Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 4

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All dies war für das Stadtkind, dessen persönliche Bekanntschaft mit der Tierwelt naturgemäß äußerst begrenzt war, durchaus interessant und horizonterweiternd. Jedoch konnte er dabei nicht recht froh werden, konnte sich eines leicht unangenehmen, befremdeten Gefühls nicht erwehren angesichts all dieser steifen, stummen, staubig wirkenden Gestalten. Eine wirkliche Anschauung des durch sie repräsentierten Lebens wollte sich einfach nicht einstellen.

Aber so richtig gruselte es ihn erst, als er vor solche Vitrinen trat, die in Gläsern konservierte Organismen zeigten: Kleintiere, Jungvögel, einzelne Organe; einige dieser Glaszylinder waren dicht gedrängt angefüllt mit umeinander gewundenen Schleichen, Fischen, Schlangen, bleich und farblos wie zu lange im Einmachglas verbliebene Kirschen; mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen betrachtete er gar den Fötus einer Katze, nicht mal so groß wie seine Handfläche, der hier nackt, zusammengekrümmt, blind, vergilbt und verschrumpelt in seiner Formalinlösung schwebte. Er schüttelte die aufkommende schwache Übelkeit ab und ging schnell weiter.

Am Ende einer kurzen breiten Zwischenhalle atmete er dann erleichtert auf: ein Bogendurchgang gab den Blick frei in einen hohen und weiten Saal, eher ein gedeckter Innenhof, in den durch eine raffinierte Glasdachkonstruktion ein angenehmes indirektes, dennoch helles und freundliches Licht fiel - eine Wohltat nach der eher schummrig-trüben Beleuchtung in den Vitrinenräumen. Die Zugänge zu diesem Bereich waren auf allen vier Seiten durch provisorische Absperrungen gesichert. Wenn man aber schon nicht hineingehen konnte, so konnte man doch dem regen und fleißigen Treiben zusehen, das sich darin entfaltete: ein großes Gestell, eine Vielzahl unterschiedlich hoher Leitern und vor allem ein ganzer Schwarm weißbekittelter Menschen, die leiterauf, leiterab herumwuselten und dabei den Eindruck vermittelten, sie wüssten genau, was sie taten. Als einer von ihnen einmal in seiner Nähe vorüber ging und dabei dem Jungen freundlich zulächelte, fasste dieser Mut und fragte schnell, was denn hier wohl vor sich gehe? „Sieh dir einfach mal die Schautafel hier neben an der Wand an. Und schau mal dort hinten rechts - was denkst du, was da liegt?“ Johannes sah eine Ansammlung großer hellgrauer unregelmäßig geformter länglicher Stücke von irgendetwas. „Das sind die Knochen von einem Saurier, die erst kürzlich bei einer Expedition in Afrika gefunden wurden und vor zwei Wochen hier angekommen sind. Und wir wollen jetzt versuchen, daraus das Skelett zusammenzusetzen, wie es zu Lebzeiten seinen gewaltigen Körper getragen hat.“

Und tatsächlich: Wenn das die einzelnen Knochen eines Lebewesens sein sollten, dann musste dieses gigantische Ausmaße gehabt haben!

Dank der Lehren vom Schulvormittag nicht mehr ganz unbedarft, fragte er, ob es dieses Tier heute denn immer noch irgendwo auf der Welt gebe. Da lachte der Mann und meinte: „Zum Glück nicht, sonst würde es uns wohl an den Kragen gehen. Nein, der und seinesgleichen sind vor vielen tausend und abertausend Jahren ausgestorben, und wenn er Nachkommen hinterlassen hat, dann höchstens im Schrumpfformat - Salamander, Leguane, Eidechsen und derartiges Getier.“

Er hätte selbst nicht recht zu sagen gewusst warum, aber der Anblick dieser Knochen, die doch mindestens ebenso tot waren wie die ausgestopften und eingelegten Tiere vorhin, machte ihm überhaupt nichts aus, er hätte sich sogar vorstellen können, sie zu berühren und bei dem großen Steckspiel, das hier im Gange war, mitzuhelfen. Noch lange stand er da und schaute zu, bis die Leute offensichtlich auf den Feierabend hin aufräumten. Dann ging er, verstaubtes und vergilbtes Getier rechts und links keines Blickes mehr würdigend, hinaus.

In den folgenden Wochen fand Johannes noch oft den Weg zum Lichthof des Museums. Auf keinen Fall wollte er den Fortgang der Arbeiten versäumen, wollte unbedingt miterleben, wie das Riesentier, von dessen Existenz er bis vor so Kurzem noch gar nichts geahnt hatte, allmählich Gestalt annahm - und was für eine Gestalt! Nach einer Weile hatte sich auch der wachsame Wärter mit ihm abgefunden und gönnte ihm sogar ein knappes Nicken. Auch für die Handwerker und Wissenschaftler im Saurierhof gehörte er bald zum Inventar, und der eine oder andere nahm ihn mit einem freundlichen Lächeln oder Augenzwinkern zur Kenntnis.

Auf dem Heimweg von einer dieser Expeditionen sah er im winterlichen Nachmittagsdämmer ein paar Schritte vor ihm ein Mädchen den Bürgersteig entlang gehen, dessen krauses, stumpfbraunes Struwwelhaar in zwei mit einer schiefen Schleife zusammengebundenen Zöpfen nicht ganz erfolgreich gebändigt war.

„Oh, hallo, Elster“, rief er und holte die paar Schritte auf. „Was machst du denn hier?“ - „Ach, Tag, Hannes! Na, sieht man dich auch mal wieder?“ antwortete Elsa. „Ich hab bloß Mutter mit dem Gemüsekarren geholfen.“

„Und was machen die anderen?“

„Die, ach, keine Ahnung. Oder doch, die meisten sind in die Stadt gezogen.“ Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann legte Elsa los: „Aber weißt du übrigens, es ist ganz schön schade, dass du jetzt so oft weg bist. Wenn du nicht dabei bist, ist es richtig doof. Rudolph bildet sich dann nämlich ein, er kann uns alle rumkommandieren und ist dabei blöder denn je. Es gibt Streit, aber dann auch wieder nicht richtig, einfach schlechte Laune eben. Fritzchen hält Abstand und ist, glaub ich, nur dabei, damit er nicht zuhause sein muss, sagt aber überhaupt kein Wort mehr. Trotzdem kriegt er aber immer wieder von Rudolph sein Fett weg. Wenn du da bist, ist das irgendwie anders, da nimmt er den Mund nicht ganz so voll. - Jetzt sind sie, außer Fritz, in die Innenstadt gegangen, ‚Elektrische fahren’“.

„Ah, dazu hätt’ ich auch mal wieder Lust!“, rief Johannes.

„Ich hätte auch mitkommen sollen“, erwiderte Elsa, „aber mit diesen blöden Mädchenkleidern macht das ja gar keinen Spaß. Das ist richtig ungerecht.“

„Elektrische fahren“, das war ein beliebter Freizeitspaß unter den Schul- und Straßenkindern. Keineswegs bedeutete das, brav ein Billet zu lösen und im Wagen durch die Gegend zu fahren. Es hieß, der Straßenbahn an einer Ecke, wo sie das Tempo drosseln musste, aufzulauern, auf die etwas monströse Schutzkonstruktion aus Eisenstangen und Drahtnetz am vorderen Ende aufzuspringen, sich mit aller Kraft festzuhalten, ein Stück weit mitzufahren und rechtzeitig wieder abzuspringen. Das war ein bisschen gefährlich, ziemlich verboten, verlangte Geschick und etwas Mut. Ab und zu wurde man erwischt, fing sich eine Verwarnung ein oder auch mal eine Ohrfeige, aber es machte einfach großen Spaß. Für Mädchen, wie Elsa richtig beklagte, mit ihrer unpraktischen Kleidung, eignete sich der Sport allerdings weniger.

„Und du? Wo bist du gewesen, oder besser, was hast du denn eigentlich in letzter Zeit für Esel zu kämmen, dass du so oft unterwegs bist?“

Da berichtete er ausgiebig und begeistert von dem Ziel seiner Ausflüge. „Und nächste Woche soll es dann so weit sein, dann wollen sie das Skelett fertig haben und richtig öffentlich zur Schau stellen. Da muss ich unbedingt wieder hin.“

„Dann hatte Rudolph ja sogar ein klein wenig recht!“, lachte Elsa da. „Der behauptet nämlich, du gehst deinen Großvater besuchen. Seit du damals in der Schule diese Geschichte vom Adam mitgebracht hast und seitdem immer wieder so geheimnisvoll verschwunden bist, hat er sein Lieblingsthema gefunden - dass manche Leute eben Affen zu Großeltern hätten. Er natürlich nicht. Überhaupt macht er dich hinter deinem Rücken andauernd schlecht, du würdest immer eingebildeter und oberschlauer und so. - Ich find’s aber toll, dass du so was machst, so... so ernsthafte Sachen, meine ich. Wenn du davon erzählst, finde ich es auch ganz spannend. Aber sonst wär das wohl leider nichts für mich. Ich hab halt ein für alle Mal bloß Flausen im Kopf!“, grinste sie spitzbübisch und zuckte komisch-resigniert mit den Schultern.

Mit der angekündigten öffentlichen Ausstellung des fertigen Saurierskeletts wurde es dann leider doch nichts, und Johannes erlebte eine herbe Enttäuschung, als er zur festgesetzten Stunde beim Museum ankam: am Eingangsportal klebte ein großer Zettel, der „die interessierte Öffentlichkeit“ davon in Kenntnis setzte, dass die korrekte Zusammensetzung des Sauriers beim ersten Versuch leider gescheitert sei und daher die feierliche Zugänglichmachung und offizielle Übergabe an das geschätzte Publikum heute ausfallen müsse. Das Nähere sei der Tagespresse zu entnehmen.

Zum ersten Mal in all der Zeit sprach ihn sein alter Bekannter, der Türhüter, an und fragte, ob er davon denn nichts in der Zeitung gelesen habe. Das hatte er nun nicht, denn in dieser Zeit war es morgens vor der Schule einfach zu dunkel und das Ritual mit der stibitzten Lektüre hatte vorerst ausfallen müssen.

Trotzdem ging er noch einmal hinein und zu seinem Stammplatz vor dem Hof mit der Saurierbaustelle. Dort war man offensichtlich mit dem Abbau des bisher Erreichten beschäftigt, man trug Notizen in Pläne und Zeichnungen ein, band Etiketten an einzelne Knochen und schaffte das Material mithilfe von einer Art Tragbahren in Portionen hinweg, irgendwo nach hinten in verborgene unzugängliche Bereiche. Mit einem Mal sah er an einem der anderen Zugänge zum Hof seinen Lehrer, der gleichzeitig auch auf ihn aufmerksam wurde. Er kam zu ihm herüber, und sie unterhielten sich über das Ereignis - oder Nicht-Ereignis. Herr Mäuthis hatte erfahren, dass ganz zuletzt sich Schwierigkeiten ergeben hätten, dass man Zweifel bekommen habe, vom richtigen Ansatz ausgegangen zu sein, sich unter den Wissenschaftlern über die richtige Interpretation bestimmter Knochen und damit über ihre korrekte Platzierung gestritten habe - kurz, das Ganze sei am Ende nicht mehr aufgegangen, und man habe einsehen müssen, dass man zu voreilig der Öffentlichkeit konkrete Anschauung versprochen habe. Johannes erzählte von seinen regelmäßigen Besuchen im Museum und dass er bis zum Schluss gar nicht auf die Idee gekommen wäre, es könne doch nicht zur Fertigstellung kommen. „Ja, und nun sieht es ganz so aus, als rechneten die Herren Paläontologen damit, dass es erst noch einmal richtig lange dauern wird, bis sie das Urvieh rekonstruiert haben“, meinte Herr Mäuthis.

5. Die blaue Maske

Einige Wochen später war absehbar, dass auch dieser Winter bald überstanden sein würde; für die armen Leute, für die vor allem ja die Unterschiede zählten, war er insofern gnädig verlaufen, als er keine übertriebene Härte gezeigt hatte: strengen Frost hatte es gegeben, schlammige Wege, Pfützen, Teiche hatten sich mit einer spröden, blättrigen Eisschicht überzogen, ein paar Tage lang steckten sogar Boote und Lastkähne im Kanal fest, aber das war recht bald auch wieder vorbei; ungenügende Kleidung, feuchte, zugige, schlecht heizbare Behausungen hatten die üblichen sich ewig hinziehenden Erkältungen gebracht, aber wenigstens unter den „Paradies“-Kindern und ihren Familien hatte es diesmal auch nichts Schlimmeres gegeben; kalt genug, um Kohlen-Köhler leidlich gute Geschäfte zu bescheren, war es aber doch gewesen, zumal der eine gewinnbringende neue Erfindung eingeführt hatte: Kohlenstaub, ein Abfallprodukt, das bislang um einen ganz geringen Preis fast verschenkt wurde, konnte er nun zu brennbaren Ziegeln pressen, die er vergleichsweise teuer verkaufte, unerschwinglich für die arme Klientel, für die der unverarbeitete Staub das einzig zugängliche Mittel dargestellt hatte, um ihre Wohnungen notdürftig warm zu bekommen. Bitter beschwerte sich diese denn auch über den Wucher, wenn sie nach weiten, zu Fuß zurückgelegten Wegen mit leeren Säcken und Karren wieder abziehen musste, Köhlers mitleidlosen Kommentar im Ohr, zu verschenken habe er nun mal nix, da müssten sie sich schon an die entsprechenden öffentlichen Stellen wenden. Mit den Leuten aus der Straße allerdings hatte er es beim Alten belassen, um sich den Frieden mit der unmittelbaren Nachbarschaft nicht zu verscherzen.

Die Tage wurden wieder merklich länger, das Licht freundlicher, in den Parks karrten die Gärtner altes Laub weg, kiesten die Wege frisch, setzten erste Frühlingspflänzchen; Gartenlokale stellten sich mit frisch grün und rot gestrichenen Tischen und Stühlen auf Ausflügler ein, die schon die ersten noch schwachbrüstigen Sonnenstrahlen nutzen wollten. Überall in der Stadt wurden kleinere und größere private und öffentliche Bälle und Feste veranstaltet, und eines Tages kam Rudolph mit der Nachricht, es werde ein großes Maskenfest im Strauss’schen Palais geben, und es würden noch jede Menge Helfer gesucht, gewiss würde es Arbeit für sie alle geben. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, und richtig wurde die ganze Gruppe, die dank Rudolphs Pfiffigkeit rechtzeitig genug zur Stelle war, angenommen; jeder erhielt, zusammen mit einer Menge anderer Kinder, Jugendlicher und erwachsener Tagelöhner, einfach ein gestempeltes Formular in die Hand gedrückt, um sich am Samstagabend ihren Einsatz bestätigen zu lassen und am Montag darauf die Entlohnung abzuholen.

„Ui, wie siehst du denn aus?!“, wurde Frieda begrüßt, als sie sich am Samstagnachmittag gemeinsam auf den Weg machten.

„Na, immerhin ist es doch ein Ball, da muss man sich doch ein bisschen fein machen!“, verteidigte sie sich, allerdings doch ein wenig errötend. Den Lippenstift ihrer großen Schwester hatte sie sich ungefragt ausgeliehen und ihren Mund damit ziemlich knallig geschminkt.

„Oh, arme Frieda!“, spottete Rudolph, „Deine ganze Schönheit wirst du wohl an Küchenmädchen und Putzlumpen verschwenden müssen!“

„Ja, eben“, pflichtete Agnes ihm bei, „wir werden doch sicher nicht in den Festsälen arbeiten.“

„Sie werden aber doch wohl auch Bedienungen brauchen!“, protestierte Frieda.

„Dafür nehmen sie doch keine Kinder!“

„Na, wir werden ja sehen! Luise kommt jedenfalls auch, und ich seh’ nicht ein, weshalb ich nicht zu meiner Schwester dürfen soll!“

„Bloß dass du dafür bezahlt wirst, die Arbeit zu machen, und Luise, oder ihr Freund, dafür bezahlt hat, sich bedienen zu lassen und sich zu vergnügen“, belehrte sie Karl.

„Also, ich bin dafür, dass wir aufhören zu streiten“, schaltete sich Elsa ein, „Wir werden ja schließlich bald erfahren, wie es ist. Auf jeden Fall ist es mal was anderes und sicher lustig, auch wenn wir jede Menge schuften müssen.“

Und schuften mussten sie allerdings: Gleich als sie am Hintereingang des Festgebäudes ankamen, wurden sie von einer kräftigen, rundlichen Mamsell empfangen, die aussah, als teilten ihre Schürzenbänder sie wie einen Schneemann in zwei übereinandersitzende Kugeln; die gab mit mächtigen roten Armen Schürzen an die eintreffenden Hilfskräfte aus und wies jeden gleich, nach kurzem abschätzendem Blick, einem Arbeitsbereich zu.

Die Jungs schickte sie erst einmal weiter ums Gebäude herum zu einem Lagerraum, wo ein Mann sie anwies, Kästen voller Flaschen ins Innere des Gebäudes zu karren und zu schleppen und an bestimmter Stelle bereitzustellen, damit andere Helfer sie von dort wiederum an die verschiedenen Getränketheken in den Sälen verteilen konnten.

Die Mädchen schubste die rotarmige Chefin in Richtung Küche und übergab sie an ihre dortigen Unteroffiziere. Kartoffeln schälen hieß die Parole, Zwiebeln schneiden, Gemüse putzen, Eier aufschlagen und vieles mehr, alles in unvorstellbaren Mengen. Seufzend ergab Agnes sich in ihr Schicksal - schälte sie nicht weiß Gott schon zuhause genug Kartoffeln? - und reihte sich zusammen mit Elsa und Frieda, die so manchen skeptischen Blick auf ihren roten Mund erntete, in die Schar der Mädchen ein, die die Zutaten für Berge der bei solchen Gelegenheiten üblichen Stärkungen vorbereiteten, in einem Dauergetöse aus Geschirrgeklapper, zischendem Fett, hackenden Messern, plappernden Mädchen und palavernden Frauen, immer wieder durchschnitten von laut ertönenden herrischen Befehlen der Köchinnen, die nach irgendeinem Utensil oder einer Zutat riefen oder zu größerer Eile antrieben.

Das ging so scheinbar Stunden und Stunden, nur Elsa war irgendwann einmal plötzlich verschwunden. Sie hatte mitbekommen, dass man begonnen hatte, Geschirr und Besteck auf rollbaren Gestellen hinauszufahren, und da hatte sie sich eigenmächtig aus der Gemüseputzabteilung abgesetzt und geholfen, Teller zu stapeln, Messer, Gabeln, Löffel in entsprechende Fächer zu sortieren und dann die beladenen Wagen hinauszurollen. Von da an war sie für den Rest des Abends nicht mehr länger an einem festen Einsatzort zu finden sondern irrlichterte, ganz in ihrem Element, von einer selbst gesuchten Aufgabe zur nächsten, tauchte zwischendurch immer wieder einmal auf, verschwitzt und außer Puste, mit verstrubbeltem Haar und verrutschter Schürze, roten Backen und strahlenden Augen, um den anderen schnell und atemlos zu berichten, was sie gesehen und erlebt hatte.

Bald war auch Fritz plötzlich mit rotem Kopf und verlegenem Blick in der Küche aufgetaucht. Bei den Jungen hatte es ein kleines Drama gegeben, als Fritz unter der Kistenschlepperei einen Schwindelanfall bekommen hatte, weil er nicht hatte zugeben wollen, dass es ihm eigentlich viel zu schwer war. Unwirsch und spöttisch hatte Rudolph ihm geraten, er möge doch lieber bei den Mädchen mitmachen, das werde ja wohl nicht über seine Kräfte gehen. Da fing Fritz zu weinen an - „Gott, nun heult er auch noch“, war Rudolphs abfälliger Kommentar, und „Können wir hier dann bald mal weitermachen?“ die ungeduldige Mahnung des Aufsehers -, und Johannes ging, ihn zu trösten. Er solle doch Rudolphs Rat befolgen - warum er sich denn hier herumplagen wolle, wenn es woanders leichtere Aufgaben für ihn gäbe. Es sei doch nicht seine Schuld und auch überhaupt nichts Schlimmes, dass er nicht so kräftig gebaut sei wie andere, und Rudolph solle er doch einfach reden lassen, er kenne ihn doch und solle sich das nicht so zu Herzen nehmen. Er erntete einen dankbaren, aber auch tieftraurigen Blick - Hannes hatte ja gut reden: wo er doch so schrecklich gerne gewesen wäre wie die anderen Jungen und einfach so dazugehört hätte. Als aber der Aufseher erneut und voller Ungeduld rief, ob denn das Kindermädchen endlich abkömmlich sei und langsam wieder mit anpacken und der Mickerling sich eine andere Arbeit suchen könne, da stand Fritz auf und ging beschämt hinüber zu den Mädchen.

Vor einiger Zeit hatte der Einlass für die Festbesucher begonnen, und zuerst zögerlich, dann immer stärker waren die Gäste hinzugeströmt und füllten Eingangshalle, Treppenhäuser und Säle. In den Wirtschaftsräumen bekam man das allerdings nur anhand eines stetig anschwellenden Summens und Vibrierens mit, in das sich vereinzelt und ahnungsweise auch melodiösere Frequenzen mischten - die Tanzkapellen hatten aufzuspielen begonnen. Auch die Aufgaben, die die Kinder zu verrichten hatten, verschoben sich allmählich weg von der Nahrungsmittelzubereitung hin zu Aufräum- und Reinigungsarbeiten. Nach und nach hatten fast alle eine Gelegenheit gefunden, sich draußen am eigentlichen Ort des Geschehens nützlich zu machen. Da mussten Tische abgeräumt und saubergewischt, leere Flaschen eingesammelt, Nachschub an sauberem Geschirr an den Büffets bereitgestellt werden. Auch bei den Garderoben gab es zu tun: eintreffende oder aufbrechende Gäste wollten sich nicht in die Schlangen stellen und warten, bis sie an der Reihe wären, und waren froh, wenn eins der Kinder ihre Mäntel für sie abgaben oder holten. Rudolph und Elsa fanden hier für einige Zeit ihr Betätigungsfeld, und Elster hatte mehr als einmal ihre liebe Not, zehn begehrlich zuckende Finger im Zaum zu halten. Die Versuchung war immer wieder fast zu groß - so sehr in Reichweite und so leicht zu erwischen waren schöne und teils auch kostbare Dinge selten! Sogar eine goldene Uhrenkette lugte aus der Brusttasche einer Herrenjacke hervor - die hatte der Besitzer sicherlich nicht mit Absicht dort stecken lassen. Elsas Augen leuchteten auf, und einen Moment zögerte sie in der Bewegung, das Kleidungsstück aufzuhängen. Aber sie beherrschte sich schließlich doch - gar zu schade wäre es doch gewesen, das schöne Abenteuer dieses Festes durch ein peinliches Erwischtwerden und darauf folgende hässliche Auftritte zu verderben. Da traf ihr Blick sich mit dem Rudolphs, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte und sie sehr amüsiert und provokant angrinste. Dem streckte sie rasch und diskret die Zunge heraus und schüttelte den Kopf.

Frieda war, seit sie hinzugesprungen war, um Inhalt und Scherben eines zu Boden gefallenen Getränketabletts mit Lappen, Schippe und Besen zu beseitigen, glücklich damit beschäftigt, abwechselnd gebrauchtes Geschirr wegzuräumen und für Gäste, die keine Lust hatten, selbst zu den Büffets zu laufen, Nachschläge an Bratkartoffeln oder Kartoffelsalat herbeizuholen. Innerlich triumphierte sie dabei, hatte sie doch ihr Ziel erreicht und durfte im Saal bedienen, und war so also ihr Aufwand, sich „fein“ zu machen, doch nicht verschwendet gewesen.

Nur Agnes gehörte zu denen, die Pech gehabt hatten, indem sie vom Kartoffelschälen direkt zum Spüldienst beordert worden war und wohl gar nicht mehr von der Küche loskommen sollte. Irgendwann jedoch erschien Karl bei ihr und rief: „Ach, hier bist du ja immer noch, Agnes! Jetzt musst du aber auch mal rauskommen, das musst du einfach gesehen haben!“ Er nahm sie kurz entschlossen bei der Hand und zog sie, die in der anderen immer noch ein ziemlich durchfeuchtetes, fleckiges Geschirrtuch hielt, mit sich fort. Er, Fritz und Johannes waren die ganze letzte Zeit in den Sälen umhergelaufen und hatten nur allmählich, eigentlich erst, nachdem sie von Johannes einmal darauf aufmerksam gemacht worden waren, von ihren jeweiligen Arbeiten absehend einen Blick dafür gehabt, wie wunderbar die Szenerie war, in der sie sich bewegten. Da dachte Karl an Agnes und war sich sicher, wie er sie kannte, würde sie von alldem gar nichts bemerken. Sie war schließlich auch zuhause immer die Letzte, die zum Spielen herauskam, wenn sie überhaupt Zeit dazu fand.

Der Durchgang von den Wirtschaftsräumen zum öffentlichen Bereich war noch einmal abgeschirmt mit einem bunt bemalten Paravent, und hinter diesem lugte Agnes nun, ihren schmutzigen Küchenlappen noch zusätzlich hinter ihrem Rücken versteckend, hervor: auf das, was sie da zwischen den Blättern einer großen Zimmerpalme hindurch erspähte, konnte sie sich gar nicht so schnell umstellen. Es kam ihr vor, als sei sie aus dem wirklichen Leben in einen Traum geraten, und noch dazu in einen, den sie nicht einmal selbst träumte, sondern als sehe sie jemand anderem beim Träumen zu, so fremd und fern von allem, was in ihrem Alltag eine Rolle spielte, war ihr das alles: skurril verkleidete menschliche Figuren bewegten sich zwischen exotischen Requisiten, alles in ein unwahrscheinliches, vielfarbig schimmerndes Licht aus Hunderten von Lampen getaucht und das Ganze wiederum von einem dichten, fast berührbaren Gewebe aus Tönen - sanften Geigen- und Holzbläserklängen und festlich-angeregtem und zufriedenem Stimmengewirr - umgeben. Sie schaute Karl ratlos an, der fragte: „Na, was sagst du? Ist das nicht prächtig? Gib zu, wenn ich nicht gekommen wäre, hättest du von dem allen gar nichts mitgekriegt, oder?“ - „Ja, sehr schön“, sie warf noch einmal einen Blick hinaus. „Jetzt muss ich aber wieder zurück zur Arbeit. Danke für’s Zeigen, Karl!“ Und damit schlüpfte sie wieder zurück in den Gang zur Küche, wo Töpfegetöse und Besteckgerassel die Festmusik sogleich wieder erschlugen.

Johannes hatte indessen Gelegenheit gefunden, sich überall gründlich umzuschauen. In jedem der Säle gab es ja genug zu tun, und im Wandern von einem Einsatzort zum nächsten nahm er sich einfach etwas Zeit für kleine Umwege und Erkundungsgänge.

Wie viel Aufwand man doch getrieben hatte, das Palais für diesen Anlass auszuschmücken, keine Kosten und Mühen hatten die Veranstalter gescheut. Man hatte für das Ganze das Sehnsuchtsthema - noch war ja nicht einmal der Winter recht vorbei - „Sommer und Süden“ gewählt und die Räume mit allem ausgestattet, was diese Vorstellungen wecken konnte: unzählige große Pflanzen in Kübeln und Blumen in Töpfen und Ampeln hatte man aus sämtlichen Gewächshäusern der Stadt beschafft, sogar richtige Springbrunnen hatte man herbeigeschleppt und irgendwie zum Funktionieren gebracht.

Die Säle waren alle nach dem gleichen Muster eingerichtet: in einer Ecke das Podium für die Tanzkapelle, in einer anderen das Büffet, in der Mitte eine großzügige Tanzfläche, hell und festlich beleuchtet; darum herum ein Wandelgang, gebildet mit Hilfe der Pflanzen, die sich fast zu einem grünen, lichten Baldachin darüber berührten und ihn von dem Mittelteil abgrenzten; dabei ließ er genug Lücken, um zur Tanzfläche durchzugehen oder wenigstens den Tänzern zuzusehen, aber gab denen, die das lieber mochten, das Gefühl, ein wenig abgesondert vom Geschehen zu flanieren; von dort aus konnte man sich aber auch vollends zurückziehen in kleinere oder größere laubenähnliche Nischen, die zu den Wänden hin eingerichtet waren, und wo Gartentische, -stühle oder -bänke zum Ausruhen, Plaudern oder Essen und Trinken einluden. Bei dieser immer wiederkehrenden Raumaufteilung aber hatte man jedem Saal sein eigenes südlich-sommerliches Lokalkolorit zugeordnet und in dem einen „Südeuropa und Mittelmeer“, dem anderen „Asien“, einem dritten „Afrika“ zu reproduzieren versucht.

In schierem Staunen wurde Johannes gleichsam hineingesogen in diese Märchenwelt, ließ sich treiben auf einer Phantasiereise durch die verschiedenen dargestellten Länder. Da fand er sich in toskanischen Sommergärten wieder: zwischen Orangenlaub leuchteten Gipsimitate von Marmorstatuen hervor, und das setzte sich fort in eine gemalte Landschaftskulisse hinein, mit einem von Zypressen umgebenen italienischen Palazzo im Hintergrund; in den Zweigen der Kübelpflanzen waren hübsche Vogelkäfige aufgehängt, die wie kleine luftige Pavillons aussahen und aus denen Singvögel ihre schrillen Melodien unter die Klänge der Tanzmusik und das leise Sprudeln der Springbrunnen mischten; in einer anderen Nische war „Venedig“, und vor einem Wandbild vom Canal Grande waren die Sitzgruppen als Gondeln verkleidet. Der nächste Saal war Afrika gewidmet: das Wandbild der ägyptischen Nische zeigte die berühmten Pyramiden, die Sphinx und Kamele unter brennender Sonne, und davor hatte man Wasserpfeifen zur Dekoration und Kamelsättel und runde Lederpuffs zum Sitzen aufgestellt; schwarzafrikanische Szenerie hatte man mittels Palmen in Kübeln, einer Savannenlandschaft mit Löwen und Zebras an der Wand, Elefantenzähnen, afrikanischen Trommeln, Figuren aus glänzend schwarzem Ebenholz und federgeschmückten Speeren als Dekoration angedeutet, und Tische und Stühle hatte man in eine halbe grasgedeckte Rundhütte gestellt, die man einer Fotovorlage aus den Kolonien nachgebaut hatte.

Vollends unwahrscheinlich wurde das Ambiente jedoch durch die verkleideten Besucher. Noch nie hatte er dergleichen gesehen und bemerkte daher auch nicht, dass die meisten kaum Ehrgeiz darauf verwendet hatten, besonders originell zu sein. Für ihn war das alles auf völlig verrückte Weise neu. Damen wie Herren hatten mindestens eine Augenmaske angelegt, dazu vielleicht noch einen ungebräuchlichen Hut wie Dreispitz oder Barett die einen, aufwändigen blumen- oder federgeschmückten Kopfputz die anderen aufgesetzt. Es gab jede Menge Dominos, die einfach über ihre eleganten Abendgarderoben weite, wadenlange schwarze Umhänge und die Kapuzen über den Kopf gezogen hatten. Andere hatten aber auch etwas mehr Aufwand getrieben und sich in richtige traditionelle Karnevalskostüme gehüllt oder sich als Figuren aus anderen Zeiten und Sphären verkleidet. Da tanzten dann Harlekins in buntscheckigen Gewändern und glöckchenbehängten Narrenkappen mit Damen in ausladenden Reifröcken und Puderperücken, oder Pierrots in weißen Hosen, Kitteln mit farbigen Bommeln und weißgeschminkten Gesichtern mit Gärtnerinnen in buntgestreiften Kleidern und bändergeschmückten Strohhüten, kleine Körbe mit Blumen am Arm schwenkend; und Edelmänner aus der Renaissance in weißen Strumpfhosen, samtenen Wämsern und halblangen Capes, degenbewehrt, holten Getränke für orientalische Prinzessinnen, die in farbenfrohen Pluderhosen, Stirnbändern und duftigen Schleiern anmutig dahertänzelten.

Johannes konnte seine Augen nicht von den Leuten lassen - waren das überhaupt wirklich Leute und nicht vielmehr befremdliche Fabelwesen? - und erntete verstörend unheimliche Blicke aus starren Masken, die man sich wie Lorgnette an Stielen vor die Gesichter hielt, als er an einem Tisch vor lauter Faszination beinahe ein halbvolles Sektglas umgestoßen hätte. Verlegen wischte er die verschütteten Spritzer auf und ging rasch seiner Wege.

Er schob und schlängelte sich durch das Gedränge in einer der Galerien, die die Säle umliefen, als er eine hauchzarte Berührung an der Hand spürte und, nach dieser Seite aufblickend, eigentlich nur ein blaues Leuchten aufschimmern sah, bevor es schon wieder von der Menge im angrenzenden Saal verdeckt war. Etwas fesselte ihn und gefiel ihm so ausnehmend an diesem kurzen Eindruck - es schien ihm, als könne es diese Farbe in Wirklichkeit gar nicht gegeben haben -, dass er ihm durch den weiten Türbogen folgte und ihn zwischen all den unzähligen Figuren wiederzufinden suchte. Immer jedoch, wenn er gerade dachte, er habe ihn entdeckt, schoben sich andere Gäste dazwischen, und wieder hatte er ihn verloren. Irgendwann wurde er an einen der Tische gerufen, damit er dort Ordnung schaffe und abräumen helfe, da musste er seine Suche aufgeben.

An dem Tisch saßen etliche Herren beisammen, die offenkundig, trotz der scheinbaren maskierten Anonymität, miteinander bekannt waren und sich angeregt unterhielten. Es waren wohl alles teils Kauf-, teils Bankleute, die sich gerade über den Gang der jeweiligen Geschäfte austauschten, und ihren zufriedenen Stimmen war anzumerken, dass in dieser Hinsicht wohl alles zum Besten bestellt sein musste. Einer baute gerade ein neues Haus und berichtete von Streitereien mit dem Architekten, der seine Vorstellung von Standesgemäßheit als zu protzig und vulgär bremsen zu wollen sich herausnahm. Ein anderer war im Begriffe, sich ein Auto anzuschaffen und war hochzufrieden über diesen Schritt, den er mit der neuen Zeit ging. Über Vereinsversammlungen, wo sie den Vorsitz hatten, Wohltätigkeitskomitees, in denen sie Entscheidungen trafen, wurde gesprochen, und Johannes machte seine Arbeit absichtlich langsam und spitzte interessiert die Ohren - das betraf ja im weitesten Sinne ihn selbst, und im Leben nicht hätte er doch je wieder Gelegenheit, so dicht an solche Leute heranzukommen, die Wohl und Wehe von seinesgleichen so sehr bestimmen konnten.

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