse, Elektrische, Automobile und Droschken klingelten, hupten, schrien sich den Weg frei wie sonst, und doch wohl eine Spur gelassener, und die Fußgänger hatten meistenteils kein eilig angestrebtes Ziel sondern nur den Wunsch zu flanieren, zu schauen, sich zu zeigen, aus der Entfernung die Hüte vor einander zu ziehen, die freie Zeit unter Leuten und doch in nur lockerem, unverbindlichem Kontakt mit ihnen zu genießen. Nur da und dort mischten sich solche Menschen dazwischen, die so etwas wie Freizeit und Müßiggang an keinem Tag der Woche kennen durften - Straßenverkäufer, fliegende Händler, Werbeläufer, Boten zu Fahrrad oder zu Fuß und Bettler schoben sich durch die Menge und versuchten, noch ein paar Feiertagsgeschäfte zu machen.

Nach einer Weile waren die beiden Jungen vor der Ladenpassage angekommen, in der sich das Panoptikum befand, das in prangenden schnörkeligen Lettern unter all den anderen Schildern an der Häuserfassade auf sich aufmerksam machte. Da sie dem Kassierer umstandslos den verlangten Eintritt hinstreckten, begnügte sich der mit einem abschätzigen Blick auf schmutzige Barfüße und schäbige Kleider und ließ sie wortlos hinein. Sie verschwanden in den kühlen, labyrinthischen Gängen, um vor Wachsfiguren bekannter Persönlichkeiten, seltsamen Gebrauchsgegenständen fremder Völker, ausgestopften Tieren und Guckkastenpanoramabildern von historischen Schlachten den Attraktionen dieses erlebnisreichen Tages noch einige hinzuzufügen.

Agnes kam heim mit ihrer Karre voller Geschwister, heim zu einer überforderten, kränkelnden Mutter, die den kinderfreien Tag zu ausgiebiger Bettruhe genutzt hatte. Sie kam mit den Kleinen zur Tür herein direkt in die nicht eben wohnliche Wohnküche, in der sie mit ihren zwölf Jahren schon mehr ihre Hauptwirkungsstätte hatte als die Mutter, und, ohne auf die schwächlich-quengelnden Vorwürfe zu reagieren, mit der diese sie vom Nebenzimmer aus begrüßte - spät sei es, wo sie so lange geblieben sei, das Abendessen müsse doch noch gekocht werden, und sie selbst sei heute wirklich zu unwohl dafür -, ging sie wortlos in die Ecke, wo Herd und Kochutensilien sich befanden und machte sich daran, einen Eimer voll Kartoffeln zu schälen. Kein Wort, keine Frage, keine Neugier für ihren Tag konnte sie erwarten, und so saß sie still und konzentriert an ihrer Arbeit, beflissen, das Essen rechtzeitig zur Heimkehr des Vaters fertig zu haben, um dessen Zorn nicht auf sich zu ziehen. Den hatte man nur zu leicht angefacht, glomm er doch eigentlich beständig unterschwellig vor sich hin, genährt vom Gefühl des Versagens, der Resignation, von alkoholgetränkten Kneipenstunden gemeinsam mit anderen ebenso unnützen und unzufriedenen Männern, bestärkt von dem Bewusstsein, ein gesetzlich verbrieftes Recht darauf zu haben, zum Ausgleich für dieses Scheitern eine gnadenlose Willkür- und Gewaltherrschaft über sein persönliches kleines Privatreich auszuüben. Nur hier und da kamen vor ihr inneres Auge noch Reste der heutigen Eindrücke - ein frei und hell wehender Sonnenwind, fröhliche Menschen, ein paar Stunden annähernder Sorglosigkeit, ein blauer Himmel voller lustig bunt dahinschwebender Ballons -; doch verblassten diese Erinnerungen unter dem freudlosen Realismus ihres Alltags sehr rasch, und als sie später müde in ihrem Bett lag, eng an die Schwester geschmiegt, mit der sie es teilte, konnte sie nur froh sein, dass der Abend einigermaßen glimpflich überstanden war - einer ihrer weniger schlimmen Sonntage lag hinter ihr.

Auch Frieda fand zuhause nicht viel Interesse an ihren Erlebnissen. Der Vater ließ sich verächtlich über das „unnütze Zeug, Zeit- und Geldverschwendung, Spielkram reicher Leute“ vernehmen, die Mutter und die große Schwester waren vertieft in die viel wichtigeren Vorbereitungen der letzteren für ein Tanzvergnügen, das sie an diesem Abend noch besuchen wollte, und von dem man sich, besonders im Hinblick auf einen neuen Verehrer, der sie dorthin ausführen wollte, einiges versprach. Die Mutter hörte gar nicht zu, als Frieda zu erzählen begann, sie hatte den Mund voller Stecknadeln und maß und steckte an Luises Kleid herum, während diese nur die Nase rümpfte und sich wieder Federn, Glitzerschmuck und Lippenrouge zuwandte. „Du solltest dich lieber langsam mit ernsthaften Sachen beschäftigen“, riet sie der kleinen Schwester weise. „Du bist ja schließlich auch schon bald groß genug... („Nu aber mal halblang!“, zwängte die Mutter da zwischen den Nadeln hervor) ...na, stimmt doch, nur ein, zwei Jährchen noch, und ein bisschen Übung braucht’s immerhin doch dafür. Schau, das ist schließlich immer noch die einfachste und beste Art, wie wir’s zu was bringen können, wenn wir nicht zu den ganz Hässlichen gehören...“ Frieda wurde rot und lächelte teils peinlich berührt, teils geschmeichelt, und hatte bald selbst nichts anderes mehr im Kopf als schöne Kleider, Schmuck und Schminke. Und statt von den Erlebnissen des Tages träumte sie von ihrem zukünftigen ersten Ausgang, wo sie Bewunderung auf sich ziehen wollte, und von einem reichen Verehrer, der sie auf Händen tragen und verwöhnen sollte, und der natürlich noch viel mehr hermachen würde als Luises neuer Freund, mit dem sie sich so dicke tat.

Als der kleine Fritz zuhause ankam, schob er sich mit panisch klopfendem Herzen und kreidebleichem Gesicht durch die kaum ausreichend geöffnete Tür und hoffte, sich unbemerkt irgendwie in eine Ecke drücken oder gleich im Hinterzimmer verschwinden zu können. Auf den letzten Metern vor der Haustür erst hatte er festgestellt, dass seine Hosentasche ein Loch hatte und das Geld, das ihm seine Eltern in ungewohnter Großzügigkeit mitgegeben hatten, dort herausgefallen sein musste. Viel war es nicht gewesen - er hätte dem Vater davon Tabak und Zigarettenpapier mitbringen sollen und für sich selbst ein paar Bonbons oder ein süßes Gebäck kaufen dürfen, musste aber auf Heller und Pfennig Rechenschaft über die Verwendung ablegen und den Rest zurückgeben. Die Besorgung für den Vater hatte er vollkommen vergessen, und nun musste er den Eltern auch noch gestehen, dass das ganze Geld weg war! - Warum passierten auch immer ihm solche Sachen? Die anderen, besonders sein größerer Bruder, schienen immer alle Situationen ohne irgendwelche unverzeihlichen Nachlässigkeiten zu meistern. In Wirklichkeit war es wohl eher so, dass auch sein Bruder Versäumnisse beging oder ihm Missgeschicke zustießen, er aber mit einer selbstbewussten Souveränität lachend darüber und über die ihnen folgenden Strafen hinwegging. Die kleine Schwester aber, das Nesthäkchen, konnte gar nichts falsch genug machen, um in den Augen der Eltern einmal Strafe verdient zu haben. Er, Fritz, dagegen, blass, kränklich, ängstlich, lebte beständig in vorauseilender Furcht vor dem strafenden Zorn des Vaters und zog das Unheil scheinbar magisch auf sich. In den Zeiten zwischen den tatsächlichen Vorfällen lebte er in stummer, resignierter Hinnahme seiner Rolle und in leidenschaftlicher, wenn auch mehr oder weniger versteckter Bewunderung solcher Jungen, die sichtbar besser mit dem Leben und seinen Tücken zurechtkamen als er. Unter denen hatte er zuletzt speziell Johannes zu seinem Idol erkoren, ihn liebte und verehrte er weit mehr noch als seinen Bruder, wünschte sich sehnlichst, ihm gleich zu sein, oder, da dies ja wohl nicht möglich war, ihn zu seinem besonderen Beschützer zu haben. Der hatte begonnen, etwas davon zu ahnen und hatte die Aufgabe, nur halb bewusst, sich ein wenig zu eigen gemacht. Mindestens bei Auseinandersetzungen oder Hänseleien unter den Straßenkindern nahm er ihn öfter in Schutz - vor den Leiden in der Familie konnte er ihn selbstverständlich nicht behüten.

Natürlich gelang es Fritz nicht, unbemerkt ins Haus zu kommen. Als die Eltern ihn erblickten und ihn ansprechen wollten, dabei seine vor Schreck aufgerissenen Augen sahen, aus denen schon die ersten Tränen traten, verlor der Vater schon gleich die Geduld, und Mutters Brauen zogen sich in unwilliger Furcht düster zusammen. „Was ist denn nun schon wieder? Wie kommst du denn daher? Da denkt man, der Junge muss doch wohl einen schönen Tag gehabt haben, und man hat doch schließlich das Seine dazu getan, da kommt er hier hereingeschlichen wie die arme Sünde selbst. Also, was gibt’s?“ Inzwischen stand Fritz längst schon mit hängenden Schultern, abgewandtem Gesicht und tropfenden Augen da. „Jetzt wollen wir dann erst mal das Taschengeld abrechnen - wie viel hast du ausgegeben?“ Keine Antwort, nur ein tieferes Senken des Kopfes. „Antworte endlich! Steh nicht hier rum wie ein begossener Pudel! Was ist mit dem Geld, und wo ist mein Tabak?“, fuhr der Vater ihn an. Ein unverständliches Murmeln ließ sich hören, und der Junge zuckte unwillkürlich weiter vom Vater weg. Der packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn roh und schrie ihn an: „Wirst du mich wohl ansehen, wenn ich mit dir rede, und laut und deutlich antworten wie ein Mann??!“ - „Ich hab’s verloren“, flüsterte Fritz mit gesenkten Augen und konnte vor Angst sich schon kaum mehr auf den Beinen halten. „Wie?! Ich versteh’ wohl nicht gut? Verloren??!“ Und schon schallten die Ohrfeigen, griff der Vater sich die Rute, die handlich in einer Nische bereit steckte, und drosch schimpfend und fluchend auf das schluchzende Kind ein, das vor Schmerz, Reue und Verzweiflung außer sich war und, den Kopf zwischen den beiden Armen vergraben, vergeblich wenigstens den schlimmsten Schlägen auszuweichen suchte. Die Mutter ließ das alles mit abgewandtem Kopf und zusammengekniffenem Mund geschehen, die kleine Schwester stand gegen die Knie der Mutter gedrückt, ein Stückchen von deren Rock fest umklammernd, und schaute mit großen, ernsten Augen zu. Keiner der Beteiligten ahnte, dass es viel mehr Fritzens schwächliche Furcht war, der unruhig ausweichende, angsterfüllte Blick, der gar nichts anderes als rohe Gewalt zu erwarten schien, was den Vater zu solch ungezügeltem Zorn provozierte. Ralph, der Bruder, hätte einfach dagestanden und mutig gesagt „Loch in der Hose, Geld verloren, ’tschuldigung“, hätte eine Ohrfeige kassiert und wäre schulterzuckend seiner Wege gegangen.

Als der Vater endlich seine Wut abreagiert hatte, schob er den Jungen unsanft in das Hinterzimmer, wo die Betten standen, und verbot ihm, sich heute noch einmal zu zeigen. „Abendbrot gibt’s keines, klar?!“ Da lag er über eines der Betten geworfen, von wilden Schluchzkrämpfen durchschüttelt, mit brennenden Gliedern, aber des körperlichen Schmerzes kaum bewusst: In unaufhaltsamem Fall war er abgestürzt, in eine tiefe Nacht aus grenzenloser Selbstverachtung und bitterstem Überdruss, die nicht nur sein Inneres sondern das ganze ihn umgebende Universum restlos ausfüllte, und worin er so vollständig versank und sich auflöste, dass diese schwarze Finsternis ihm fast schon wieder eine paradox tröstliche Betäubung bescherte. Als nach einer ganzen Weile, während derer er so gelegen hatte und seine Schluchzer seltener und schwächer geworden waren, die Mutter leise hereinkam, sich zu ihm setzte, ihm wortlos ein Stück Brot in die Hand schob und die ihre auf seine Schulter legte, reichte der halbherzige Tröstungsversuch gerade aus, um den Schmerz mit einem leisen Wimmern neu aufleben zu lassen. Bald ging die Mutter hilflos seufzend wieder hinaus. Mit dem Stück Brot in der Hand schlief er dann endlich ein, und so ging für Fritz der Tag der bunten Ballons und schwebenden Verheißung zu Ende, indem er nur gerade eben in einer wenigstens vorübergehend heilsamen Bewusstlosigkeit erlittene Schmach und Schmerzen, seine Angst vor dem neuen Tag, dem neuen Schulzyklus, dem Rohrstock des neuen Lehrers und den mitleidlos überlegenen Altersgenossen vergessen durfte.

Ein lautes und kunterbuntes Hallo begrüßte Elsa, als sie zur Tür hereingesprungen kam und sogleich begann, fröhlich schwatzend zu erzählen. Von dem Chaos aus Gegenfragen, Widersprüchen der Brüder, die selbst dort gewesen waren, Unterbrechungen aus Geschwisterneckereien und -zankereien und elterlichen Zurechtweisungen, gegen das sie anreden musste, ließ sie sich nicht im Geringsten aufhalten. Wer nicht zuhörte, verpasste eben ihren Bericht, selber schuld, und so beschrieb sie mal den einen, mal den anderen Mitgliedern ihrer großen Familie, was sie gesehen, getan, aber auch, was sie nicht gesehen hatte - wo ihr eigene Anschauung fehlte, ließ ihre Phantasie sie so schnell nicht im Stich. Die Eltern waren auf gutmütig zerstreute Art selbst fast kindlich interessiert, und während die Mutter in dem Durcheinander, das hier herrschte, die nötigen Sachen zum Richten des Abendbrotes zusammensuchte und der Vater nebenher in einer alten Zeitung blätterte, gaben sie beeindruckte oder ungläubige Kommentare ab - „nein, wie ist das nur möglich! - Da würden mich ja keine zehn Pferde hineinbekommen!“, oder „Nu mach aber mal halblang, jetzt flunkerst du sicher wieder!“

Irgendwann schlug sich Elsa an die Stirn. „Ich muss euch ja was zeigen!“, rief sie und zog aus irgendeinem Winkel ihrer Kleidung einen bunten Gegenstand hervor. Den hielt sie ins Licht, und zum Vorschein kam ein Traum von einem Schal oder indischen Überwurf: ein großes quadratisches Tuch, diskret seidig schimmernd, mit orientalischen Stickereien von Vögeln und Schmetterlingen zwischen zart verästelten Zweigen in schweren, intensiven Farben, hier und da mit Silhouetten aus Goldfäden abgesetzt, alles auf einem Untergrund von verhalten leuchtendem, samtigem Burgunderrot. In der ärmlichen Umgebung aus schäbigem, ramponiertem Mobiliar, nicht eben vorbildlich sauberen Menschen verschiedensten Alters, abgetragenen, vielfach geflickten oder auch gar nicht ausgebesserten Kleidern und einem wilden Sammelsurium von ebenso vernachlässigten Gebrauchsgegenständen nahm sich das edle Tuch wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt aus. Elsas Augen strahlten glücklich, als sie das Prachtstück in die Runde hielt.

„Ist er nicht wunder-, wunder-, wunderschön??!“

„Wo in drei Teufels Namen hast du denn den schon wieder her?“, fragte der Vater erschrocken.

„Den? Den ... hab ich gefunden“, meinte Elsa nicht sehr überzeugend.

„Gefunden? Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“

„Naja, der hing über einer Sitzbank, auf der Tribüne.“

„Ja, sicher, und bestimmt ganz herrenlos, weit und breit keine Eigentümerin zu sehen, was?“

„Hm, wahrscheinlich hat er der Dame gehört, die gleich daneben saß... Aber es war ganz leicht, sie war so abgelenkt mit Schauen.“

„Kind, Kind, du bringst uns noch in Teufels Küche!“, klagte die Mutter.

„Aber es hat mich wirklich bestimmt niemand bemerkt“, versicherte Elsa.

„Na, nun ist es ja jedenfalls geschehen, zurückbringen wirst du ihn ja wohl nicht gut können. Aber was willst du überhaupt damit anfangen? Tragen kannst du ihn doch auf gar keinen Fall, da kassiert dich die Polizei ja gleich vom Fleck weg.“

„Nein, ich will ihn nur hier haben und ihn immer wieder anschauen. Er ist sooo herrlich!“

„Na, Geschmack hat die Göre ja, und Sinn für Qualität, das muss man ihr lassen“, brummte der Vater, „das ist mit Sicherheit Eins-A-Material und ein ganz wertvolles Stück. Lass dich nur ja nicht damit erwischen!“

Nun hätte man ja nicht gerade behaupten können, dass alle Bewohner dieses Viertels sich immer fest an das siebte Gebot gehalten hätten. Manche Leute hier waren so arm, dass ihnen schier nichts anderes übrig blieb als den Mangel ein wenig auszugleichen, indem sie hin und wieder Essbares oder Bargeld, oder was man dazu machen konnte, mitgehen ließen. In manchen Familien überließ man das, selten durch direkte Anweisung, eher durch stillschweigendes Hinnehmen, den Kindern, bei denen man glaubte, auf Nachsicht von Seiten der Justiz hoffen zu dürfen. Trotzdem legten aber doch die meisten großen Wert darauf, sich halbwegs unbescholten zu halten, schon aus dem Bewusstsein heraus, in einer Gegend zu wohnen, die den Argwohn der Bürgerschaft und der Gesetzeshüter auf sich ziehen musste. In jedem Fall wurde, wenn, dann pragmatisch und zweckgebunden gestohlen. Bei Elsa dagegen war es etwas Anderes: Sie hatte offenbar eine angeborene Begabung, eine Flinkheit und Geschicklichkeit, die sie geradezu zur Taschendiebin prädestinierte, und dieses Talent übte einen starken Zwang aus, es zu trainieren und auszuleben. Günstige Gelegenheiten wirkten auf sie wie sportliche Herausforderungen, und je riskanter die Situation, desto unwiderstehlicher die Versuchung. Dabei spielte die Nützlichkeit oder der objektive Wert der potentiellen Beute überhaupt keine Rolle. Einziges Kriterium war, dass der Gegenstand ihr aus irgendwelchen Gründen gefiel und dass ihr Diebesehrgeiz angestachelt wurde. So hatten sich bei ihr schon die verrücktesten Sachen angesammelt, mit denen niemand wirklich etwas anfangen konnte. Sie aber verwahrte sie in einem alten Karton, den sie ab und zu hervorzog, um sich dann Stück für Stück in die Betrachtung ihrer Schätze zu vertiefen. Da lag dann nahezu Wertloses mit kleinen Kostbarkeiten einträchtig beisammen: Blech- neben Porzellandöschen, Figuren aus Zinn, Keramik oder Wachs neben kleinen Kunstwerken aus geschliffenem Bleikristall, skurril geformtes und bunt verziertes Blechbesteck neben einzelnen Silberlöffelchen, billiger Modeflitter neben ein, zwei Stücken echten Schmucks. Zweimal war sie schon erwischt und auf die Polizeiwache gebracht worden; da sie aber damals noch so klein gewesen war, hatten die Polizisten sie unter strengsten Ermahnungen wieder springen lassen. Die anderen Kinder spotteten über sie und gaben ihr den naheliegenden Spitznamen „die Elster“. „Wie blöd die ist“, lachte Rudolph verächtlich, „stürzt sich auf alles, was irgendwie glänzt, statt wenigstens Sachen zu klauen, die was bringen, wenn sie schon das Risiko eingeht. Na, typisch Weibsbild eben!“ Auch als sie heute Mittag nach den Ballonstarts die Freunde vorsichtig ein Eckchen ihres „Neuerwerbs“ hatte sehen lassen, hatte sie solch lachendes Kopfschütteln geerntet. - Sie ließ sich’s nicht verdrießen, legte den Schal sorgfältig in lockeren Falten zusammen, strich noch einmal voller Bewunderung seufzend über das kühle und doch schmeichelnd weiche Material, packte ihn in ihre Schatzkiste und mischte sich dann fröhlich unter das durcheinanderlärmende Familientreiben.

Elsa hatte es unter den Nachbarskindern, was ihr Zuhause anging, wohl mit am besten getroffen: Die Eltern hatten, obwohl mindestens so arm und bedrängt im Lebenskampf stehend wie die anderen, sich eine gutgelaunte, lachende Indolenz bewahrt; mal reichte es gut, mal nicht so ganz, insgesamt herrschte Unordnung und Schludrigkeit auf allen Ebenen, aber irgendwie ging es immer weiter, alle nahmen’s recht gelassen, und mit diesem gleichmütigen Optimismus und Schlendrian wurstelten sie sich und ihre Kinderschar schlecht und recht durch, ließen sich so schnell durch nichts aus der Ruhe bringen. Die Kinder ihrerseits verband untereinander eine ebenso unaufgeregte, nicht sehr demonstrative, erst recht nicht sentimentale Geschwistersolidarität.

In Elsas Träumen dieser Nacht webte eine Flotte der schönsten, buntesten Luftballons durch die Baumkronen eines lichten Waldes, zwischen dem lockeren Gewirr graziler Zweige glitten lautlos farbenprächtige Vögel, von deren Flügeln goldener Staub herabrieselte, und riesige Schmetterlinge, so bunt und herrlich gemustert, wie sie sie im Leben noch nie gesehen hatte, ließen sich hie und da sanft nieder; sie selbst schwebte im Korb eines der Ballons durch die Lücken des Gezweiges immer höher hinauf, einem unwirklich getönten Himmel entgegen, dessen Purpurfarbe, je freier man bis zum Horizont blicken konnte, desto intensiver, geheimnis- und verheißungsvoller wurde. So schlief Elsa dem neuen Tag, dem neuen Schuljahr, neuen Erlebnissen und aufregenden Funden leise lächelnd entgegen.

„Junge, wo bleibst du denn nur so lange?“, rief Johannes‘ Mutter ihm entgegen, während sich ihre angespannte Miene zu einem erleichterten Lächeln glättete. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Die anderen sind ja längst schon zurückgekommen!“

„Tut mir leid, Mutter, aber ich war mit Rudolph noch in der Stadt. Er hat mich so lange überredet, bis ich mitkam, ins Panoptikum, und es war auch wirklich ganz doll interessant; und danach hat er mich immer noch aufgehalten, bis er endlich selber weiter musste. - Hast du die Wäsche fertig? Ich geh dann gleich los.“

„Aber du hast doch sicher erst mal Hunger!“

„Nein, ich will das hier zuerst erledigen. Ich weiß doch, du machst dir Sorgen, dass dir die Kundschaft wegläuft, wenn die Sachen zu spät geliefert werden.“

Mit diesen Worten schulterte er einen großen Weidenkorb, in den mehrere in braunes Papier sauber eingeschlagene Pakete geschichtet waren - die Bügelwäsche dieser vergangenen Woche, die seine Mutter bis heute Abend bei den verschiedenen Auftraggebern abgeliefert haben musste. Gewöhnlich trug sie die Sachen selbst aus, aber in den letzten Tagen fühlte sie sich nicht gut, und da hatte er sich natürlich anerboten einzuspringen. Etwas zu schwer war die Last eigentlich schon noch für seine zwölf Jahre, aber sein Stolz ließ es nicht zu, sich etwas anmerken zu lassen.

Mit solchen Bügel-, Wasch-, Flick- und Näharbeiten mühte sich die Mutter, die magere Witwen- und Waisenrente aus der Sozialkasse aufzubessern, seit ihr Mann an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben war. Johannes war damals noch keine drei Jahre alt gewesen. Dringend hatte der Vater ihr noch ans Herz gelegt, dafür zu sorgen, dass der Junge einmal ordentlich die Schule besuchen und eine anständige Lehre machen konnte, so, wie sie es beide immer vorgehabt hatten.

Das war von früh an seine Rede gewesen, immer wieder hatte er Pläne gemacht, wie sie beide sich ins Zeug legen würden, um ihren Kindern einmal eine möglichst solide Ausbildung zu ermöglichen. Unter seinesgleichen war das nun keineswegs selbstverständlich, auch er selbst hatte kaum Bildung genießen dürfen, gerade einmal, dass er in ein paar Volksschuljahren die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen beigebracht bekam, etwas Religion, Gottesfurcht und Gehorsam. Dann hatte er schon als ungelernter Fabrikarbeiter seinen Lebensunterhalt verdienen müssen, lange, endlos lange Arbeitstage und -wochen stand er durch, und nur weil er eine rare Mischung aus Zähigkeit, Energie, gesundem, widerstandsfähigem Organismus und einem unruhigen, neugierigen, leicht rebellischen Geist besaß, hatte er sich in seinen technisch-handwerklichen Kenntnissen so voranarbeiten können, dass er bald mit einem ausgebildeten Schlosser mithalten konnte. Darüber hinaus aber wurde er Mitglied eines Arbeitervereins und besuchte abends und sonntags die dort angebotenen Fortbildungsveranstaltungen; und als er heiratete, schwor er sich, dass er, koste es, was es wolle, seinen Kindern den Rücken frei halten wollte, damit sie einmal nicht darauf angewiesen wären, sich ein paar Brocken Wissen und Aufklärung, ein dünnes Stückchen Menschenwürde in spärlichen, der Erschöpfung und Ausbeutung abgerungenen freien Stunden zusammenzuklauben.

Seit zehn Jahren setzte Anna Reiser also schon alles daran, diesen letzten, inständigen Wunsch ihres Mannes nach besten Kräften zu erfüllen. Natürlich ging ihr Sohn in die Schule, noch unterlag er ja ohnehin der Schulpflicht; aber, anders als in vielen Familien ihrer Umgebung, ließ sie es nicht zu, dass er mehr Zeit und Kraft auf Hilfsarbeiten zum Gelderwerb verwandte als auf Schulbesuch und Hausaufgaben. Groß war die Zahl der Kinder, die noch zu nachtschlafender Zeit aus dem Haus gingen, um Milch oder Zeitungen auszutragen, nachmittags Lauf- und Botendienste verrichteten, an den Bahnhöfen herumlungerten, um Gepäck zu tragen oder Droschken zu organisieren, an öffentlichen Plätzen einen Schuhputzservice oder kleine Verkaufsartikel aus um den Hals gehängten Holzkisten anboten und abends in rauchigen und bierdunstgeschwängerten Vergnügungsetablissements Kegel aufstellten; in manchen Familien aber wurden die halbe Nacht hindurch in Heimarbeit irgendwelche Waren produziert, und alle, die aus dem Kleinkindalter heraus waren, mussten mithelfen. Von den Stunden in der Schule konnten solche Kinder natürlich kaum profitieren, saßen sie doch völlig apathisch, übermüdet, mit bleichen Gesichtern und regelmäßig zufallenden Augen da und bekamen von dem vermittelten Stoff das Wenigste mit.

Am liebsten hätte die Mutter den Sohn von solcherlei Aktivitäten ganz frei gehalten, überzeugt davon, dass sie nur so dem Wunsch des Vaters wortwörtlich gerecht würde. Doch hatte der Junge selbst in letzter Zeit sich mit seinem Wunsch durchgesetzt, nicht hinter seinen Kameraden zurückzustehen, seine Mutter zu unterstützen und ebenfalls etwas für den Erhalt beizutragen, auch zu spüren, dass er sich nützlich machen konnte, und sich gleichzeitig ein gewisses Maß an erwachsener Souveränität zu erobern. So lange hatte er gebettelt, bis die Mutter schließlich nachgegeben und ihm erlaubt hatte, wenigstens morgens vor der Schule eine Runde Zeitungen auszutragen.

Als Johannes eine Stunde später mit dem leeren Korb wieder zuhause war, stellte die Mutter den Topf mit der aufgewärmten Suppe auf den Tisch, in der zur Feier des Sonntags außer den üblichen blässlichen Kohlblättern und Kartoffelstückchen auch ein paar Brocken Speck schwammen, schnitt ein paar Scheiben Brot ab, und die beiden setzten sich zur gemeinsamen Abendmahlzeit. Dies war immer ein besonderer Moment für sie: Alltagslasten traten in den Hintergrund, Ruhe und eine Stimmung von gegenseitigem Vertrauen und tiefer Verbundenheit breiteten sich aus und umschlossen die beiden in einer von der Außenwelt isolierten, nur ihnen allein gehörenden Sphäre, in die lediglich das Ticken des Weckers auf dem Küchenregal und hie und da ein Knacken oder Knistern aus einer Ecke des Raumes drang. Hier gab es Gelegenheit, sich Neuigkeiten und Erlebtes zu berichten oder Pläne zu besprechen; oft auch erzählte die Mutter dann von der Zeit, in der der Vater noch gelebt hatte, von dessen Träumen und Wünschen, versuchte, dem Sohn ein Bild von ihm zu schaffen und Stolz auf seine in ihren Augen so bewundernswerten Eigenschaften einzuflößen und so ein wenig die leere Stelle auszufüllen, die der frühe Tod hinterlassen hatte.

„Wenn ich groß bin, möchte ich einmal die Welt sehen!“ Das seufzte Johannes mehr als dass er es sagte, mit leuchtenden Augen, mitten aus seinem lebhaften Bericht von den Eindrücken des Tages heraus. „Glaubst du, ich kann das schaffen?“

„Ach, Junge, ich wär schon froh, wenn du es schaffen könntest, hier ein bisschen besser zu leben als deine Eltern. - Aber dein Vater hätte sicherlich anders geantwortet. Der hätte gesagt, du kannst das schaffen, wenn du nur willst. Lerne, so viel du kannst, bleib wach, schau dich um und behalte dein Ziel fest im Blick ... so in der Art hätte er gesprochen. Und ich will, dass du mehr auf deinen Vater hörst als auf mich. Denn wenn ich auch selbst fast nichts gelernt habe, eins weiß ich ganz bestimmt: dein Vater war ein kluger Mann, er wusste, worauf es ankommt, und wenn er hätte leben dürfen, dann hätte er Dich und deine Geschwister, die du dann wohl gehabt hättest, ermutigt und unterstützt, eure Träume zu erfüllen. - Und wo wir schon vom Lernen sprechen: du solltest dich jetzt schlafen legen, morgen hast du wieder Schule und solltest ausgeruht sein.“

Irgendwann in der Nacht schreckte er hoch, mit dem letzten Bild aus seinem Traum noch vor Augen, der ihn so unsanft wachgerissen hatte. Er sah, selbst in einem großen Wäschekorb stehend und über den Rand gelehnt, wie seine Mutter sich verzweifelt an den Korb klammerte, der höher und höher in die Lüfte stieg, sah ihr Gesicht mit den erschrockenen Augen zu ihm emporblicken, versuchte, ihre Hände zu fassen zu bekommen und sie zu sich herauf- und in den Korb hereinzuziehen, konnte sie nicht erreichen und musste hilflos mit ansehen, wie sich schließlich ihr krampfhafter Griff löste, sie abglitt und in die Tiefe fiel.

Während er mit klopfendem Herzen dalag und in die Dunkelheit starrte, versuchte er, sich an die Anfänge des Traums zu erinnern. Da hatte auf einem weiten, von Wäldern umgebenen Feld dieser Korb gestanden, und er hatte in braunes Papier eingeschlagene Pakete mit sauberer und warmer Kleidung, Lebensmittelvorräten und Ausrüstungsgegenständen hineingepackt. Zum Schluss kletterte er selbst in den Korb hinein, nahm einen Blasebalg und begann, nach Kräften zu pumpen; da richtete sich ein riesiger Ballon allmählich auf, der bislang seitlich im Gras gelegen hatte, bis er gerade über ihm schwebte, und schon hob sich der Korb unendlich sanft von der Erde ab, ein süßer, freudiger Schreck durchrann ihn und verschlug ihm den Atem. In diesem Moment aber sah er noch in einiger Entfernung eine Gestalt auf sich zu rennen und mit sich überschlagender Stimme schreien: „Johannes, nein, nein! bitte nicht, warte auf mich! Bitte, Hannes, lass mich nicht allein!“; da war seine Mutter herangekommen, doch der Korb hatte schon zu sehr an Höhe gewonnen, und sie konnte nur gerade noch einen Griff unten an der Seite erwischen...

Nachdem er unter der Erinnerung an diese Bilder wieder eingeschlafen war, fand er sich erneut in seinem Wäschekorb wieder, der inzwischen aber weit weg von seinem Aufstiegsort hoch oben am Himmel dahinschwebte. Wälder, Seen, Gebirge zogen unter ihm hinweg, dann wurden die Seen zu einer endlosen blauen Fläche, das musste das Meer sein. Nach einer Weile kam wieder Land in Sicht, das aber keine Ähnlichkeit mehr hatte mit irgendetwas, das er je selbst oder auf Bildern gesehen hatte. Landschaft und Vegetation hatten verrückte Farben, schimmerten bläulich, rötlich, lila, er überflog Paläste und Städte in bizarren Formen. Irgendwann bemerkte er erschrocken, dass der Ballon über ihm in bedenklicher Geschwindigkeit schrumpfte und immer kleiner zusammenschnurrte, gleichzeitig der Korb in zunehmendem Tempo an Höhe verlor; schnell fing er an, von den mitgeführten braunen Paketen immer mehr über den Rand hinauszuwerfen. Das half offensichtlich, den Fall abzubremsen. Als er so einigermaßen sanft auf der Erde gelandet war, fand er sich auf einem Platz in einer dieser wunderlichen Städte wieder; heilloses Stimmengewirr umgab ihn und herrliche Düfte; schließlich umringte ihn eine Menge von fremdländisch gekleideten, sehr braunen Menschen. In weiten weißen Kitteln wie Schlafröcken steckten sie, hatten bunte Hüte wie umgestülpte Blumentöpfe auf den Köpfen und hielten ihm sogleich eine Auswahl an exotischen Waren hin. Der eine hatte gelbe, rote, grüne Pulver in Gläsern zu verkaufen, ein anderer zeigte ihm unter dem Deckel eines Korbes eine zusammengerollte Schlange, ein Dritter bot ihm ein wunderschön verziertes, bunt besticktes purpurgrundiges Tuch an, und wieder ein anderer streckte ihm - „na, das nenn’ ich Chuzpe!“, dachte er - ein Paket in braunem Packpapier hin. Offenkundig hatte sein Schwebekorb ihn genau auf einem belebten Marktplatz abgesetzt. Er schaute, staunte und bewunderte, begeistert von seiner freien Fahrt und weiten Reise und den neu zu entdeckenden Gegenden. Immer jedoch begleitete ihn tief unter dem freudigen Reisefieber ein Gefühl der Schwermut, der Traurigkeit und auch der Reue, ohne dass er sich darauf besinnen konnte, woher das kam...

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