Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 6
Oh, das war etwas anderes: Wenn man der Mauer mal wieder zu Leibe rückte, dann durfte er wirklich nicht fehlen! Er klappte das Buch zu und schob es unter den Busch - später könnte er ja noch mal wiederkommen und weiterlesen -, sprang auf und schloss sich den Kameraden an. Das Vorhaben hier war ja von genau derselben Entdeckerneugier und demselben Pioniergeist getragen, mit denen die Lektüre dieses Buches ihn impfte.
7. Die Mauer
Im Gehen erklärte man ihm, man wolle eine ganz neue Methode ausprobieren. Die hätten Karl und Rudolph sich einer Truppe von Zirkusleuten abgeschaut, die sie beim Trainieren beobachtet hätten. Man wolle eine Art Menschenpyramide aufbauen, unten die Größten und Stärksten, nach oben die Kleineren und Leichteren, und einer müsse dann das fehlende Stück mithilfe der Efeu- und Weinranken erklettern, die an bestimmten Stellen dieses Jahr sehr dicht, stark und weit nach oben wüchsen.
In einiger Entfernung von der Mauer blieben sie zunächst einmal stehen und blickten dem Objekt ihrer Herausforderung entgegen; und tatsächlich schien es von hier durchaus zu bewältigen: Wenn man sich ein paar Kinder übereinander dachte, dann musste der oberste an eine Stelle heranreichen, wo der Pflanzenbewuchs kräftig genug schien, um wie ein Baum erklettert zu werden, und von dessen höchsten Zweigen schien der Abstand bis zum oberen Rand gar nicht mehr groß.
Als sie dann am eigentlichen Ort des Geschehens ankamen, hatten sich dort so viele Nachbarskinder eingefunden, wie man selten auf einem Fleck zusammen sah. Man hatte wirklich alle herbeigetrommelt, derer man irgendwie hatte habhaft werden können. Ein paar hatten auch schon drei, vier Küchentische aus verschiedenen Häusern herbeigeschleppt und so dicht wie möglich am Fuß der Mauer in eine Reihe aneinandergestellt, um schon mal einen gewissen Vorsprung an Höhe zu gewinnen. Nun teilte man die Anwesenden und eifrig auf den Beginn der Aktion Wartenden in verschiedene Gruppen ein, je nach Alter, Größe, Geschicklichkeit, und dann kletterten die ersten sechs Jungs auf die Tische und stellten sich mit dem Rücken zur Mauer auf. Als dabei die Tische bereits bedenklich ins Schwanken kamen, rief Rudolph, der zu dieser ersten Gruppe gehörte, aber anscheinend auch die Leitung des Unterfangens übernommen hatte, die Mädchen mögen sich auf die Tischränder setzen oder sich so dagegen lehnen, dass sie stabil blieben. Und ein paar von ihnen sollten den jeweils nächsten Kletterern Hilfestellung leisten, halten und schieben und aufpassen, dass keiner fiele. Danach kamen die nächsten an die Reihe, zuerst auf die Tische zu steigen und dann irgendwie zu versuchen, ihren Kameraden auf die Schultern zu klettern. Das erwies sich allerdings schon jetzt als gar nicht so einfach. Doch mithilfe der Mädchen und der Jungen der ersten Reihe, die ihnen Baumleiter machten, klappte es nach einigem Probieren, so dass nun tatsächlich unten auf den Tischen sechs und auf deren Schultern fünf Buben standen und sich krampfhaft an den Zweigen der Kletterpflanzen oder an der Mauer selbst hielten.
„Jetzt die nächsten!“ rief Rudolph. Sehr zögerlich machten sich diesmal vier Jungs daran, die Tische zu erklimmen, die zum Glück dank der Mädchen fest genug standen. Dann sahen sie skeptisch und verzagt nach oben, und einer von ihnen rief plötzlich: „Die Mauer ist höher geworden! Ich schwör’s euch, die ist gewachsen seit vorhin!“
„Ach was“, verwies ihn Rudolph, „du spinnst doch! Wie soll die denn gewachsen sein? Nun stellt euch nicht so an und macht schon voran!“
„Das wird nie was!“ meinte Johannes ungläubig.
„Doch, es muss klappen. Bei den Zirkusleuten ging es doch auch“, widersprach Rudolph.
„Na, die werden ja wohl auch ein Weilchen geübt haben!“
„Jetzt haben wir angefangen, jetzt ziehen wir’s auch durch!“ befahl Rudolph, und der erste Knabe wurde geschoben, gehoben, gezogen, und der nächste, und noch einer, und obwohl die Konstruktion öfter bedenklich wackelte, bekam man es irgendwie hin, und wer einmal oben war, konnte sich durch vorsichtiges Zurücklehnen gegen die Mauer hin einigermaßen Stabilität verschaffen. Alles hielt vor Aufregung den Atem an.
„Wir müssen eine Reihe weglassen, noch eine schaffen wir nicht. Dann muss der Fritz eben früher mit dem Klettern anfangen.“
Der stand, käseweiß und noch kleiner und schmächtiger in sich zusammengeschrumpft als sonst, ein wenig abseits. „Komm, mach schon, Fritz, wir können so nicht ewig stehen!“
Offensichtlich hatte man Fritz für diese Aufgabe bestimmt, da er zwar klein und leicht, aber doch schon älter war als die anderen Kinder in diesem Format, und man ihm deswegen wohl zutraute, überlegter und koordinierter zu handeln als ein Jüngerer. Das zeugte nun nicht gerade von großer Menschenkenntnis auf Seiten der „Expeditionsleitung“, aber da hatte wohl mehr die Wunschvorstellung Pate gestanden als jede realistische Einschätzung.
Als Johannes hörte, dass Fritz diese waghalsige Klettertour unternehmen sollte, hätte er am liebsten protestiert, aber in seiner Position im Fundament der Pyramide, das sicher nicht mehr ewig würde aushalten können, wollte er eine solche Unruhe und Verzögerung lieber nicht riskieren.
Mit abwechselnden Bitten, Drohungen und Ermutigungen brachte die ganze Gruppe Fritz schließlich dazu, an den Tisch heranzutreten, sich aufhelfen zu lassen, und dann ergriff er zitternd ausgestreckte Hände, zog sich in die Baumleitern empor, trat mal vorsichtig und unsicher, mal ungeschickt und grob im Glauben, das Gleichgewicht zu verlieren, auf Schultern, griff in Haarschöpfe oder umklammerte Hälse seiner Kameraden, die, von zusammengepressten Lippen oder verzerrten Mündern abgesehen, gute Miene zum bösen Spiel machten, alles im Sinne der gemeinsamen Sache. Die Untengebliebenen schrien ihm zu, welche Bewegung er als nächstes ausführen sollte: „linkes Bein nach oben, jetzt rechten Fuß nach rechts“, und so fort.
Mit zitternden Armen zog er sich an einem der obersten Jungen hoch, und der riet ihm währenddessen: „Gleich über uns hier ist ein dicker Ast. An dem hältst du dich erst mit einer Hand, dann auch noch mit der anderen fest und ziehst dich hoch auf unsere Schultern. Dann gehst du mit dem linken Fuß auf die äußere Schulter von Otto und dann mit dem rechten auf die andere, und von dort aus kannst du dann in den Zweigen weiterklettern. Wir passen auch gut auf!“ Kalter Schweiß überzog Fritz’ Gesicht und das Zittern war jetzt in seinem ganzen Körper, nicht mehr nur in den Armen. Einzig die Furcht vor der Verachtung der Kameraden und der große Wunsch, Johannes für ein Mal zu beeindrucken, gaben ihm gerade genug Kraft, gegen die Angst weiterzumachen. Doch er spürte das Klopfen seines Herzens bis in den Mund und hatte das Gefühl, es immer wieder hinunterschlucken zu müssen.
Er folgte den Anweisungen der anderen, so gut er konnte, und das hieß langsam, zögerlich, manchmal steckenbleibend, weil er rechtes und linkes Bein verwechselte oder nicht wusste, wohin mit dem Fuß, den er gerade eben unter Aufbietung aller Überwindungskraft angehoben hatte. Die anderen aber halfen wirklich sorgsam und hielten, stützten, dirigierten ihn. Dann stand er auf den Schultern des äußersten Jungen in dieser Reihe, die Hände fest um einen der dickeren Äste geklammert, und setzte den linken Fuß auf einen weiteren stabil scheinenden Ast, zog sich ein Stück weiter nach oben und verließ mit dem rechten Fuß nun auch noch den letzten Kontakt mit der menschlichen Pyramide. Er schaute vorsichtig nach oben - Gott, welch eine Illusion! - durch die Lücken zwischen dem Pflanzengestrüpp konnte er sehen, dass das freie Stück Mauer oberhalb in Wirklichkeit viel zu breit war. Das würde nicht einmal der stärkste, mutigste, geschickteste Kletterer bewältigen können. Es hätte ja gar keinen Sinn, dass er weitermachte, bloß, das würden die anderen ihm nie und nimmer glauben.
Die sahen ihn den Kopf in den Nacken legen und nach oben spähen, dann den Kopf schütteln und nach ein paar Sekunden sehr zögerlich nach einem höheren Ast greifen und mit einem Fuß einen guten Halt suchen. Und nun ging alles sehr schnell: ein Griff, ein Zug nach oben, ein Nachgeben, Sich-Ablösen des Pflanzentriebs von der Mauer, ein kurzer Aufschrei, ein Absacken um ein, zwei Meter unter Mitnahme eines Bündels grünen Gezweigs; dann ein Absturz in Etappen, immer wieder abgebremst von dem Gestrüpp, das aber genauso unaufhaltsam immer wieder mit lautem Knacken, Rascheln und Schleifen unter der plötzlichen Belastung nachgab; es sah aus, als hangelte er sich wie ein Äffchen Stück für Stück, aber blitzschnell nach unten, nur dass es der Freiwilligkeit entbehrte und er keinerlei Kontrolle mehr über den Vorgang hatte. Am Ende fiel er den paar Kameraden, die hinzugesprungen waren, in die ausgestreckten Arme und alle zusammen stürzten sie zu Boden.
Er hatte großes Glück gehabt, weil er nie vollständig den Kontakt mit dem Grünzeug verloren hatte, das ihn zwar recht sehr zerstochen und zerkratzt, dabei aber einen freien Fall aus der doch beträchtlichen Höhe glimpflich verhindert hatte.
Jetzt drängten sich alle um ihn, der noch benommen und vom Schreck erstarrt am Boden kauerte, die meisten froh, dass nichts Schlimmeres geschehen war, nur wenige enttäuscht und böse, dass er sich so ungeschickt angestellt und das ganze Unternehmen zum Scheitern gebracht habe.
„Es wäre sowieso nicht gegangen“, sagte er schwach, als er sich ein wenig erholt hatte. „Wirklich, man wäre nie bis oben hingekommen, ich hab’s genau gesehen!“
Es war seltsam, aber bei allem Versagen, aller vermeintlichen Blamage, trotz der ausgestandenen Angst und trotz der Blessuren, die schmerzten, fühlte sich Fritz in diesem Moment so gut und so selbstbewusst wie schon lange nicht, umringt von den besorgten und erleichterten Freunden - immerhin hatten ja sie ihn in diese Gefahr geschickt und hatte er sich am Ende nicht verweigert, und das Scheitern hatte zu guter Letzt nichts mit seiner furchtsamen Ungeschicklichkeit zu tun gehabt. „Nein, das Stück Mauer über den Pflanzen ist viel zu hoch, das hätten nicht mal eure Zirkusakrobaten hingekriegt!“
Nun hatten sich natürlich alle gleich gedacht, dass das Ganze eine Schnapsidee gewesen war. Das konnte ja auch überhaupt nicht gutgehen!
Aus dem beleidigten Widerspruch vor allem von Seiten Karls und Rudolphs entstand ein hitziges Wortgefecht, während dessen Fritz sich mühsam und leise ächzend erhob, seine Kleider abklopfend und seine Wunden inspizierend sich um sich selbst drehte. Plötzlich rief er: „Oh, seht doch mal! Was ist das denn?!“ Als niemand ihn beachtete, zupfte er das zunächst stehende Kind am Ärmel, bis es sich umwandte, und zeigte auf eine Stelle am Fuß der Mauer nur ein paar Meter schräg hinter ihnen. Das andere Kind hatte ein kräftigeres Organ: „He, Leute, jetzt guckt euch das bloß mal an!“, da unterbrachen sie ihren Disput und schauten hin, wo Fritz schon stand und die Stelle untersuchte.
„Nein, so was!“ und „Das gibt’s doch wohl nicht!“, riefen sie durcheinander, und Johannes stöhnte, halb lachend: „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Da organisieren wir die verrücktesten Kletterpartien, bringen uns halb um mit Zirkusakrobatik, um über die Mauer zu gucken, und hier ist die ganze Zeit einfach eine Tür!“
Durch Fritzens Absturz war hier im unteren Bereich ein ganzes Stück der Pflanzenmatte von der Mauer losgelöst und heruntergerissen worden und hatte wie ein beiseite gezogener Vorhang eine Fläche nackter Wand freigegeben. Und gerade dort befand sich eine kleine unscheinbare eiserne Tür, deren rostige Farbe sich von dem alten Ziegelrot der Backsteine auch noch kaum abhob.
„Dann war sein Unfall ja eigentlich eine richtig gute Sache!“ rief einer; und „ja, die paar blauen Flecken und Kratzer ist es wirklich wert gewesen“, ein anderer. Und schon standen alle aufgeregt und höchst gespannt und sahen zu, wie einer nach dem anderen sich an der Klinke zu schaffen machte - nur, da bewegte sich gar nichts.
„Eingerostet - so ein Mist!“
„Dann müssen wir’s mit Werkzeug probieren.“
Da liefen ein paar, um zuhause nach dem Nötigen zu suchen, und man machte sich mit Scheren, Messern, Schraubenziehern, sogar ein Stemmeisen war aufgetaucht, ans Werk. Man versuchte, das Schlüsselloch, das mit Sand, Erde, Steinchen, Stängeln verstopft war, frei zu bekommen, man suchte eine Stelle, wo der Spalt zwischen Türblatt und Rahmen groß genug war, um das Stemmeisen anzusetzen und die Tür aufzuhebeln - alles vergebens! Es war, als wäre die Eisentür in die Ziegelmauer eingeschmolzen, hätte sich mit ihr zu einer untrennbaren Fläche ohne irgendeinen Ansatzpunkt verbunden - kurz, als wäre sie als Tür eigentlich inexistent, eine Attrappe, eine Täuschung, eine Herausforderung und Verhöhnung zugleich.
Eine ganze Weile mühten sich die Kinder ab und rückten ihr mit allen erdenklichen Utensilien, allen möglichen Ideen zu Leibe, aber schließlich mussten sie einsehen, dass auch hier nichts auszurichten war, und gaben auf.
Die meisten blieben aber noch an Ort und Stelle, standen beisammen und, da ihre Neugier nach wie vor unbefriedigt blieb, ließen sie eben ihren Spekulationen darüber freien Lauf, was sich denn nur hinter der Mauer verbergen könnte. Dabei zeigten sich zwei ganz konträre Fraktionen: die einen hielten sich mit ihren Vermutungen eher an Dinge, die mit nüchternem Realismus einigermaßen vereinbar waren; die anderen sagten sich, wenn man schon nicht wissen könne, wie diese Realität beschaffen wäre, dürfe man ruhig seine Phantasie sich austoben lassen. Und so stellte sich Frieda ein wunderschönes Schloss vor, vielleicht ein Ferienschloss, wo Kaiser und Kaiserin und Prinzen und Prinzessinnen ihre freie Zeit verbrächten. „Warum nicht gleich der Kaiser von China?“, machte Rudolph sich lustig. „Ja, und warum eigentlich nicht?“, gab Frieda zurück. „Kann doch sein, wenn der mal mit seiner Familie zu Besuch ist, darf er dort wohnen und hat eine ganze Heerschar von Dienern und Dienerinnen für sich, und kriegt den ganzen Tag die leckersten Sachen gekocht. Und alles Geschirr und Besteck - und die Waschschüsseln - und ... und die Nachttöpfe sind aus Gold, und die Spiegel aus Silber, und auch die Kutschen sind aus Gold und Silber, und die Vorhänge und Sofas aus Samt und Seide, und überall glitzern Edelsteine, und alles ist herrlich und reich und ...“ - Was im Moment aber vor allem glitzerte, das waren Friedas Augen, denn sie hatte sich richtig in Verzückung geredet.
„Ich stell mir lieber vor, dass dort das Schlaraffenland ist“, meldete sich Karl zu Wort, „wisst ihr noch, aus der Geschichte, die wir mal im Lesebuch hatten? Ach, denkt euch doch: schon allein die dicke Mauer aus Grießbrei, durch die man sich erst durchfuttern dürfte. Und dann: Flüsse und Seen aus Milch und Honig und Saft, die gebratenen Vögel, die einem in den Mund fliegen, die Würste, Brötchen, Kuchen, die man sich von den Bäumen pflücken und aus den Zäunen brechen könnte. Jederzeit genug zu essen und zu trinken, ohne einen Finger zu rühren!“
„Bah, das sind doch alles Kindermärchen!“ meinte Rudolph.
„Womöglich ist ja einfach bloß ein Gefängnis dahinter“, sagte Agnes. „Von dieser Seite her jedenfalls sieht die Mauer eher nach so was aus.“
„Aber dann hätte man das doch längst mitgekriegt“, gaben die anderen zu bedenken.
„Also, ich könnt’ mir vorstellen“, kam endlich Rudolphs Beitrag, „dass da irgendwas ganz Geheimes untergebracht ist, von der Regierung oder vom Militär. Vielleicht Verstecke, wo sich die in Sicherheit bringen können, wenn mal Krieg ist. Oder auch, dass dort was gebaut wird, von dem noch niemand wissen darf, Waffen oder so was... - aber“, unterbrach er sich, „sagt mal, wer ist eigentlich die da?“ und er deutete in Richtung der Häuser, wo in einiger Entfernung ein Mädchen stand und zu ihnen herüber sah. „Die steht da schon 'ne ganze Weile und beobachtet uns.“
Da konnte Karl Auskunft geben: „Die ist heute Morgen mit ihrem Vater bei uns eingezogen, in den Schuppen vom alten Schleifer-Franz, der doch neulich gestorben ist.“
„Sieht aus wie 'ne Zigeunersche“, kommentierte Rudolph mit abschätziger Miene.
„Sagt mein Vater auch“, stimmte Karl zu, „und der Mann erst! Ich weiß nicht, ob ich das so gut finde, die so dicht auf der Pelle zu haben. Aber Papa hat eben die ersten genommen, die kamen, damit er bald wieder Miete kassiert.“
Unter den neugierigen und kritischen Blicken der Nachbarskinder hatte das Mädchen längst wieder kehrtgemacht und war die Straße entlang zwischen den Häusern verschwunden.
„Vielleicht“, griff Agnes das alte Thema wieder auf, „vielleicht gibt’s da auch einfach ein großes Lager für irgendwas, Essen oder so, für schlechte Zeiten, und damit nichts geklaut wird, haben sie so eine hohe Mauer drumrum gebaut.“ - „Na, wie schlecht sollen die Zeiten denn dann noch werden, bevor sie das rausrücken?“
„Aber es könnte doch auch irgendwas viel Schöneres sein, zum Beispiel ein Heim für kranke Kinder oder so was“, war Elsas Vorschlag, „wo sie ihre Ruhe haben sollen, um schnell wieder ganz gesund zu werden. Und dann gäbe es da einen richtig schönen großen Garten mit tollen Blumen und Spielsachen, Schaukeln und so, und irgendwie müsste immer die Sonne scheinen, auch wenn’s auf unsrer Seite regnet oder schneit...“
Jetzt schaltete Fritz sich auch noch ein: „Habt ihr denn eigentlich noch gar nie daran gedacht, dass da das echte Paradies sein könnte? Irgendeinen Grund muss es doch haben, dass unsere Straße so heißt. Dann wäre sicher wirklich immer Sonnenschein, und überall würden Engel rumfliegen, und keiner hätte Sorgen; und vielleicht wären ja die gestorbenen Leute dort und hätten’s gut, Johannes’ Vater zum Beispiel und meine kleine Schwester, die müssen doch irgendwo geblieben sein.“
„Aber Fritz, das war doch anders, du verwechselst da was: In den Himmel kommen die Toten, und das Paradies ist doch das mit Adam und Eva, mit der Schlange und dem Apfelbaum.“ - „Ja, ja, und die Mauern müssen so hoch sein, damit die Schlange nicht rauskann.“ - „Haha, oder damit der Apfelbaum nicht höher werden kann als die Mauer und garantiert nie einer von den Äpfeln auf unsere Seite fällt!“ - „Na, ich dachte ja bloß“, meinte Fritz kleinlaut, „ich hab’ geglaubt, das wäre alles dasselbe.“
So standen sie und spekulierten und diskutierten, und keiner merkte, wie sich der Himmel rasch zugezogen und verdüstert hatte; plötzlich und ohne Vorwarnung klatschten ihnen die ersten dicken kalten Tropfen ins Gesicht, und eh sie sich’s versahen, prasselte schon ein Wolkenbruch herunter, dass es eine Art hatte. Blitzschnell stoben sie alle auseinander und jeder lief, so rasch er konnte, heim.
8. Reue
An diesem Abend lag Johannes ungewöhnlich früh im Bett. So pudelnass war er, trotz des kurzen Weges, zur Tür hereingestürmt, dass die Mutter ihn anwies, gleich die Sachen auszuziehen und sich eine Decke umzuhängen. Sie hatte sowieso gerade am Küchentisch gestanden und die Auftragswäsche gebügelt. Als sie damit fertig war, versuchte sie also, seine Hose und sein Hemd, so gut es ging, trocken zu bügeln, damit sie am nächsten Tag wieder benutzbar wären, und er hatte währenddessen wie ein Indio in seinem Poncho auf einem Schemel am Herd gehockt, wo die Mutter immer wieder das Eisen erhitzte, hatte ihr zugesehen und von den Abenteuern des Nachmittags erzählt, was bei seiner Mutter allerdings ein besorgtes Kopfschütteln hervorrief.
„Hast du übrigens gewusst, dass bei Gulachs neue Untermieter eingezogen sind? Karl und Rudolph sagen, das sind Zigeuner - glaubst du das?“
Die Mutter überlegte kurz: „Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich dachte, die ziehen in großen Sippschaften mit Wohnwagen durch die Gegend. Manche glauben ja auch, sie stehlen wie die Raben. Insofern wäre es nicht so nett, wenn die Gulachs uns Strauchdiebe in die Nachbarschaft gesetzt hätten. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, am Ende werden sie wohl auch nicht schlechter sein als andere Leute.“
Jetzt lag er da und konnte nicht einschlafen. Auf das Dach über ihm und ans Fenster klopften letzte verwehte Regentropfen, nebenan hörte er die Mutter noch räumen und richten. Er dachte noch einmal an das fremde Mädchen, wie es da gestanden und zu ihnen herübergesehen hatte. Sehr dunkelbraune oder schwarze lange Haare hatte sie gehabt, ansonsten war eigentlich an ihr nichts weiter Ungewöhnliches gewesen. Natürlich konnte man aus der Entfernung auch nicht viel mehr erkennen; jedenfalls trug sie keinen kunterbunten weiten langen Rock und keine übergroßen Ohrringe, sondern steckte in genauso einem abgetragenen, unbeholfen geflickten wadenlangen Kleid - Farbe unbestimmt - mit Schürze darüber wie alle Mädchen hier; vielleicht war die Hautfarbe eine Schattierung dunkler als die der meisten Leute, die er kannte, aber Rudolph und er selbst waren auch etwas brauner als zum Beispiel der blasse Fritz oder als Frieda mit ihren fast rötlichen Haaren... Ob sie, die Neue, wohl Lust gehabt hätte, sich zu ihnen zu gesellen, wenn sie nicht so ablehnend zurückgestarrt hätten? - Ein wenig erinnerte ihn die Szene an die exotischen Begegnungen mit den Südseebewohnern aus Herrn Mäuthis’ Buch... - Da saß er blitzschnell kerzengerade und hellwach im Bett: Du lieber Himmel, das Buch! Das hatte er doch vollkommen vergessen, das lag ja noch draußen unter dem Busch am Kanal! Und in all dem Regen! Sein Herz begann wild zu klopfen, ihm wurde ganz schlecht und schwach, und schon kamen ihm auch die Tränen, während er von seiner Pritsche sprang, fast schon im Gehen sich in die noch feuchten Kleider zwängte und durch die Küche zum Ausgang lief. Die Mutter rief ihm nach, wohin er denn noch wolle. „Hab was vergessen“, gab er schon in der Tür über die Schulter zurück und war schon von der Dunkelheit verschluckt. Er ging nur ein paar Meter, da wurde ihm klar, dass er ein Licht brauchen würde und rannte noch mal zurück. Mit einer Laterne machte er sich erneut auf den Weg. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte das aufsteigende Weinen hinunter - noch wollte er die Hoffnung, dass das Gebüsch das Buch ausreichend geschützt haben könnte, nicht ganz aufgeben. Aber wenn er an den heftigen, schweren Guss und den dichten Dauerregen dachte, in den dieser übergegangen war und der doch bestimmt eine Stunde mindestens angehalten hatte...
Die unruhige Flamme seiner Laterne warf ihm eine ständig die Form wechselnde mattgelbe Lichtinsel vor die Füße; mal rutschte sie an einer fleckigen Hauswand nach oben, mal sprang sie durch Torbögen in Hofeinfahrten, strich über Mauerecken und Zaunlatten, schoss an Baumstämmen empor bis in die Kronen und zeichnete zuckende, quicklebendig scheinende Schattenrisse aus den vordergründigen Zweiggeflechten auf die dahinter und darüber liegenden Blätter, streifte über Gräser und struppiges Kraut am Boden, holte das Weidenbäumchen aus der Dunkelheit, fand den Stein, den Strauch daneben, und da - zitterte sie über der Kante eines rechteckigen Gegenstandes.
Er setzte die Laterne ab und zog zwischen nassem Laub, aufgeweichtem, matschigem Boden und tropfenden Zweigen das Buch hervor. Dreimal so schwer war es geworden, und dicker schien es auch in dem unsicheren Licht. Unter dem Druck seines Zugriffs gab es ein leises Schmatzen von sich und Tropfen pressten zwischen den Seiten hervor. Er nahm es auf, so vorsichtig es ging, griff die Laterne und ging zurück. Nun ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wut, ungerechte Wut auf die Kameraden, dass sie ihn nicht hatten in Ruhe lassen können, Zorn auf sich selbst, und Reue, unerträgliche Reue und der heiße Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können - warum hatte er das Buch nicht zuerst nach Hause gebracht? Wie konnte er es einfach so im Gras liegen lassen? Wie sollte er das bloß Herrn Mäuthis erklären? Was würde der sagen? Er sah schon vor sich, wie dessen wohlwollende, freundliche Miene erstarrte und Enttäuschung und kalte Ablehnung sich darauf malten. Wie gut er es mit ihm gemeint hatte und wie er ihm vertraut hatte - das wäre nun für immer vorbei - das Vertrauen hatte er nicht verdient, das Wohlwollen verscherzt...
Schluchzend, das Buch mit einem Arm an sich gedrückt, trat er in die Stube.
„Hannes, was hast du denn? Was ist denn passiert?“ Stumm hielt er der Mutter das Buch hin, die ihn verständnislos anblickte.
„Aber Kind, du musst mir schon erklären, was los ist!“
Als er fertig war mit dem kurzen Bericht und gleich wieder in Tränen ausbrach, sagte sie: „Aber, es ist doch nur ein Buch! Ich dachte wunder, was Schreckliches geschehen sei!“
„Aber verstehst du denn nicht? Er hat es mir doch geliehen, ich hätte es ihm doch heil wieder zurückgeben müssen. Und: ‚nur ein Buch’! - es ist doch so ein schönes und wertvolles, und er hat es so gern gehabt!“
Viel Schlaf bekamen beide nicht in dieser Nacht, denn als ihr die Ernsthaftigkeit von Johannes’ Verzweiflung und auch die Tragweite des Missgeschicks klar wurde, bot ihm die Mutter an zu versuchen, was man irgend vielleicht doch noch reparieren könne.
Die genauere Bestandsaufnahme der Schäden war allerdings niederschmetternd: vollgesogen wie ein Schwamm sperrte das Buch die Deckel auseinander, so dass es am Vorderschnitt das Zwei- bis Dreifache der ursprünglichen Stärke aufwies; die Blätter hatten sich gewellt, und das Wasser, das zwischen ihnen austrat, war verdächtig bunt gefärbt und ließ für den Zustand der prächtigen Farbdrucke das Schlimmste befürchten; die Buchdeckel selbst waren verquollen und hatten sich konkav aufgewölbt, streckten die aufgebrochenen, filzig ausgefaserten Ecken von sich. Vielfach klebten Seiten aneinander und bildeten dicke Blöcke, und beim ersten zaghaften Versuch, eine am Rand zu fassen und umzublättern, riss die Ecke einfach weich und geräuschlos aus. Da verließ Johannes schon der Mut, und er wollte gleich aufgeben. Die Mutter aber hatte Ideen, wie man vorgehen könne, und so arbeiteten sie eine ganze Weile konzentriert und angespannt zusammen.
Schlammspritzer und Grasfetzen entfernten sie vorsichtig mit feuchten Lappen. Sie ließen das Buch sich so öffnen, wie es die zusammenhaftenden Blätter erlaubten, und versuchten von da aus, die übrigen Seiten mit einem Messer voneinander zu trennen; das ging nicht immer ohne weitere Schäden ab; an manchen Stellen war das Papier so weich geworden, dass es sich einfach in kleinen Fetzen löste; es blieben Stücke an der einen Seite hängen, und die andere behielt ein Loch; oft auch hinterließ der Druck der einen Seite eine schattenhafte Spur auf der anderen, so dass ein unentzifferbares Zeichenwirrwarr entstand. Besonders Johannes passierten diese Dinge immer wieder, zu sehr zitterten ihm die Hände in seiner Aufregung und Ungeduld, den Schaden ungeschehen zu machen. Irgendwann meinte die Mutter, es hätte so doch keinen Sinn, zuerst müsse das Papier etwas trockener werden. Sie steckten einen Holzstab vorsichtig zwischen Rücken und Block hindurch und hängten das Buch so, die Seiten nach unten, in die Nähe des wieder entfachten Herdfeuers.
Nun schickte die Mutter den Jungen ins Bett und versprach, selbst aufzubleiben und ihr Bestes zu tun. Nach einigem Widerspruch gab er nach und legte sich hin. Doch verbrachte er die Stunden bis zum Morgen zwischen wachem Gram und aufgeregten, ereignisreichen Träumen. Da sah er hilflos zu, wie Fritz, behindert durch ein dickes, schweres Buch, das er mit einem Arm festhielt, an einer Mauer hinaufkletterte, den Halt verlor und in die Tiefe stürzte; dabei entglitt ihm das Buch und löste sich in Hunderte einzelner Blätter auf, die alle nach und nach hinabtaumelten und in den Kanal fielen; er rannte hin und konnte nur noch zusehen, wie sie langsam tiefer und tiefer unter das Wasser sanken, wobei Schrift und Bilder sich allmählich auflösten, Blumen, Vögel, Bäume ihre Konturen verloren und schließlich nur noch als formlose Farbschlieren im Wasser schwebten. - Er stand mit furchtsam aufgerissenen Augen vor Herrn Mäuthis, der mit böse entstelltem, immer höher, größer und bedrohlicher über ihm ragendem Blick zurückstarrte, während sich sein Gesicht in dasjenige seines Vaters verwandelte, dann mit verurteilender Ablehnung den Kopf schüttelte und ihn schließlich, sich auflösend wie vorher die Bilder aus dem Buch, allein zurückließ. - Er stand unten am Ufer, aber anstelle des Kanals lag da das Meer vor ihm, um ihn her ein Wald aus unvertrauter Vegetation; in einiger Entfernung ein rasenbewachsener, baumbeschatteter Platz; zwei Kinder machen sich dort mit etwas zu schaffen, ein Junge und ein Mädchen; er geht zögernd auf sie zu, da erkennt er Fritz in dem Jungen, das Mädchen aber ist ihm fremd, nur lange dunkle Haare kann er ausmachen; die beiden legen etwas ab auf dem Gras, nehmen sich bei den Händen, drehen sich halb nach ihm um, lächeln ihm zu und gehen zwischen den Bäumen davon; er läuft zu dem Gegenstand und hebt ihn auf, da ist es das Buch, ganz wiederhergestellt und wie neu. Er durchblättert die Seiten, und sie erscheinen ihm nun noch viel schöner, viel leuchtender, viel beglückender als sie es je gewesen waren...
Als er aus diesem versöhnlichen Traum erwachte, war er umso verzweifelter im Bewusstsein von der Unmöglichkeit eines solchen Wunders. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr er die unerbittliche Notwendigkeit, die Konsequenzen des eigenen Handelns auszuhalten und durchzustehen. Bitter wurde ihm das, sehr bitter, und schweren Herzens kroch er unter der warmen Decke hervor - wenn er doch über Nacht todkrank geworden wäre! Dann hätte die Sache mit dem Buch doch sicher gleich eine geringere Bedeutung? -, machte sich im Morgengrauen fertig und hoffte, dass Mutter nicht wach würde - er war heute viel früher auf als sonst, und sie hatte sicher noch bis tief in die Nacht hinein gearbeitet.
In der Stube war es zu dunkel, um sich ein Bild vom Resultat der nächtlichen Bemühungen zu machen; aber er war sowieso sicher, dass, was immer Mutters Geschicklichkeit bewirken konnte - und der traute er schon einiges zu - das Buch ruiniert bleiben und nichts ihm die Notwendigkeit einer Beichte bei Herrn Mäuthis abnehmen würde.