Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 5
Zwei Herrschaften saßen wohl im Stadtrat und wussten von Projekten zur Milderung der Wohnungsnot zu berichten, die gleichzeitig ihnen selbst und womöglich noch anderen unternehmungs-lustigen Herren aus der Runde beträchtlichen Gewinn eintragen könnten.
„He, du da, Junge!“ unterbrach einer die Unterhaltung, „Wenn du schon da bist, geh doch bitte mal noch ein Bier für mich holen!“ - „Ach ja, mir kannst du auch gleich eins mitbringen, und eine Salzbrezel dazu!“
Als er zurückkam mit den Getränken, hatte das Thema am Tisch gewechselt - man sprach über den Nachwuchs. „Mir macht bloß mein Ältester Kummer“, beklagte sich einer der Herren. „Statt ins Geschäft einzusteigen, das er doch sowieso später einmal übernehmen wird, will er studieren!“ - „Seien Sie doch froh, dass der Junge Ehrgeiz hat! Meiner würde sich am liebsten gleich auf den Lorbeeren ausruhen, die ich im Schweiße meines Angesichts erworben habe.“ - „Na, Ehrgeiz - ich weiß ja nicht! Spinnereien würd’ ich das eher nennen. Philosophie und Griechisch will er studieren - Hungerleiderkünste eben. Und die Firma ist ihm dabei herzlich gleich!“ - „Lassen Sie ihn doch Jura studieren. Das hab’ ich für meinen auch beschlossen. Einen guten Juristen kann jede Firma brauchen, und wenn sich später der Chef selber da auskennt, umso besser.“ - „Also, ich bin bisher auch ganz gut ausgekommen, ohne ein Studierter zu sein.“ - „Mir wär auch lieber, der meine würde die Rechte studieren. Er hat sich in den Kopf gesetzt, Medizin soll es sein! Ich will doch keinen Quacksalber großgezogen haben, der den Leuten in den Rachen guckt und Salbe gegen das Rheuma verschreibt!“ - „Na, so muss das ja nicht enden. Mit dem rechten Geschick kann er doch auch als Arzt Bedeutendes erreichen.“ - „Gott, bin ich froh, dass ich diese Sorgen hinter mir habe! Mein Richard ist ja schon ein paar Jahre älter als Ihre Buben; jetzt ist er endlich untergekommen, und sehr gut sogar: Er hatte ja ein exzellentes Examen hingelegt, aber dann hing er eine ganze Weile in der Luft. Jetzt haben wir ihn aber glücklich im diplomatischen Dienst untergebracht; nächsten Monat geht er ab ins Reich der Mitte, als Sekretär des Botschafters in China.“ - „Na, der ist ja wohl ein gemachter Mann, von dem werden wir dann sicher noch hören!“ - „Ja, mit so einer Laufbahn, kann gut sein, dass er mal zu denen gehört, die mitreden. Dumm ist er ja weiß Gott nicht.“
Nun fand Johannes beim besten Willen keinen Vorwand mehr, sich länger hier aufzuhalten und ging langsam und nachdenklich weiter. Was er da alles zu hören bekommen hatte! - als hätte das Seitenfenster eines Schlosses einen Spalt breit offen gestanden und er auf Zehenspitzen einen Blick in Zimmerfluchten prächtiger Salons stibitzt, so hatte er ein paar Momentaufnahmen erhascht, kurze Einblicke in eine fremde Welt, von der er so vollständig abgetrennt war, als lebten diese Menschen jenseits des Ozeans oder auf dem Mond und nicht in derselben Stadt; dennoch spürte er, dass diese Welten miteinander verwoben und voneinander abhängig waren, jedoch auf eine Art, die ihn sich unangenehm hilflos in einer schwachen und ausgelieferten Position fühlen ließ. Wie sie da so selbstverständlich und alltäglich von Riesenprojekten plauderten beim Bier oder Champagner, von Entscheidungen, mit denen sie das Leben hunderter, wenn nicht gar tausender Menschen mitbestimmten! Und während sich die Erwachsenen seiner Welt immer nur den Kopf zerbrachen, woher sie in nächster Zeit die Mittel nehmen sollten, die Bäuche ihrer Familien halbwegs zu füllen und die elementarsten Bedürfnisse an Kleidung und Obdach zu befriedigen, machten die hier sich Gedanken, ob die Erker ihrer neuen Villen von antiken Figuren oder schlichten Säulen gestützt werden sollten und ob sie das Wohnzimmer lieber im Jugend- oder im Empirestil einrichten wollten. Und ihre Söhne: was hatten die nicht für Möglichkeiten! Nicht nur, dass sie ganz von selbst in die einflussreichen Positionen ihrer Väter rücken würden, sie würden auch studieren können, Dinge lernen, Bereiche sich erschließen, die nicht einmal ihren Vätern zu Gebote gestanden hatten; würde nicht der eine schon bald - das musste man sich mal vorstellen! - nach China aufbrechen? Die ganze Welt schien denen offen zu stehen!
Ob wohl nicht doch, allen Widrigkeiten zum Trotz, auch einer wie er wenigstens eine ganz kleine Chance haben könnte, Ähnliches zu erreichen? Wenn er nur fleißig genug lernte - hatte nicht sein Vater immer gesagt, man könne alles schaffen, wenn man es nur stark genug wolle? Zwischen dem Ehrgeiz, dereinst auch zu denen zu gehören, „die mitredeten“ - was immer er sich auch genau darunter vorstellen sollte, aber es klang so wünschenswert - und dem, sein Leben einem packenden Thema widmen zu dürfen, pendelte der innere Aufruhr, den das mitgehörte Gespräch der Honoratioren in Bewegung gesetzt hatte, und unter solchen Gedanken war er die Galerie entlang bis in den Wintergarten an der Rückseite des Gebäudes gelangt, den er bis jetzt noch nicht betreten hatte.
Wie schön es hier war! All die Pracht und beinahe schwülstige Fülle, die in den übrigen Festräumen herrschte, auch die akustische, war hier zurückgenommen, gedämpft und beruhigt: In einer Ecke spielte nur ein Streichtrio ganz leise, zärtliche Hintergrundmusik. Hier war nun keine besondere exotische Kulisse mehr, lediglich eine sommerlich-luftige Atmosphäre gestaltet. Schlanke, sparsam verschnörkelte weiße Säulen und Streben trugen die gläserne Decke; daran hingen mit zarten Blütenkaskaden bepflanzte Ampeln. Auf flachen, von gedrechselten Geländern umgebenen Estraden aus Schiffsholz waren weiß lackierte Gartentische und -stühle mithilfe blühender Stauden in blau-weiß gemusterten Kübeln zu fast intim wirkenden Laubenplätzen arrangiert. Das Schönste aber war sicherlich die Beleuchtung, die mit Hilfe zwischen die Pflanzen und an die Deckenstreben gehängter Lampions den Raum zwar nicht richtig hell machte, ihn dafür aber in eine wunderbar verwunschene Atmosphäre tauchte; aus dem vorherrschenden Dämmer hob sie Lichtinseln heraus, wo maskierte Gesichter, Teile farbenfroher Kostüme und ein paar blütenbesetzte Zweige sich zu hübschen Tableaus zusammenfanden. Hier unterhielten sich die Gäste in zurückhaltendem Ton miteinander; wo hie und da nur zwei beisammen waren, wurde auch wohl gar nicht geredet sondern bloß still und eng aneinandergeschmiegt dagesessen.
Fenster und Terrassentüren, deren weiße Sprossen vom Boden bis zur Decke reichten, schlossen den Raum zum Park hin ab. Hier war Johannes stehen geblieben und schaute hinaus in den Park; auch hier draußen, verteilt in den Zweigen der am nächsten stehenden Bäume, hingen Laternen; so hatte man den Lichtzauber des Interieurs noch ins Freie hinein fortzusetzen und den Übergang zur Wirklichkeit der kalten Winternacht sanft abzufedern gewusst. Sein Blick folgte von Lampion zu Lampion, bis er sich an der undurchdringlichen Schwärze im Hintergrund stieß. Er seufzte tief auf und wollte sich losreißen und umwenden, da zuckte er zusammen: keine fünf Schritte von ihm entfernt, ebenfalls vor einem der Fenster mit dem Blick nach draußen, stand die blaue Gestalt, die er vorhin so gesucht hatte.
Ein Vogelkopf, ein langer weißer, schmal und spitzer Schnabel statt der Menschennase, unbewegt dem Fenster zugewandt, ins Freie starrend. Und ja - oder nein - getäuscht hatte er sich da nicht: dieses Blau gab es nicht, konnte es nicht geben, war völlig ausgeschlossen. Das war ja goldenes Nachtblau! Ein tief dunkles Blau, in dem der Blick hängen blieb wie dort draußen hinter den ferneren Bäumen des Parks; und doch aus Falten und Bauschungen einen warmen samtig-seidigen Glanz sendend - es war wie eine Sommernacht, die alles Licht des Universums oder das Leuchten der Sonne von der anderen Seite der Erde vollständig in sich aufgenommen hatte und nun hier verhalten und geheimnisvoll ausgab. In diesen unwirklichen Farbton war die Gestalt von Kopf bis Fuß gekleidet; ein stoffreiches Cape mit großzügigem Faltenwurf verhüllte den Körper und machte Umfang und Konturen und damit auch das Geschlecht des darunter verborgenen Menschen völlig unkenntlich; das Vogelgesicht war eingefasst von einer ausladenden turbanähnlichen Draperie; und, um dem Ganzen die bizarre Krone aufzusetzen, überragte diese noch eine Art Diadem mit einem Fächer aus prächtigen, zwischen Blau, Grün und Gold changierenden Pfauenfedern, die im leichten Luftzug nickten.
Unvermittelt wandte sich das eindrucksvolle Wesen um, nahm dabei gleichzeitig die Vogelmaske ab, die es, wie sich jetzt erst zeigte, nur an einem Stiel sich vorgehalten hatte, und brachte darunter ein weiteres Maskenantlitz zu Tage: ein makelloses weißes Oval, das Abstraktum eines Menschengesichts, sah den Jungen an - wie ihm schien, mit nur eben der Andeutung eines unveränderlich auf dem Gesicht eingefrorenen Ausdrucks seltsamster Freundlichkeit - ein fein lächelndes Verziehen der Lippen, eine bestimmte Wangenwölbung... Sicher war es ein bloßes Spiel des schwachen Kerzenlichts, wenn sich dies lächelnde Wohlwollen noch flüchtig zu vertiefen schien, als sich die Gestalt nun vollends umwandte und zügig, aber ohne Eile in Richtung des Ausgangs zur Galerie schritt.
Als Johannes wenig später in die Küche zurückkam, standen die Kinder ratlos und betreten um eine vollkommen hysterische Frieda herum. Die rieb und wischte unter Schluchzen und unverständlichem Schimpfen mit einem Lappen von zweifelhafter Reinheit in ihrem Gesicht herum, das von rotgeheulten Augen, rotgerubbelten Backen und roter Lippenstiftschmiere, die sich hartnäckig eher verteilte als wegwischen ließ, schlimm verunstaltet war.
„So eine Gemeinheit!“ und „Ekelhafter, widerlicher Kerl!“ hörte man sie fluchen.
Nach und nach erfuhren die anderen, was geschehen war: Irgendwann hatte Frieda doch noch unter all den Besuchern ihre Schwester entdeckt in einer größeren Gesellschaft aus maskierten und verkleideten Damen und Herren, zu dieser vorgerückten Stunde in ausgelassenster Laune. Trotzdem war Luise nicht entgangen, dass Frieda unerlaubterweise sich an ihrem Lippenrouge vergriffen hatte, und sie hatte sie entsprechend scharf zurechtgewiesen. Das hatte aber die Aufmerksamkeit der ganzen Tischrunde auf Frieda und ihren ungeschickten Versuch gezogen, sich ebenfalls „fein“ zu machen, und die Arme war umgehend das Ziel von Spottreden und Gelächter geworden. Das war zwar schlimm genug und setzte ihrem Selbstbewusstsein schon gehörig zu. Dann aber stand einer der Freunde von Luises Begleiter auf und nahm sie laut und mit verschusselter Aussprache vermeintlich in Schutz: „Lasstse doch, die Kleine! Sie haddoch recht. Je f...f...früher se zu üben anfängt, um so bälder sitse s...s...selber hier und amüsiert sich, anstatt euch die Sachen beizusch...sch...leppen undsu schuften. Un ich... übrigens, ich will mich dann schoma auf die Liste sch...sch...reiben, hihihi. Gell, meine Hübsche, ich darf der Erste sein?“ Und mit diesen Worten zog er das erschrockene Mädchen an sich, schob ein rotes, verschwitztes, unrasiertes Gesicht dicht vor ihres und drückte ihr einen lauten, scheußlich nach Schnaps, Bier und Bratfett riechenden Kuss mitten auf den Mund. Helles Gelächter erntete die Tat am ganzen Tisch, in das der Kerl selbst am grölendsten einstimmte. Frieda aber rannte heulend, voller Ekel und Entsetzen weg, um sich den abstoßenden Geschmack nach Suff und Ausschweifung aus dem Mund zu spülen und endlich die leidige Schminke, die ihr das alles überhaupt erst eingebrockt hatte, wie besessen abzuwischen.
Das Mädchen schluchzte immer noch, als die schneemannförmige Einsatzleiterin hereinkam und befahl: „So, Schluss jetzt, alles was unter sechzehn ist, geht heim!“ Von manchen Seiten hörte man Protest, aber sie war unerbittlich. „Nix da, keine Widerrede. Ihr seid lang genug da gewesen, habt eure Sache auch anständig gemacht, aber jetzt ist Feierabend. Wir wollen schließlich nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.“ Und wenn sie ehrlich waren, kam ihnen das auch nicht ganz so ungelegen. Manche konnten die Augen kaum noch offen halten, bewegten sich mehr wie in Trance, ein Mädchen hatte sich vor lauter müder Unkonzentriertheit sogar übel geschnitten, kurz, man wehrte sich nicht lange, stand an, um seine Arbeitsbescheinigung zu erhalten, gab seine Schürze ab und trat durch den Hintereingang in die wohltuend kalte Nachtluft hinaus. Nur Rudolph fehlte noch, aber Fritz hatte gesehen, dass er inzwischen vorne am Haupteingang einer trinkgeldträchtigen Aufgabe nachging: er besorgte Gästen, die das Fest verlassen wollten, Droschken und Taxen, half ihnen mit ihren Sachen hinein und bekam so einen ordentlichen Zusatzverdienst zusammen. Nur widerstrebend und erst aufgrund der Drohung, dass man ihm später seinen Einsatzschein nicht mehr abzeichnen würde, ließ er sich überzeugen, das lukrative Geschäft aufzugeben und sich den Gefährten anzuschließen.
„Eins sag’ ich euch“, verkündete er entschieden, als sie durch die im Tiefschlaf liegenden Straßen gingen, „wenn ich groß bin, gehör ich mal zu denen, die hier im feinen Anzug und Zylinderhut Champagner bestellen, im Pelzmantel rauskommen und Trinkgelder verteilen. Das hab ich mir heute Abend fest vorgenommen. Jetzt - gut und schön, brav Diener machen und fleißig zutragen und wegtragen und hoffen, dass der Herr sich großzügig zeigt, von mir aus. Aber das mach ich nicht das ganze Leben lang mit!“
„Wisst ihr denn schon, was ihr mit dem Geld macht, das ihr heute Abend verdient habt?“ fragte Elsa.
„Kann eigentlich ein Kind ein Konto haben?“ erkundigte sich Agnes. „Ich würde mein Geld am liebsten auf die Bank bringen, damit der Vater es nicht findet und mir abnimmt.“
„Warum kaufst du nicht einfach Sachen dafür, dann kann er’s dir schon nicht mehr wegnehmen. Bei mir ist bestimmt nichts mehr übrig für die Bank, wenn ich erst mal einkaufen war! - Vielleicht reicht’s ja für ein Grammophon mit ein paar Platten, das wär’ so klasse! Und Suse wünscht sich so sehr einen Gürtel, den sie im Laden gesehen hat, Otto ein Taschenmesser, Hänschen braucht neue Schuhe, für Mutter und Vater will ich natürlich auch was...“ - „Ja, und für dich selbst? Du hast doch die ganzen Stunden geschafft, willst du für dich denn gar nichts?“ fragte Karl ganz erstaunt. „Klar, für mich find ich sicher auch was, keine Bange!“ grinste Elsa.
„Also, ich möchte meins am liebsten nicht gleich ausgeben“, meinte Agnes, „man weiß doch nicht, was noch alles passiert...“
„Aber das Fest! - Das war doch wirklich eine tolle Sache, findet ihr nicht?“ wechselte Elsa das Thema. „So schön war alles hergerichtet; und was für Kostüme die Leute anhatten, ich konnte mich gar nicht satt sehen!“
„Ja, aber schon auch bisschen komisch, oder?“, meinte Karl, „wenn erwachsene Leute Verkleiden spielen.“
Die einzigen, die sich gar nicht am Gespräch beteiligten, waren Frieda und Johannes. Die eine hatte zu sehr noch zu knabbern an dem verstörenden Erlebnis, mit dem das Fest für sie zu Ende gegangen war; der andere war ganz in seine Gedanken versunken, in denen der Blick in das Schloss, in dem Reichtum und Einfluss wohnten, der ehrgeizige Wunsch, dereinst „mitreden zu können“, die vielfältigen bunten und exotischen Eindrücke aus den vergangenen Stunden, der Nachhall der Musik, zu dem sich all diese Bilder in beschwingten Kreisen drehten, und dazwischen immer wieder das Aufscheinen eines unmöglichen Blaus, eines unheimlich-aufmunternden, weißen Lächelns und die Vision, von der phantastischen, geheimnisvollen Gestalt bei der Hand genommen und sanft entführt zu werden - „He, Johannes!“ riss Rudolphs Stimme ihn aus diesem Reigen. „Schläfst du schon im Gehen? Oder bist du auch geküsst worden wie Frieda hier, die sich, scheint’s, ja gar nicht mehr von dem Schrecken erholen kann? Dabei wird sie das ja wohl noch öfter erleben, bevor sie alt und runzelig ist.“
6. „Reise um die Welt“
Die See lag ruhig und glänzte unter dem wolkenfreien Himmel nach allen Seiten hin endlos in tausend Reflexen des ungehemmten Sonnenlichts. Fast hätte man glauben können, das Schiff läge bewegungslos, doch hob und senkte es sich im ruhigen Atemrhythmus eines traumlos Schlafenden mit einer ansonsten nicht wahrnehmbaren Dünung; hin und wieder knarrte Balken, Planke, Mast, klatschte leicht ein schlaffes Segelende. Ein leises Zischen und Wellenplätschern am Bug war fast das einzige Indiz, dass das Schiff von einem sanften, aber stetigen Wind vorangetrieben wurde und den grenzenlosen, scheinbar aus bloßer golddurchwirkter, luftdurchwehter Bläue bestehenden Raum schwerelos und doch planvoll und richtungsgewiss durchschnitt.
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Er stand an der Reling des Vorderdecks, federte das leichte Auf-und-Nieder in den Knien ab und ließ seinen Blick sich in der Weite verlieren.
Wenige Wochen erst auf See, etwas Übung in Enge, Seemannskost und balancierendem Gang, der Beginn einer wagemutigen Unternehmung, von deren Verlauf und Ausgang nur eines gewiss war: dass sie so glatt, so leicht beschwingt wie dieser Auftakt nicht bleiben würde.
Und doch: die Hoffnung, dass jene flügelleichten, sonnendurchwärmten ersten Tage als gutes Omen für die ganze Reise zu nehmen erlaubt wäre...
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Nach wochenlanger Aussicht auf einen ununterbrochen zirkelgeraden Horizont ein im Spätnachmittagslicht wachsender, zunehmend Konturen zeigender dunklerer Streifen, den man morgen als festes Land betreten würde - Afrika!
Davor jedoch eine Nacht der Wunder: Nach Sonnenuntergang zünden nicht nur am Himmel ungezählte Lichter, auch das Meer erglänzt in tausendfachem Leuchten, jeder Wellenkamm bildet einen feurighellen Kranz, jedes Wellental breitet einen strahlenden Teppich aus zahllosen Lichtpunkten unter dem Rumpf des Schiffes aus, das so im wahrsten Sinne ein Lichtermeer durchschwebt, und man zwischen oben und unten, Himmel und Erde, Luft, Wasser und Feuer die Orientierung zu verlieren meint.
Das Wunder des leuchtenden Wassers - es ist mithilfe von in Eimern an Bord gehobenen Proben bald enträtselt: Abertausende kleinster Weichtierchen, die in bewegtem Wasser ihre Fähigkeit des selbständigen Leuchtens aktivieren - enträtselt, aber auch dann noch ein großes, beglücktes Staunen.
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Nach mehrtägigem Landgang mit Erkundungswanderungen durch fremdartig wilde Natur- und von europäischen Siedlern nach bekanntem Muster nutzbar gemachte Kulturlandschaft wieder auf See und, tatsächlich, die sorglose Zeit scheint zu Ende: tagelange Stürme, Schwanken und Taumeln, Brecher, die auf Deck schlagen, Ausstattung zerbrechen und Kojen durchnässen, alles noch mit Humor getragen, und dann: Nacht des Grauens und Stunden der Todesangst: eindringendes Wasser, verzweifeltes Ankämpfen der gesamten Besatzung mit Pumpen und Eimern, in Finsternis und Ungewissheit über die Ursache des Unglücks, bis endlich doch nur ein vom Sturm oder den Wellen aufgedrücktes Fenster als undichte Stelle ausgemacht, schnell fest verschlossen, die Kabinen freigepumpt werden können und Erleichterung über die knappe Rettung sich ausbreitet - wie viele ähnlich gefährliche Situationen würde man noch zu bestehen haben bis zum Ende der Reise?
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Täglich zunehmende Kälte, in der kaum noch zu trocknenden klammen Kleidung nur schwer erträglich. Das Einerlei unzulänglicher Kost, immer gleicher Abläufe und immer wieder enttäuschter Hoffnungsblitze, endlich Land zu finden. Monatelanges ausweglos erscheinendes Kreuzen zwischen dichter und größer werdenden Treibeisformationen, durch eine seelenleere, in mancher Nacht vom befremdlich-schönen Südpolarlicht überstrahlte Hölle...
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Ausweichen vor dem südlichen Winter in wärmere Regionen, Segeln zwischen zahllosen Inseln hindurch, denen es zum Teil erst Namen zu geben gilt, bereist man doch manche der Gebiete als erste Europäer überhaupt. Und hier auch endlich wieder Begegnungen mit Menschen: wohl manchmal feindselig, waffenstarrend gegenüber den Eindringlingen mit ihrer unvertrauten Physiognomie und ihren Riesenbooten, oft aber zögerlich-vorsichtig-freundlich oder gar gleich von Anfang an neugierig, kontaktfreudig, gastfreundlich. Dann leiten Geschenke und Gegengeschenke einen regen Tauschhandel ein, und es gibt Einladungen in die Dörfer zu ausgiebigen Mahlzeiten oder Aufführungen ritueller Tänze und Spiele, man singt Lieder vor in der Runde und lauscht fasziniert denjenigen der weißen Gäste.
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Nachdenklichkeiten: diese Besuche in der fremden Welt - würden sie nicht vielleicht böse Folgen haben für die Inselbewohner - vielleicht bislang unbekannte und daher fatale Krankheiten, vielleicht durch die Kostproben der fortgeschrittenen Zivilisation geweckte Begehrlichkeiten, Konflikte ganz neuer Art, Umwälzungen in ihren altbewährten Lebensformen, die sie vielleicht dereinst würden wünschen lassen, die weißen Menschen wären zuhause geblieben und hätten sie nie entdeckt?
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Hinter dieser Landzunge hofften sie, eine geschützte Bucht als Ankerplatz für einige Tage zu finden. Als sie schon zu der Wendung ansetzten, um an ihrer äußersten Spitze vorbei in die Bucht einzuschwenken, war es jedoch, als hielte sogar das Schiff vor Staunen inne: Was sie vorfanden, war zwar tatsächlich ein ideal gelegener Hafen; der aber war bereits genutzt auf eine Weise, die sie hier, inmitten der Südsee, nie für möglich gehalten hätten. Eine unübersehbare Reihe aus Hunderten von offensichtlich kriegerisch gemeinten Doppelkanus, weitaus größer als die wendigen Boote für den Alltagsgebrauch, die sie von den meisten bisher besuchten Inseln schon kannten, lagen Seite an Seite, jedes mit hoch hinaufgezogenem, schnabelförmig gebogenem Bug und Heck, mächtigen Verdecken und Aufbauten, alles höchst aufwändig mit Schnitzereien und Bemalungen, mit Wimpeln und Federbüschen dekoriert. Jedes Schiff bot Platz für weit mehr als hundert Mann, und so wimmelte der Strand von einer bunten Menge herausgeputzter und mit Speeren, Keulen, Streitäxten bewaffneter Krieger. Das ganze weite Rund der Bucht bot ein vielfarbiges, prächtiges Bild, und dennoch herrschte eine Stimmung von angespanntem, feierlichem Ernst...
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Aufgeregtes Schiffsglockengebimmel und ärgerlich erhobene Stimmen ließen ihn aufschrecken, verwirrt und im ersten Moment nicht ganz im Bilde, wo er sich gerade befand. Zwei Lastkähne waren sich zu nah gekommen, hatten nun Mühe, sich aneinander vorbeizumanövrieren, und die Schiffsleute ließen die Gelegenheit nicht aus, sich gegenseitig mit Gusto zu beschimpfen.
Johannes runzelte die Stirn und wandte sich wieder dem Buche zu, das er auf den Knien liegen hatte - wie schade, gerade war es so besonders spannend gewesen!
Hier saß er, an seinem Lieblingsplatz am Kanal, auf einem flachen Stein zwischen Gebüsch und Gestrüpp unter einem der wenigen Bäume, die hier wuchsen, recht gut abgeschirmt und für sich, und hier hatte er schon tagelang in jeder freien Minute gesessen, seit ihn Herr Mäuthis neulich bei Schulschluss gebeten hatte, er möge doch mal nicht gleich weglaufen, er wolle ihn noch kurz sprechen. Er hatte, etwas erschrocken, überlegt, ob er irgendetwas angestellt hatte. Die anderen, die anscheinend Ähnliches vermuteten, grinsten ihm im Hinauslaufen zu.
„Schau mal, Johannes, ich hab hier was für dich. Du interessierst dich doch für so mancherlei, und besonders fürs Reisen und fremde Länder, nicht? - Als ich zuletzt zuhause bei meinen Eltern war, fiel mir dieses Buch in die Hände. Als Junge hab ich das geliebt und immer wieder angeschaut und darin gelesen. Ich musste gleich an dich denken und hab’s einfach mal mitgebracht. Es ist schon ziemlich alt, der es geschrieben hat, hat vor fast hundertfünfzig Jahren gelebt. Aber ich glaube, er war genauso ein neugieriger Kerl wie du; und er war ungefähr in deinem Alter, da hat ihn sein Vater auf eine erste größere Forschungsreise mitgenommen, und nur wenige Jahre später, da war er immer noch fast ein Kind, durfte er ihn auf ein noch größeres Abenteuer begleiten, eine Entdeckungsreise rund um die Welt, und er hatte sogar eine eigene Aufgabe dabei. Er sollte nämlich die unbekannten Pflanzen und Tiere abzeichnen, die man finden würde. Am Ende hat er sogar den ganzen Reisebericht selbst geschrieben, und das ist nun das Buch, das du hier in Händen hältst. Wenn du möchtest, nimm es ruhig mit, und du kannst dir auch Zeit lassen mit dem Lesen und Zurückgeben, ich kenne es ja gut, hat also keine Eile.“
So Lehrer Mäuthis. Und Johannes wusste vor lauter Stolz und Freude über das Ernstgenommenwerden, über den Vertrauensbeweis kaum, seinen Dank auszudrücken. Und so zog er sich seither Tag für Tag zu seinem Platz am Weidenbäumchen zurück, saß, das große, schwere Buch auf den Knien, den Kopf in die Hände gestützt, und las und schaute mit heißen Wangen, und es kam ihm fast so vor, als sei er selbst mit dabei auf dem altmodischen Segelschiff, bei den Fahrten in unerforschte Gebiete, bei Stürmen und Windstillen, in antarktischer Kälte und tropischer Wärme, bei den Zusammentreffen mit den seltsamen Menschen, deren Verhalten, so fremd und unvorhersagbar es einerseits schien, er sich aber andererseits so gut vorstellen und nachvollziehen konnte.
Nicht, dass er das Buch Satz für Satz, Seite für Seite von vorne bis hinten durchlesen würde. Dafür stellte es ihn schon sprachlich vor zu große Schwierigkeiten. Das Deutsch, das dieser Junge vor einhundertfünfzig Jahren schrieb, war denn doch teilweise so veraltet, dass es ihm an manchen Stellen trotz mehrmaliger Versuche nicht gelang, das Gemeinte zu entschlüsseln. Dann gab es auch seitenlange Aufzählungen von wirtschaftlichen und soziologischen Daten und Statistiken oder sehr abstrakten Überlegungen, von denen er das meiste überblätterte. Häufig ließ er sich auch einfach von den wunderbaren und detailgenauen Illustrationen fesseln und studierte Bilder von tropischen Pflanzen, von unbekannten Vierfüßern wie Gnus oder Antilopen, von Vögeln und Fischen in leuchtend bunten Farben. Am besten gefielen ihm die Zeichnungen, die um das dargestellte Tier herum auch noch etwas von der Umgebung andeuteten: da saßen kleine Vögel auf Zweigen, große auf Felsen, im Hintergrund Küste, blaues Meer; ein Pinguin auf einer Eisscholle mitten in schwarzgrauer, aufgewühlter See, ein Dreimaster unter voller Besegelung im Hintergrund, oder fliegende Fische über weißem Schaumgekräusel und vieles sehr Exotische mehr.
So las er sprunghaft, blätterte voraus und zurück, suchte sich die vielversprechendsten Passagen heraus, an denen er sich dann aber auch so richtig festlas. Dabei fand er sich dann immer besser hinein in den Sprachstil und erschloss sich mehr und mehr von den anfangs dunkel gebliebenen Formulierungen.
Ohne dass er das selbst merkte, begriff er dabei, wie sich Dinge wandelten, verstand etwas davon, was Geschichtlichkeit bedeutete - dass nicht bloß Form, Konstruktions- und Funktionsweise von Schiffen und anderen technischen Gegenständen sich entwickelten, es der Arten, zu essen und zu trinken, zu wohnen, sich zu kleiden, Musik zu machen, viele geben konnte sowohl über die Zeiten als auch über die verschiedenen Weltgegenden hinweg, ja auch im eigenen Kulturraum die Sprache selbst nichts Festes und immer schon so Gegebenes darstellte, sondern Veränderungen unterworfen gewesen war und wohl - wer weiß? - weiterhin sein würde.
Neue Horizonte eröffneten sich ihm und boten seinen Sehnsuchts- und Fernwehphantasien neue Nahrung, stießen, statt ihm die Erde kleiner, weil bekannter vorkommen zu lassen, im Gegenteil die Türen weiter auf, dehnten ihm die Räume, die selbst einmal zu durchmessen es ihn so zog, noch weiter aus; und das nicht nur im geographischen Sinne: auch die Welt der wissenschaftlichen Neugier mit der Bereitschaft, diese auch in Mut erforderndes und abenteuerbereites Handeln umzusetzen, wurde ihm unmerklich näher gebracht; die Welt auch des kritischen Blicks auf das Gefundene und der raumgreifenden, zeitüberschreitenden Reflexion der Erkenntnisse, des eigenen Tuns...
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„Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O Tahiti, 2 Meilen vor uns sahen... ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Vor diesen her lag die Ebene, von tragbaren Brodfrucht-Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet... Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren... Nunmehro fing die Sonne an die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten und die Aussicht begonn zu leben... Es währete nicht lange, so sahe man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, indessen daß andere... ihre Canots ins Wasser stießen und sie mit Landes-Producten beladeten... Die Menge von Canots, welche zwischen uns und der Küste ab- und zu giengen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser dar. Ich fing sogleich an durch die Cajütten-Fenster, um Naturalien zu handeln, und in einer halben Stunde hatte ich schon zwey bis drey Arten unbekannter Vögel und eine große Anzahl neuer Fische beysammen... Die Leute, welche uns umgaben, hatten so viel Sanftes in ihren Zügen, als Gefälliges in ihrem Betragen. Sie waren-“
„He, hier ist er ja. Leute, kommt her, ich hab’ ihn!“ Das war unverkennbar Rudolphs nur zu vertrautes Organ, das ihn da mitten in der schönsten Lektüre unterbrach. „Wie ich’s mir gedacht hatte: Da sitzt der Streber mit einem Buch, und“ - er verstellte seine Stimme kindisch-spottend - „das hat der liebe Herr Lehrer seinem lieben Musterschüler geschenkt!“ - „Gar nicht geschenkt - geliehen hat er’s mir!“ protestierte Johannes, „Und außerdem geht dich das überhaupt nichts an!“ - „Stimmt, kann mir ganz egal sein. Aber jetzt musst du aufhören und mitkommen. Wir haben dich schon überall gesucht.“ Inzwischen hatten sich noch ein paar andere Kinder eingestellt, und alle standen nun um ihn, der immer noch auf seinem Stein saß, herum. „Ja, Hannes, komm, wir wollen noch mal versuchen, auf die Mauer zu klettern, und dafür brauchen wir jeden Mann!“