Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 3

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3. Lehrer Mäuthis

Am nächsten Morgen trafen sie sich alle auf dem Schulweg oder im Klassenzimmer wieder. Mit vierzig, fünfzig anderen Kindern ihres Stadtteils versammelten sie sich in einem großen, durch hohe Bogenfenster beleuchteten Saal. Es roch nach Putzlauge, nach Bohnerwachs, ein wenig nach Kreide und immer noch nach feuchtem Mörtel, Fensterkitt und Kalk, denn die Schule war erst vor ein paar Jahren neu errichtet worden. Die Fensterseite lag noch im Schatten, aber über die gegenüberliegenden Gebäude sah man die Morgensonne freundliche Streifen malen. Die Kinder standen in Gruppen zwischen den Bänken zusammen oder rannten zwischendurch herum, lärmten, lachten, stritten, die Jungs und die Mädchen jeweils unter sich; manche hatten sich auch schon gleich an ihren Platz gesetzt und warteten, schon jetzt ermüdet vom frühen Aufstehen und ersten Alltagspflichten, auf den Beginn des Unterrichts. Unter denen war auch Fritz: bleich, kraftlos vom ausgefallenen Abendbrot und noch ganz in dem Abgrund befangen, in den ihn die abendliche Szene gestürzt hatte, saß er, den Kopf in die Hand und den Arm auf das Pult gestützt, und nahm keinerlei Anteil am Treiben seiner Kameraden.

Die Neugier der Klasse auf den Lehrerwechsel ließ die übliche vorunterrichtliche Unruhe heute geradezu vibrieren, alle waren gespannt, ob sie vom Regen in die Traufe kommen würden oder ob ihnen eine Verbesserung vergönnt sein würde. Nur wenige bemerkten daher, dass schließlich tatsächlich die Tür aufgegangen und jemand auf das Podest gestiegen war, das den vorderen Teil des Klassenzimmers einnahm und auf dem das Lehrerpult und die Tafel platziert waren. Erst als sich ein lautes, eindeutig erwachsenes Räuspern vernehmen ließ, hörten Rangeleien, Knuffereien und Stimmengewirr sofort auf, und blitzschnell spritzten alle Kinder an ihre Plätze, die Gesichter erschrocken und gespannt auf den Mann gerichtet.

„Guten Morgen, Kinder!“, sprach der in die Runde; und, sollte man es glauben, es schien dabei die feine Andeutung eines Lächelns um seine Lippen zu spielen, das nichts Sarkastisches, nichts Süffisantes, nichts Gemeines und nichts Bedrohliches an sich hatte, sondern einfach nur ein wenig amüsiert schien, ein wenig - na, freundlich eben? - konnte das wahr sein? Die Kinder wagten, Hoffnung zu schöpfen, und als ihnen auffiel, dass der Neue ein junger Mann war, entspannten sie sich noch etwas mehr.

„Guten Morgen, Herr Lehrer!“, riefen sie zurück, setzten sich auf sein Geheiß und schauten ihm erwartungsvoll entgegen.

„Ihr wusstet sicher schon“, fing er an, „dass Herr Schultze vor den Ferien in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist“ - hier gab es ein halbunterdrücktes Grummeln aus den Schülerreihen, das aber von Herrn Schultzens Nachfolger wohlweislich übergangen wurde - „und dass ihr also von jetzt an einen neuen Lehrer haben werdet.“ Zustimmendes „Hmmm“ und Nicken. „Nun gehört es sich ja wohl, dass man sich gegenseitig vorstellt, wenn man eine neue Bekanntschaft macht. Und da es einfacher ist für fünfzig Leute, eine Person kennenzulernen, als dass eine Person sich gleich fünfzig neue Menschen merkt, werde ich euch zuerst einmal etwas über mich selbst erzählen.“

Er ging zur Tafel, nahm ein Stück Kreide und schrieb ein Wort an. „Mäuthis“, sagte er, auf das Wort deutend, „ich heiße Johann Hermann Mäuthis.“ („Komischer Name!“, flüsterte Rudolph seinem Nachbarn Karl zu). Er fuhr fort, mit der Kreide zu hantieren. „Vielleicht habt ihr mir ja sogar schon angehört, dass ich nicht aus dieser Gegend komme.“ Tatsächlich hatte er eine ziemlich ungewohnte Art zu sprechen. Es klang breiter, gedehnter, aber auch irgendwie gesetzt und vornehm, auf jeden Fall aber befremdlich für ihre Ohren.

„Ich komme aus Norddeutschland, aus einer ganz kleinen Stadt, ihr würdet es sicher noch eher ein Dorf nennen, in der Nähe von Hamburg“, und während er erzählte, malte er eine angedeutete Landkarte an die Tafel, die Umrisse von Schleswig-Holstein, die Elbmündung, ein großer runder Punkt stellte Hamburg vor, und ein Kreuz etwas weiter oberhalb davon war seine Vaterstadt Pinneberg. Er sprach das so drollig aus, „Pinnäbäech“ oder so ähnlich, dass die Kinder lachen mussten. Da drehte er sich kurz zu ihnen um, zwinkerte, grinste und zuckte die Achseln, wie um zu sagen „Tja, was soll man da machen? - Aber ich lern’s schon noch!“

„Hier bin ich geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen; mein Vater hat dort eine Uhrmacherwerks-tatt (erneutes Kichern), und er wollte immer, dass auch ich sein Handwerk erlerne und einmal das Geschäft weiterführe. Ich hab damit auch angefangen, ich meine mit dem Lernen, aber eigentlich wollte ich immer etwas anderes. Obwohl ich das einen sehr schönen Beruf finde. Aber seit meiner Schulzeit war mein großes Vorbild unser Klassenlehrer, dem wollte ich immer nacheifern. Schließlich haben meine Eltern mir erlaubt, auf ein Seminar in Hamburg zu gehen, und, na ja, wie ihr seht, jetzt bin ich tatsächlich selbst ein Lehrer und bin hier bei euch gelandet. Vorher habe ich zwei Jahre an einer Dorfschule in unserer Gegend unterrichtet, aber es hat mich doch wieder weitergezogen. Ich wollte in die große Stadt, Neues sehen und erfahren, und auch meine Ausbildung ergänzen, da habe ich mich hierher beworben. Und jetzt hoffe ich natürlich, dass wir gut mit einander auskommen werden und dass ich euch beibringen kann, was ihr später in eurem Leben brauchen könnt.“

Hier machte er eine Pause. „Will vielleicht jemand von euch mich etwas fragen?“ Nach kurzem Zaudern hob Johannes da die Hand. Seit Herr Mäuthis von seiner Herkunft gesprochen hatte, seit der Name „Hamburg“ gefallen war, zogen, während er weiter aufmerksam zuhörte, Visionen von großen Schiffen, geblähten Segeln, blauem, weitem Meer vor seinen Augen auf. Reichlich verlegen fragte er: „Und wenn Sie in Hamburg waren, kennen Sie dann nicht auch den Hafen?“ - „Aber ja, dort habe ich sogar manchmal in den Ferien etwas Geld verdient.“ - „Oh!“, machte der Bub da nur. „Ja, aber nur mit Kisten Schleppen und Lastkarren Schieben und so weiter. Auf einem Schiff war ich höchstens, um Güter oder Gepäck raus oder rein zu befördern.“ Aber auch das reichte schon, um Johannes’ Phantasie Nahrung zu geben.

Jetzt war das Eis gebrochen, und auch die anderen Kinder wollten Verschiedenes wissen und, ermutigt durch die offenkundige Umgänglichkeit des Neuen, riefen sie bald ganz ungezwungen ihre Fragen und Kommentare durcheinander in den Raum, bis Herr Mäuthis dem Einhalt gebot und mit beschwichtigend erhobener Hand sagte: „Jetzt wollen wir aber mal nicht vergessen, dass wir in der Schule sind, und uns an die Regeln halten. Wer etwas fragen will, der meldet sich und wartet, bis ich ihm das Wort erteile – einvers-tanden?“. So funktionierte es dann auch, und, ohne dass es den Kindern richtig zu Bewusstsein kam, brachte er in dieser freien Fragestunde, die noch so ganz aus dem üblichen Unterrichtsrahmen fiel, ein paar Belehrungen unter, nutzte jede Gelegenheit, ihnen ein paar Kenntnisse in Geographie, in Technik und was sich eben noch so ergab, unterzuschmuggeln. Und es sprach sehr für sein pädagogisches Geschick, dass es ihm gelang, diese Kinder - ungezähmte freche Großstadtgören zumeist, ganz und gar nicht auf den Mund gefallen, die auch noch spürten, dass der disziplinierende Druck eines hart durchgreifenden, unnachsichtigen Autoritätsmenschen plötzlich weggefallen war - diese Kinder also nicht gleich außer Rand und Band geraten zu lassen, auch ohne sich als strafandrohender strenger Feldwebel zu präsentieren.

So wurde es schon Zeit für die Pause, durch die Gänge tönte scheppernd die vom Pedell geschwungene Schelle, und die Kinder strömten hinaus, die Treppen hinunter und ins Freie des Pausenhofes.

Natürlich steckte man die Köpfe zusammen und tauschte die ersten Eindrücke von „dem Neuen“ aus.

„Na, ich denke, jetzt brechen bessere Zeiten für uns an“, meinte Rudolph und stubste Fritz in die Seite. „Vor dem braucht sich ja nicht mal unser Fritzchen hier zu fürchten.“

„Ja, der scheint wirklich richtig nett zu sein“, stimmte eins der Mädchen zu. „Schon dass er die ganze erste Stunde mit Erzählen zugebracht hat...“

„Na, und dass er es überhaupt für nötig gehalten hat, uns so viel von sich zu erzählen!“

„Aber reden tut er schon komisch, nicht? Das klingt ja wie... wie... wie ein Frosch! Hahaha - ‚Pinnäbäech’! ‚Hämbuäch’! ‚Wäeks-taad’! Quaakquaak!“

„Das ist wieder richtig typisch, Rudolph - dafür, dass einer dich nicht klein macht, bedankst du dich, indem du ihn verspottest! Was kann er denn dafür, wo er herkommt, dass man da anders spricht als hier? Wahrscheinlich würde man uns dort genauso komisch finden. Und es sieht ganz so aus, als könnten wir heilfroh sein, dass er von dort hierhergekommen ist!“

„Ach was, Johannes! Weil der mal ein Schiff aus der Nähe gesehen hat, lässt du schon nichts auf ihn kommen! Das ist ja doch albern!“

„Albern bist du selber, weil du nichts kannst als dich lustig machen!“

Der Streit hätte noch ausufern können, wenn nicht eben die Pause zu Ende gewesen wäre und sie alle wieder hätten in die Klasse zurückkehren müssen.

In der nächsten Stunde wollte Herr Mäuthis nun seinerseits mehr über die einzelnen Kinder wissen. Er ging Reihe um Reihe durch, fragte ein Kind nach dem anderen, wie es heiße, was der Vater von Beruf sei, ob es noch Geschwister habe und was es selbst einmal werden wolle. Das machte sie nun direkt sprachlos vor Verwunderung - dass man sich so für sie persönlich interessiere, das waren sie überhaupt nicht gewohnt, und besonders die Mädchen konnten es kaum glauben, dass auch sie nach ihren Zukunftsplänen gefragt wurden. Dabei tat es gar nichts zur Sache, dass die meisten dazu wenig zu sagen hatten - was sollten sie schon für Pläne schmieden: die Einen, dass sie Fabrikarbeiter werden würden wie ihre Väter und hoffentlich nicht arbeitslos wie ihre Väter, die Anderen, dass ihnen das Gleiche bevorstand wie ein paar Jahre früher ihren Müttern, nämlich Kinder in die Welt zu setzen und sie unter Mühsal und Abrackern einigermaßen anständig durchzubringen und großzuziehen.

Der junge Lehrer aber hatte sich dieses Verfahren wohl überlegt: Selbst aus der Kleinstadt, also mehr oder weniger vom Lande, aus einem weit entfernten Landstrich mit einer völlig anderen Mentalität stammend, war er schon mit dem festen Vorsatz hergekommen, sich möglichst schnell ein eigenes Bild von seiner neuen „Kundschaft“ zu machen, über deren Lebensverhältnisse und Charaktereigenschaften er natürlich bereits einiges gehört hatte. So hoffte er, sich selbst das Einleben erleichtern, aber auch, je besser er diese Kinder einzuschätzen wüsste, desto effizienter seinen Unterricht gestalten zu können.

„Und wer bist du?“, war Agnes an der Reihe. Sie stand auf und antwortete „Agnes Meister.“ - „Und, was macht dein Vater?“ - „Nichts. Vater ist arbeitslos. Manchmal hat er für einen oder ein paar Tage irgendwas. Aber meistens tut er nichts.“ - „Dann verdient deine Mutter das Geld für die Familie?“ - „Die ist immer krank, die kann nicht arbeiten.“ - „Ja, aber, in Gottes Namen, wovon lebt ihr denn dann?“ - „Meine beiden Brüder gehen in die Fabrik.“ - „Und wie alt sind die?“ - „sechzehn und siebzehn.“ - „Und hast du noch mehr Geschwister?“ - „Ja, wir sind sieben.“ - „Ach Du meine Güte!“, seufzte Herr Mäuthis und traute sich kaum weiterzufragen: „Und weißt du denn schon, was du einmal tun willst?“. „Naja, ich werde wohl auch Kinder kriegen...“ - „Ja, und der Vater dazu wird der Karl sein!“, ließ sich Rudolphs freche Stimme hören. Agnes schaute ihn mit gerunzelter Stirn an und war ganz aus dem Konzept gebracht. „Danke, du kannst dich setzen“, erlöste sie der Lehrer, „und wer ist nun Karl?“. Der erhob sich mit rotem Kopf, nachdem er seinem Nachbarn unter der Bank einen festen Tritt versetzt hatte.

„Karl Gulach. Mein Vater ist Schuster. Ich hab nur zwei Geschwister.“ - „Und willst du denn auch mal Schuhmacher werden?“ - „Nein, ich werde wohl in die Fabrik gehen. Alle arbeiten doch heute in der Fabrik. Da verdient man sein Geld doch schneller und leichter, glaub’ ich.“ Er durfte sich setzen, und seine Gesichtsfarbe normalisierte sich allmählich wieder, als er merkte, dass auf das Thema einer Familiengründung nicht näher eingegangen würde.

Nun wurde die unterbrochene Reihenfolge auf der Mädchenseite wieder fortgesetzt. „Ich bin Frieda Möllner. Mein Papa ist Hausierer, der verkauft Galanteriewaren an vornehme Damen. Wir sind vier Mädchen.“ - „Und willst du später auch mal Mutter werden?“ - „Na, jedenfalls will ich gerne einen schönen reichen Verehrer haben, wie meine große Schwester, der soll mich aber dann auch heiraten. Und wenn man einen Mann hat, dann hat man doch ganz von alleine Kinder. Aber das ist nicht das Wichtigste, vor allem will ich eine feine Dame werden.“ - „Nun, dann wünsche ich dir mal viel Glück damit, Frieda“, sagte Herr Mäuthis lächelnd. „Und das nächste junge Fräulein?“

„Ich heiße Elsa, Elsa Liebig...“ - „Nein, die heißt Elster“, ließ sich wieder Rudolph vernehmen. Knallrot wurde das Mädchen und schoss Zornesfunken in seine Richtung. Mäuthis meinte aber nur: „So, Elster nennen sie dich. Ich hoffe bloß, das soll nichts Allzuschlimmes heißen! Und willst du mir jetzt noch etwas von dir erzählen?“ - Sie warf noch einen drohenden Blick zu Rudolph hinüber und antwortete dann: „Ja, also, Papa muss sich immer wieder neue Arbeiten suchen, meistens hilft er auf dem Bau, aber manchmal ist er auch Lastenträger, am Güterbahnhof zum Beispiel. Manchmal arbeitet er auch eine Zeit lang nicht, wenn’s gerade nichts gibt, dann sitzt er zuhause, liest Zeitung, versucht, was zu reparieren, was aber meistens nicht klappt, und albert mit uns Kindern rum. Mutter kämpft gegen den Haushalt, also gegen Herdfeuer, Kochtöpfe, Essgeschirr, gegen die Löcher in den Kleidern und den Dreck in der Stube, und sie verliert meistens. Aber außerdem geht sie dreimal in der Woche für einen Gemüsehändler auf den Markt und verkauft ein paar Kisten Äpfel, Zwiebeln und so weiter. Wir sind sechs Kinder...“ - „Ja, das war ja eine sehr anschauliche Beschreibung, Elsa - und was willst du später einmal machen?“ - „Ach, das weiß ich überhaupt noch nicht. Ich glaube, ich werd einfach mal abwarten, was das Leben so bringt!“ Da lachte der Lehrer und meinte: „Ja, das ist auch keine schlechte Einstellung, man kann ja sowieso nie sicher sein, dass die Pläne, die man schmiedet, auch aufgehen.“

Dann waren wieder die Jungen auf der anderen Seite des Mittelganges dran. „Ich heiße Fritz Schabach. Mein Vater hat eine Gerberei im Paradies...“ - „Wie bitte? Wie meinst du das denn?“ Die ganze Klasse lachte, ein Kind aber erbarmte sich und klärte ihn auf: „Das ist die Straße, wo die alle wohnen, die heißt ‚Im Paradies’.“ - „Ach so, danke, dann bin ich ja beruhigt. Also, Fritz, dein Vater ist Gerber...“ - „Der gerbt aber nicht bloß Tierfelle, hahaha!“ hörte man Rudolph schon wieder, und Fritz zuckte zusammen, wurde noch blasser und starrte Rudolph so fassungslos an, dass Herrn Mäuthis keine Zweifel blieben, wie der Einwurf wohl gemeint sein könnte. Ohne darauf einzugehen, aber mit unwillkürlich vorsichtigerer, rücksichtsvollerer Stimme fragte er weiter: „Und du wirst dann vermutlich einmal das Geschäft übernehmen?“ - „Nein“, antwortete Fritz leise und gesenkten Hauptes, um die Tränen über Rudolphs grausamen Spott zu verbergen, „das macht mein großer Bruder. Ich weiß auch noch nicht, was ich einmal tun werde.“ - „Na gut, das ist ja nicht schlimm, du hast ja noch Zeit zu überlegen. - So, und jetzt wollen wir uns mal unsere Spottdrossel vom Dienst näher ansehen - wer bist du denn also?“, rief er Rudolph auf. Der stellte sich grinsend hin und gab Auskunft: „Rudolph Köhler. Mein Vater ist Kohlenhändler, und das werde ich später auch. Eine kleine Schwester hab ich...“ - „Aha. Und nachdem du über andere Leute so genau Bescheid weißt, sagst du uns sicher auch zum Beispiel, wem du dein junges Herz geschenkt hast und wer die Mutter deiner Kinder werden soll?“ Das Grinsen erstarb zusehends - „oder vielleicht magst du uns Auskunft geben über dein Lieblingslaster, was du so anstellst, wenn keiner hinschaut...?“ Rudolphs Gesicht verfinsterte sich immer ärger. „Na, dacht’ ich’s mir doch! Austeilen kannst du, aber selbst einstecken - wo kämen wir da hin?! Jetzt sage ich dir eines: ab sofort höre ich von dir ungefragt keinen Pieps mehr, es sei denn, der Scherz geht auf deine eigenen Kosten, verstanden? Du kannst dich setzen!“ Das tat er auch, mit einer Miene, die den Zorn und die Scham über die Abkanzelung nicht zu verbergen vermochte. Die Klasse aber, obwohl sie meist bereitwillig über Rudolphs Witze lachte, empfand doch eine gewisse Genugtuung darüber, dass er auch mal in seine Schranken gewiesen wurde. Sie waren ja durchaus nicht zimperlich, und körperliche Züchtigung oder andere Unbill waren den wenigsten selbst fremd und fanden sie also nicht weiter beachtenswert, aber Fritzens Fall war denn doch noch einmal von anderem Kaliber, und den Zynismus gegen ihn hatten sie unnötig gemein gefunden.

„So, nun fehlt uns noch einer in dieser Reihe, danach machen wir noch ein Stündchen richtigen Unterricht, und morgen sind die nächsten drei Reihen dran mit Vorstellen. Inzwischen macht Euch bitte Namensschilder aus Papier und stellt sie vor euch auf, damit’s mir für den Anfang leichter wird, eure Namen zu lernen. - Nun also noch zu dir - wie heißt du?“, sprach er Johannes freundlich an. „Johannes Reiser. Ich hab keinen Vater mehr und auch keine Geschwister. Meine Mutter verdient das Geld mit Waschen, Flicken und Bügeln. Mein Vater war aber Schlosser, ein guter, und außerdem ein kluger Mann, sagt meine Mutter.“ - „Und willst du dann selbst auch einmal ein Schlosser werden und genauso klug wie dein Vater?“ - „Ja... - nein...“, er zögerte, „das heißt, am liebsten würd’ ich Matrose werden oder so etwas, wo man viel herumkommt und fremde Länder und Menschen kennen lernt“, ließ er sich von seiner eigenen Begeisterung mitreißen, „... aber ich weiß schon, daraus wird wohl nichts werden. Aber dann würde ich schon gerne einen richtigen Beruf lernen, ich weiß bloß noch nicht welchen... und, ja, klar möchte ich auch so klug werden wie mein Vater...“. Er brach ab, als aus der Klasse hie und da unterdrücktes Kichern zu hören war. „Ja, schön, Johannes. Ich finde es im Unterschied zu deinen Kameraden überhaupt nicht komisch, Träume und gute Vorsätze zu haben. Alle wird man vielleicht nicht erfüllen können, aber auf jeden Fall geben sie Kraft und Richtung, sein Bestes zu geben.“

Nun schellte es zur zweiten Pause, und danach hielt Herr Mäuthis noch eine Rechenstunde, fühlte ihnen ein wenig auf den Zahn, wo sie standen, was sie konnten, und damit ging der erste Schultag nach den großen Ferien zu Ende.

4. Alte Knochen

Allen Kindern der Klasse, als sie nun mit ihren Holzpantinen durch die widerhallenden Gänge und Treppenhäuser zum Schulausgang klapperten und sich in die verschiedenen Richtungen über den Stadtteil verstreuten, war mehr oder weniger deutlich spürbar, dass ihr Alltag eine neue Note bekommen hatte. Es schien, als sollte der tägliche Gang zur Schule von einer lästigen, womöglich quälenden, manchmal bedrohlichen Unvermeidlichkeit mindestens zu einer gut erträglichen, lässig zu absolvierenden Pflicht werden, ja, manche wollten es für möglich halten, bald gerne, gar mit Gewinn dorthin zu gehen. Für jeden war vielleicht etwas anderes der wichtigste Aspekt dieses Wandels, wie in den Gesprächen auf dem Heimweg deutlich wurde. Die Mädchen waren begeistert davon, dass sie endlich einmal auch für voll genommen wurden; Elsa fand den Neuen „einfach ganz doll nett“. Und endlich ließ auch Rudolph wieder seiner seit dem Rüffel unterdrückten Stimme freien Lauf, wie zu erwarten mit einem ärgerlichen Protest. „Ist ja klar“, versetzte Elsa ihm da, „dass du nicht einverstanden bist, Rudolph! Bei Schultze hast du schön gekuscht wie alle, und kaum ist einer freundlich, glaubst du gleich, du kannst dir jede Gemeinheit erlauben. Und wenn der dich dann auch noch mit deinen eigenen Waffen schlägt, dann bist du beleidigt!“ Es war kein freundlicher Blick, mit dem Rudolph diesen Kommentar quittierte.

Fritz dagegen wagte fast noch nicht zu hoffen, dass das, was er bisher lediglich als Erweiterung und Variante seines häuslichen Alptraums erlebt hatte, zu einem Asyl werden könnte, in dem er jeden Werktagmorgen für ein paar Stunden frei und ohne Angst aufatmen dürfte.

Wer aber fast beschwingt und beflügelt, begeistert und voller wirr und vager Vorsätze von diesem Schulvormittag nachhause ging, das war Johannes. Ihm war zumute, als hätte Herr Mäuthis aus seiner Heimat direkt in ihr Schulzimmer den Duft nach salzigem Wind mitgebracht, ein Wehen von Welt und Weite, und dies aber nicht nur, weil er, wie Rudolph sarkastisch behauptete, „einmal ein Schiff aus der Nähe gesehen hatte“, sondern auch durch seine ermutigenden Worte und die ganze Ausstrahlung von Neugier und Offenheit, die von seiner Person und Lebensgeschichte ausging.

Für ihn wenigstens brach etwas wie eine neue Zeit an. Die inspirierende Begeisterung, die ihn am ersten Tag erwischt hatte, klang nicht nach kurzer Weile ab und ging in eine schließlich einfach hingenommene Alltagsselbstverständlichkeit über, sondern wurde ihm zum tragenden Lebensgefühl in dieser Zeit. Auch bislang schon war er ein recht guter Schüler gewesen und war es Herrn Schultzens Pädagogik trotz aller Bemühungen nicht gelungen, sein Interesse an manchem gebotenen Lehrstoff abzustumpfen, hatte er die Brosamen eifrig aufgelesen, die jener unvorsichtigerweise hatte fallen lassen. Nun jedoch wurde Interesse zu Wiss- und Lernbegierde, wurde das Aufschnappen von einzelnen Informationsbrocken zum hartnäckigen Verfolgen von Gedankengängen, ging er Anregungen und Hinweisen auch außerhalb der Schulstunden nach, die in den Unterricht ganz zufällig eingeflossen waren. So hatte Herr Mäuthis einmal davon erzählt, wie seit einigen Jahren immer mehr Arbeitervereine gegründet wurden, die mit Bücherstuben, Vorträgen und Gesprächszirkeln, Alphabetisierungskursen und vielem mehr sich bemühten, den Bildungsstand der Arbeiterklasse aus eigenen Kräften anzuheben. Von seiner Mutter wusste Johannes, dass sein Vater damals einem solchen Verein beigetreten war. Nun ruhte er nicht, bis er den ausfindig gemacht und die Erlaubnis erwirkt hatte, trotz seiner Jugend dort zu verkehren und vor allem den Buchbestand in der Lesestube für die Befriedigung seiner Neugierden zu nutzen. Ein paar Leute dort konnten sich noch an seinen Vater erinnern und fanden es jetzt einerseits kurios, andererseits auch erfreulich, dass dessen „Kleiner“ nun den Weg zu ihnen gefunden hatte.

Noch eine Gewohnheit machte er sich in dieser Zeit zu eigen: Wann immer möglich, das hieß, wenn er rechtzeitig vor der Schule mit seiner Runde fertig wurde, dann las er in dem Blatt, das er austrug, den einen oder anderen Artikel, der ihm ins Auge fiel und interessant zu sein versprach. Dabei weckten nicht nur Kuriosa und die so genannten unerhörten Begebenheiten seine Neugier, er las auch über Entdeckungen aller Art - technische, wissenschaftliche, geographische -, verstand natürlich vieles nicht oder nur halb und fragte dann bei allen Erwachsenen, die er kannte, nach, ab und zu auch bei Herrn Mäuthis in der Schule.

Eines Morgens fand er da bei dem spärlichen Licht, das sich nur mühsam aus der Herbstdämmerung herausschälte und das nur gerade eben zum Lesen ausreichte, folgende Schlagzeile: „Den Adam gefunden!“. ‚Was soll das denn heißen?’, fragte er sich neugierig und las: „Vor einigen Tagen wurde bei Aushebungsarbeiten in einer Sandgrube bei Schirmtal ein versteinerter prähistorischer Schädelknochen gefunden, der inzwischen durch die unverzüglich hinzugezogenen Experten eindeutig als von einer Ur- und Vorform des heutigen Menschen stammend identifiziert wurde. Die Paläontologen bewerten den Fund als mindestens ebenso wertvoll für die Aufklärung des Entwicklungsweges von den vorzeitlichen Affenwesen hin bis zum modernen Menschen, wie das seinerzeit dem Fund des homo neanderthalensis zukam. Man schreibt der Gattung ein sogar noch bedeutend höheres Alter zu als dem Neanderthaler.“

Johannes kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Was war das denn nun? Was sollte das bedeuten: „Vorform des Menschen“, „Entwicklung vom Affenwesen zum modernen Menschen“? War denn nicht der Mensch, so, wie man ihn kannte, einfach immer schon da gewesen, wobei dieses „immer schon“ ein unbestimmt dehnbares und auch wieder zusammenschnurrendes Gebilde darstellte - neunzehn Jahrhunderte seit Christi Geburt, ein paar Generationen darüber hinaus - Abraham, Noah, Moses, die Geschichten aus dem Religionsunterricht, die das Altehrwürdigste waren, das er kannte, weit weg und fremd, aber in Denken, Handeln, Fühlen auch wieder menschlich nah genug - so lange war das nun vielleicht auch wieder nicht her? Und wo bitte sollten da irgendwelche Affenwesen ihren Platz haben?

Er las weiter: „Der Arbeiter, dessen Schaufel das Fossil gehoben hatte, soll abends seinen Kumpanen im Wirtshaus berichtet haben, heute habe er ‚den Adam gefunden’“.- Ah, da war er wieder auf vertrauterem Boden - also einen Knochen des ersten, von Gott aus Lehm geformten Menschen hat man da gefunden? Das war ja natürlich schon toll und sehr faszinierend, aber was sollte das dann mit den Affen und dem Entwicklungsweg und diesem ... diesem - ah ja, diesem homo neanderthalensis? Er schloss die Augen und glaubte, in ein bodenloses Unbekanntes hinabgesogen zu werden, gleichzeitig fand er die Sache aber auch überaus aufregend. Er musste diesmal unbedingt Herrn Mäuthis ausfragen, das hier wollte er einfach genauer verstehen. Er holte rasch Schulheft und Bleistift aus der Tasche und schrieb alle Wörter auf, die er nicht kannte - „prähistorisch“, „versteinert“, „Paläontologe“, „Neanderthaler“, „Fossil“ - er war sicher, dass sich hinter diesen geheimnisvollen Begriffen Türen zu ganz neuen und ungeahnten Dimensionen aufstoßen würden. Vor lauter Aufregung vergaß er ganz, die Zeitung noch ihrem rechtmäßigen Empfänger zuzustellen, das merkte er erst, als er schon fast bei der Schule angekommen war. ‚Na, nichts zu machen’, dachte er, ‚dann bekommt er sie heute eben ausnahmsweise erst mittags.’

In der Schulstunde konnte er sich kaum auf das behandelte Thema konzentrieren, und die Zeit bis zum ersten Pausenläuten wurde ihm viel zu lang. Endlich war es so weit, und während die anderen hinausliefen, ging er nach vorn zum Lehrerpult und brachte sein Anliegen vor. Er zeigte Herrn Mäuthis den Artikel und die Liste der unverstandenen Wörter und bat ihn dringlich um Erklärung. Der blickte erstaunt von Zeitungsblatt und Schulheft auf in das eifrig gespannte Gesicht des Jungen und meinte: „Aber gerne - jedenfalls das Wenige, das ich darüber weiß, will ich gerne weitergeben; ich möchte das aber lieber in der nächsten Stunde vor der Klasse tun, so kriegen es alle mit.“

Und so hörten die Kinder nach der Pause, statt Dreisatzaufgaben zu lösen, zum ersten Mal von Charles Darwin und seinen Forschungsreisen, von dem Mönch Gregor Mendel und seinen Versuchen im Klostergarten, von der Evolutionstheorie und von dem Streit, den sie entfacht hatte, und eben davon, dass man die Erzählungen der Bibel über Herkunft und frühe Geschichte der Menschen wohl nicht mehr wörtlich nehmen dürfe, dass man das Alter der Erde viel höher veranschlagen müsse als bislang für möglich gehalten; von ausgestorbenen Tierarten, Funden riesiger Skelette berichtete er, und nicht zuletzt davon, dass die Kinder sich wohl mit dem Gedanken würden anfreunden müssen, ihre Ur-ur-ur-ur-ur-Vorfahren unter den Affen zu suchen.

Auch wenn Darwins Veröffentlichungen schon ein halbes Jahrhundert zurücklagen, war all dieses den Kindern völlig neu. Sie waren ja erst zwölf, dreizehn Jahre alt, und die Erwachsenen in ihrem Umkreis hatten andere Dinge im Kopf und andere Gesprächsthemen als die Abstammung des Menschen und das geologische Alter der Erde. In der Minimalbildung, die man den sogenannten niederen Ständen zubilligte, kamen naturkundliche Themen höchstens in Form von Pflanzenbeschreibungen und Erzählungen über Tierarten und ihre Lebensweisen vor; und ein Lehrer vom Schlage eines Herrn Schultze zumal hatte gar nichts davon gehalten, seinen Schülern etwas anderes als Bibel- und Traditionsgläubigkeit beizubringen.

Naturgemäß gab die Affen-Urahn-These willkommenen Anlass zu allgemeiner, auch durchaus ungläubiger, Erheiterung, wobei sich Rudolph wieder einmal besonders hervortat.

„Im Übrigen“, sagte Herr Mäuthis dann noch abschließend, „sollte es wohl im Naturkundemuseum das eine oder andere Interessante zu sehen geben. Eins aber steht auch fest: nämlich dass es auf diesem Gebiet wohl noch weitaus mehr Unklarheiten, offene Fragen und unbekannte Zusammenhänge gibt, als dass die Wissenschaft schon besonders viel mit Sicherheit herausgefunden hätte. Da wird noch so mancher Knochen ausgegraben und manche Theorie verworfen werden müssen, bis wir wissen, wie das alles wirklich vor sich gegangen ist. - Und zum Schluss, bevor wir uns dann leider doch wieder unseren Textaufgaben zuwenden müssen, möchte ich doch gerne Johannes noch für die Anregung zu diesem spannenden Thema danken.“ Der bekam ganz rote Backen und senkte verlegen die Augen, während er aber schon eifrig Pläne für einen nachmittäglichen Besuch dieses Museums schmiedete.

Fast wäre dieser Besuch an einem strengen Museumswärter gescheitert, der dem Jungen in schäbiger Kleidung wohl nichts Gutes zutraute, ihm jedenfalls am liebsten den Zutritt durch das prächtige Portal verwehrt hätte. Doch konnte er einen unaufmerksamen Moment nutzen und an dem uniformierten Türhüter vorbeiwischen. Drinnen dann empfing ihn eine solch ungewohnte, ehrfurchtgebietende Atmosphäre von Kühle, Stille und glatten, sauberen Oberflächen, dass er fast geneigt war, dem Wächter recht zu geben und sich als hier fehl am Platze wieder zurückzuziehen. Das tat er dann allerdings doch nicht und ging stattdessen staunend durch ganze Fluchten von Ausstellungsräumen mit langen Reihen von Vitrinen. Schaukästen mit Hunderten aufgespießter Schmetterlinge, Käfer, Spinnentiere; große flache Laden mit sortierten Vogeleiern in allen möglichen Farben und Größen, bunten Mineralien und versteinerten Muscheln und Schnecken; Glasschränke, in denen sich ausgestopfte Vögel fast auf die Füße traten, an den Standsockeln bereits vergilbende Etiketten mit ihren seltsamen, nie gehörten Namen; andere, in denen sorgfältig präparierte Einzelexemplare in lebensnahen Posen oder gar mehrere Tiere gemeinsamer Herkunft in ihren mit Hilfe von ein paar Requisiten und gemalten Landschaftskulissen angedeuteten Lebensräumen sich vorstellten: Da gab es einen Kauz, der mit eingesetzten Glasaugen von der Spitze einer Tanne in eine blaue Ferne schaute, eine Murmeltierfamilie vor dem Eingang ihres Höhlenbaus, eine brütende Wachtel, unter der man die hübschen braungesprenkelten Eier hervorlugen sah. In einer anderen Abteilung fanden sich vor dem Hintergrund einer mit Gelb- und Ockertönen angedeuteten Savannenlandschaft ein paar exotische Exemplare - bunte Schlangen und Vögel, Antilopen, Zebras und ein massiges, furchterregendes Nashorn.

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