Kitabı oku: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist», sayfa 7

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Er war heute der Erste bei der Abholstelle der Zeitung, erledigte das Verteilen in fiebriger Hast und erreichte das Schulhaus lange vor Beginn der ersten Stunde. Es gelang ihm auch, obwohl dies gegen die Regeln verstieß, sich bereits Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Er wusste, dass Mäuthis immer schon früh da zu sein pflegte, und bat den Pedell, ihm auszurichten, dass er ihn sprechen müsse.

Er wartete in dem schwach beleuchteten Winkel des Korridors, der zum Verwaltungstrakt führte, den vor Nervosität halbblinden Blick nach unten gerichtet, wo er in dem schwarz-weiß-grauen Gewimmel des Granitfußbodens ertrank und nur an den geradlinigen schwarzen Zierbändern, die die Ränder säumten, immer wieder ein wenig Halt fand. Dann starrte er, wie es ihm schien, eine herzklopfende Ewigkeit lang auf die schwere, dunkle Holzschwingtür und wusste nicht, ob er sich wünschte, irgendetwas möge geschehen, das das Bevorstehende unnötig, unmöglich machen oder wenigstens aufschieben würde, oder doch lieber, dass er es so rasch wie möglich hinter sich bringen möge. Dann wurde die Tür immer noch viel zu bald aufgestoßen mit hörbarem Luftzug, schwang noch ein paarmal mit nachlassenden Schlägen hin und her, während Herr Mäuthis ihm mit fragender Miene entgegenkam.

Mehrere Anläufe brauchte er für seine Beichte, wusste plötzlich nicht, wo anfangen, brachte nur gestammelte Satzfetzen hervor, bis Mäuthis ihn unterbrach: „Tut mir leid, Junge, aber ich hab gar nichts verstanden. Nun beruhige dich doch erst einmal, und dann fang noch mal von vorne an.“ Da nahm er sich zusammen: „Das Buch... Ihr Buch - ich hab’s...“ - „Na, was denn - verloren?!“ - „Nein. Es ist... kaputt!“ Und dann schaffte er es doch endlich, die Geschichte einigermaßen zusammenhängend zu erzählen. Herrn Mäuthis Gesicht wurde tatsächlich ernst, und ein Ausdruck von Enttäuschung lag darin. „Ja, nun zeig es mir doch einfach mal. Vielleicht ist es ja auch nur halb so schlimm.“ Johannes schüttelte den Kopf. „Ich hab es nicht hier, es ist zuhause. Wir haben, Mutter und ich, in der Nacht versucht, zu retten, was zu retten ist. Ich weiß nicht, wie es jetzt genau aussieht, aber es wird ganz sicher nicht mehr heile!“ Tränen liefen ihm jetzt über die Wangen, und in den Augen stand eine so tief empfundene traurige Reue, dass sich schon wieder Mitleid in den Groll des Lehrers mischte.

„Die schönen Bilder! Die Farben sind verlaufen, überall sind Flecken, und das geht nicht mehr weg, auch wenn es mal ganz trocken ist... Es tut mir so leid! Aber, ich will es ersetzen, ich werd sparen, ich werde mehr arbeiten, bis ich es Ihnen wieder kaufen kann!“

„Nun pass mal auf, Johannes“ - die Stimme klang zwar etwas reservierter als sonst, aber doch nicht ganz so streng und kalt, wie der Junge es befürchtet hatte. „Ich muss jetzt leider noch mal zum Rektor, bevor der Unterricht beginnt. Wir sprechen später noch mal drüber, ja? Wir sehen uns dann in der Klasse. - Und: lass den Kopf nicht hängen! Wir finden schon eine Lösung.“

Als Herr Mäuthis wenig später ins Klassenzimmer kam, brachte er eine neue Schülerin mit - das fremde Mädchen von gestern. Er stellte sie vor - „Das ist Nomi Beatritsch. Sie ist gerade erst ins Viertel zugezogen und wird ab heute mit uns lernen“ - und wies ihr einen freien Platz in der Mädchenhälfte zu. Alle Köpfe drehten sich und Getuschel breitete sich aus. „Ruhig, Kinder!“, mahnte der Lehrer, „Freundschaft schließen könnt ihr in der Pause noch!“

Den ganzen Vormittag über hatte Johannes den Eindruck, Herr Mäuthis beachtete ihn demonstrativ weniger als sonst, und er litt schrecklich unter dem Bewusstsein seiner Verfehlung und dem obsessiven Gedanken, ein für alle Mal in Ungnade gefallen zu sein. Die Stunden krochen quälend dahin, er wünschte sich weit weg und außer Sichtweite, sehnte das Läuten der Glocke zum Schulschluss herbei, und hatte doch auch wieder Bauchgrimmen, wenn er an die Fortsetzung der Aussprache dachte.

Mäuthis' Aufforderung, bis zur Pause zu warten, um mit der neuen Schülerin Freundschaft zu schließen, war wohl mehr eine verkappte Ermahnung, ein indirekt geäußerter Wunsch gewesen. Von Freundschaft-Schließen konnte während der Hofpause denn wirklich keine Rede sein. Das Mädchen hatte erst gar keine Anstalten gemacht, sich zu den anderen zu gesellen; sie hatte wohl nach deren Blicken und Getuschel und nachdem ihre Banknachbarin demonstrativ ein Stück weggerückt war, als sie sich zu ihr setzte, nicht viel Entgegenkommen erwartet und sich gleich in eine Ecke des Hofs zurückgezogen, wo sie jetzt mit einer Schulter an der Mauer lehnte und abwechselnd mal zu Boden und mal verstohlen und scheu zu den lärmenden, rennenden, streitenden oder schwätzenden Gruppen hinüber sah.

Bald waren ihr jedoch einige ihrer Klassenkameraden gefolgt, und die verteilten sich jetzt in einer interessanten geometrischen Konstellation um sie her: Der Abstand und die Haltung jedes Einzelnen zu ihr waren offensichtlich ein mathematisches Resultat aus den Faktoren Neugier, Sympathie, Ablehnung, Aggression beziehungsweise ihrem jeweiligen Grad der Ausprägung.

Da gab es eine äußere Runde der eher mäßig Interessierten, die aber auf dem Laufenden sein wollten und sich hauptsächlich untereinander beredeten, nur hin und wieder einen Blick in Richtung des Mädchens werfend. Hier fand sich Frieda in eifrigem Klatsch mit ein paar Freundinnen.

Etwas näher standen solche, die wohl noch nicht recht wussten, welche Stellung sie einnehmen sollten; die hatten einen Punkt auf der Mitte zwischen Anziehung und sicherer Entfernung eingenommen, musterten das Mädchen unschlüssig und skeptisch und blieben ansonsten inaktiv - zu denen gehörten Fritz und Agnes.

Ganz außen kreisten ein paar Spaßvögel, die mit Fingern auf das fremde Kind wiesen und sich gegenseitig in die Seite stupsten, offensichtlich dabei irgendetwas Ehrenrühriges äußerten und dann in schallendes, gemeines Gelächter ausbrachen, dann aber bald sich wieder ihren Spielen zuwandten.

Nur wenige einzelne hatten sich bis innerhalb des ersten Zirkels angenähert, darunter Karl, Rudolph und Elsa; unter denen gab es diejenigen, die mit grobem Spott und bösartigen Schmähreden, laut und deutlich in Hörweite des Mädchens geäußert, ihrer Verachtung Luft machten; so rief Rudolph: „Die stinkt, sie ist dreckig, das hat Erika gesagt - die Arme! Der Mäuthis sollte die besser allein an ein Pult setzen, das kann man doch niemandem zumuten!“ Und Karl, dessen unmittelbare Nachbarn sie und ihr Vater ja seit zwei Tagen waren, stimmte ein: „Genau! Und außerdem: der Vater ist ein Galgenvogel, das sieht man ja schon von weitem, da wird die Tochter auch nicht besser sein!“ Andere dagegen fühlten sich von der eher gefühlten als tatsächlich wahrnehmbaren Fremdheit und der unaufdringlichen Scheu der Neuen eher angezogen in einer Art wohlwollender Neugier. Zu denen gehörte Elsa, die die beiden gleich empört zurechtwies: „Ihr seid ja so gemein! Lasst sie doch in Ruhe, die hat euch doch gar nichts getan! Und schaut euch doch bloß mal an: ihr seid doch selber dreckig!“ Und zu dem Mädchen selbst: „Hör bloß nicht auf die. Die sind immer so, nicht nur zu dir. Die können wohl einfach nicht anders.“

Nur Johannes hatte sich keiner dieser Gruppen und Kreise angeschlossen. Er stand, wenn auch ganz in der Nähe, genauso abseits wie die Neue und war viel zu sehr in seine eigenen Sorgen eingesponnen, um sich an irgendetwas zu beteiligen. Auch er lehnte an der Mauer, die Hände in den Hosentaschen, scharrte mit einem Fuß flache Streifen in den festgestampften Sandboden und kaute an seinem Kummer. Nur als die Stimmen um das Mädchen laut wurden, sah er kurz hinüber und vergaß für einen Moment seine eigene Situation im Gedanken daran, in was für einer unangenehmen Lage sie sich da befand. „Noch jemand, der den Schulschluss kaum erwarten kann und sicher am liebsten sonst wo wäre!“, dachte er.

Nachdem die Glocke zum letzten Mal für diesen Vormittag geläutet hatte und Herr Mäuthis zunächst noch kurz mit der Neuen gesprochen hatte, war endlich Johannes an der Reihe.

„So, jetzt können wir besser über die Sache reden. Ich fürchte, heute Morgen war nicht Zeit genug und Ruhe, wahrscheinlich war ich auch etwas unvorbereitet und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte.“ - „Aber ich hab ja damit gerechnet, dass Sie sehr böse sein würden“, sagte er kleinlaut.

„Na, böse vielleicht nicht gerade. Ein bisschen ungehalten war ich schon zuerst, und vor allem enttäuscht - ich hätte einfach gedacht... na, lassen wir das; ich sehe ja, wie ernst du es nimmst und wie leid es dir tut; und das bestätigt mir eigentlich, auch wenn das Buch nun einmal hin ist, dass ich mich doch nicht so sehr in dir getäuscht hatte. Und glaub mir, jedem von uns sind ja doch schon solche Dinge passiert, die wir hinterher am liebsten ungeschehen gemacht hätten, und niemand hat in jedem Moment seine Handlungen mit allen ihren Folgen sicher im Griff. Und wenn dann dabei nicht mehr passiert, als dass ein alter Wälzer sich im Wolkenbruch auflöst, kann man eigentlich froh sein.“ So versuchte Herr Mäuthis, ihn zu trösten und aufzumuntern.

„Aber es ist - war - doch kein ‚alter Wälzer’! Es war bestimmt das tollste Buch auf der ganzen Welt. - Und ich war auch noch überhaupt nicht fertig... Nicht wahr, am Ende sind sie doch heil wieder zurückgekommen, oder?“

Sein Lehrer schmunzelte, auch im Bewusstsein, dass seine „Therapie“ zu wirken begann. „Na, die Frage kannst du dir aber sicher selbst beantworten, wenn du etwas nachdenkst. - Aber, hör zu, Johannes: Dass du mehr arbeitest, um die Sache gut zu machen, das möchte ich nicht. Mir ist es wichtiger, du verwendest deine Zeit und Kraft auf das Lernen, solange das noch geht, und wenn du den ganzen Tag Zeitungen austrägst oder so, wird daraus nichts. Ich wünsche mir stattdessen, dass du versuchst, das Buch so gut du kannst zu reparieren, und es mir dann so zurückbringst, wie du es eben hinbekommen hast.“

Johannes schaute ungläubig und wollte protestieren - „Kein Aber, mein Junge, so machen wir das. Ich würde sagen, das ist ein klassisches Lehrbeispiel zum Thema ‚Das Beste aus etwas Unabänderlichem machen’. So, und nun spring nachhause zur Mittagssuppe, oder was immer du da hoffentlich jetzt kriegst. - Ach, und noch was wollte ich sagen: Ich fand es ganz großartig von Dir, dass du gleich gekommen bist und zugegeben hast, was passiert ist!“

Auf dem Weg nachhause hatte er das Gefühl, als lockere sich in seinem Inneren ein für unauflöslich gehaltener Knoten, der ihm seit gestern Abend die Luft abgeschnürt und ihn zugleich unerbittlich niedergehalten hatte. Allmählich schien er sich wieder aufrichten und durchatmen zu können, mit einem Gefühl glückseliger, aber immer noch auch schwermütiger Erleichterung. Und in dem Auftrieb, den ihm dieses Gefühl gab, beschloss er fest, sich alle erdenkliche Mühe zu geben mit den Reparaturversuchen. Und wer weiß, vielleicht könnte er ja doch heimlich auf einen neuwertigen Ersatz sparen und seinen Lehrer eines Tages damit überraschen. „Wenn Vater noch leben würde“, dachte er dankbar, „dann wäre er bestimmt so wie Herr Mäuthis.“

Ungefähr eine Woche später nahm er das Buch mit in die Schule, und in der Pause brachte er es nach vorne zum Lehrerpult. Wie neu, so wie in seinem Traum, war es natürlich bei weitem nicht: Die farbigen Tränenspuren an allen Seiten waren geblieben, die „Maulsperre“ war nur geringer geworden, die Spuren der Schlammspritzer am Leineneinband hatten sie nicht völlig zum Verschwinden bringen können. Im Inneren gab es immer noch Stellen, wo die Folgen der ersten ungeschickten Versuche nicht mehr zu beseitigen gewesen waren. Bei den Farbdrucken waren manche ganz und gar verschmiert, andere hatten lediglich „aquarellartige“ Verziehungen oder geisterhafte Doppelungen erlitten. Alles in allem aber hatten Mutter und er eindeutig gute Arbeit geleistet.

Und Johannes hatte Mäuthis‘ Auftrag durchaus richtig verstanden und es sich nicht nehmen lassen, den größten Teil der Arbeiten selbst zu verrichten. Mutter hatte ihm gezeigt, wie man mit dem Bügeleisen umgehen müsse, und gleich am ersten Tag hatte er umsichtig und unter ihrer überwachenden Anleitung die Seiten zwischen Baumwolltüchern glatt- und die restliche Feuchtigkeit herausgebügelt. Wo immer möglich hatten sie ausgerissene Stücke Papier wieder in die richtigen Stellen eingepasst und festgeklebt. Das Ergebnis war, dass man in dem Buch wenigstens zu Teilen wieder ungehindert lesen konnte, dass man viele der Illustrationen immer noch mit Freude betrachten, bei anderen wenigstens in der Vorstellung den ursprünglichen Zustand wiederherstellen konnte.

Als er es seinem Lehrer reichte, wurde er wieder rot vor Scham und Schuldbewusstsein. „Hier ist es nun, besser werden wir es wohl leider nicht mehr hinkriegen.“

Herr Mäuthis nahm es entgegen, betrachtete es eingehend von allen Seiten, blätterte darin und meinte: „Oh je, ich glaube, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie es zu Anfang aussah. Da habt ihr ja eine Höchstleistung an Geduld, und auch an Geschick übrigens, vollbracht!“ Er legte es in ein Fach seines Pults, nickte dem Jungen freundlich zu und schickte ihn zu den anderen in den Pausenhof.

Am nächsten Tag jedoch überreichte er Johannes das Buch und machte es ihm zum Geschenk. „Als Andenken, und damit du, so weit möglich, noch lesen kannst, wie sie die Reise um die Welt am Ausgangspunkt vollenden.“

9. Nomi

An dem Verhältnis der Schul- und Nachbarskinder zu dem neu zugezogenen Mädchen änderte sich auch in den nächsten Zeiten nichts Wesentliches. Nach und nach wurden ein paar Einzelheiten über sie bekannt. So hatte Herr Mäuthis gleich an ihrem zweiten Schultag die kleine Selbstvorstellungsprozedur nachgeholt, wie er sie am Anfang mit der ganzen Klasse praktiziert hatte. Dabei war aber deutlich zu spüren gewesen, dass sie wenig dazu aufgelegt war, über sich und ihre Familienverhältnisse zu berichten. Dass sie allein mit ihrem Vater lebte, hatten wenigstens die Kinder ihrer Straße sowieso schon mitbekommen. Nun erfuhr man, dass sie wirklich Halbwaise war und auch keine anderswo lebenden Geschwister hatte. Der Frage nach dem Beruf ihres Vaters wich sie aus, und Mäuthis zog es denn auch vor, nicht weiter zu insistieren. Elsa allerdings wollte sich nicht so schnell zufrieden geben und bat darum, auch noch etwas fragen zu dürfen. Es ließ ihr keine Ruhe, dass man munkelte, die beiden seien "Zigeuner". Das Mädchen schüttelte aber den Kopf - „nein, sind wir nicht“, widersprach sie. „Aber wieso hast du dann diesen komischen Namen?“ beharrte Elsa. Das wusste sie eigentlich selbst nicht. Ob es nicht eher ein osteuropäischer, ein slawischer, oder auch ein italienischer Name sein könne, schaltete sich der Lehrer ein. Vielleicht sei ja ein Ur-Ur-Ur-Ahne dereinst von irgendeinem anderen Land zugewandert; aber schon an der eingedeutschten Namensschreibung könne man ablesen, dass das schon sehr lange her sein müsse und dass also die Familie inzwischen längst als deutsch gelten dürfe.

Den Nachbarn in der Straße fiel auf, dass der Vater wenig und unregelmäßig zuhause war - und man war sich einig, dass man das nicht gerade bedauerte. Man vermutete auch stark, dass die Tochter selbst noch weniger Anlass hatte, sich das anders zu wünschen. Auf der einen Seite fast ausschließlich sich selbst überlassen und nur sporadisch mit wenig Barem versehen, um sich irgendwie durch den Alltag zu wursteln, den kleinen Haushalt mehr schlecht als recht in Ordnung zu halten und mit dem Nötigsten zu versorgen, schienen ihr, wenn man den Berichten von Karls Mutter glauben durfte, schreckliche Szenen vorbehalten, wenn der Mann zuhause war. Besoffenes Gebrüll, Tobereien, umherfliegende Gegenstände, Prügel - man mochte sich gar nicht wirklich genauer ausmalen, was da während dieser lärmenden Auftritte vor sich ging. Dabei, so Frau Gulach, hörte man fast immer nur den Vater, das Kind gab kaum jemals einen Laut von sich, und wenn aber doch einmal, dann stünden einem die Haare zu Berge - „Eines Tages steht die auch mal nicht wieder auf!“, meinte sie.

Dass der Mann auf irgendeine ehrliche Weise Geld verdiente, konnte sich keiner vorstellen; man wusste nicht, hatte aber natürlich genügend Phantasie, um sich auszumalen, was er in den Zeiten seiner Abwesenheiten trieb. Frau Gulach machte ihrem Mann schon dauernd Vorwürfe, dass er nicht besser hingesehen hatte, als er die beiden einziehen ließ, und er solle sie doch wieder hinauswerfen. Das war aber nicht gut möglich, weil sie die Miete für den armseligen Verschlag gleich zu Beginn für einige Zeit im Voraus bezahlt hatten.

Zu den Leuten ihrer neuen Umgebung verhielt sich das Mädchen weiterhin still, scheu zurückgezogen, war in ihrer Distanziertheit aber auch nie provokant, beleidigend oder aggressiv, sondern antwortete, wenn sie angesprochen wurde, zwar kurz, aber freundlich; nur zu Fragen nach ihrem Vater schwieg sie sich beharrlich aus. Es war, als nehme sie ihre Außenseiterrolle einfach passiv, frag- und klaglos an. Wie am ersten Tag sah man sie immer wieder einmal die Spiele der anderen Kinder aus der Ferne beobachten. Und bei denen riefen die etwas geheimnisvollen Besonderheiten ihrer Umstände zusammen mit ihrer friedlichen Abseitshaltung die verschiedensten Einstellungen hervor: distanzierte Neugier paarte sich bei den einen mit Geringschätzung, Ablehnung oder einer schnippischen Gleichgültigkeit, bei anderen mit einer passiven Bereitschaft zu Wohlwollen, freundlicher Anteilnahme, oder gar mit einem gewissen Wunsch nach Annäherung, der aber mangels Ermutigung von ihrer Seite folgenlos blieb.

Rudolph beispielsweise sah durch diese Mischung aus Andersartigkeit, Unabhängigkeit und scheinbarer Schwäche in ihr einen interessanten Ersatz für sein Lieblingsopfer Fritz, dessen Reaktionen auf seine kleinen Sticheleien und verbalen Quälereien inzwischen so bekannt und vorhersagbar waren, dass sie ihren Reiz zu verlieren begannen. Hier war nun ein Objekt, an dem man seine Fähigkeiten erweitern und verfeinern konnte. Den wunden Punkt galt es zu finden, mit dem man diese stille Dulderin - oder war es wirkliche Unempfindlichkeit? - treffen und zu irgendeiner Gefühlsäußerung provozieren konnte. Bisher war ihm das überhaupt noch nicht gelungen. Die Themen Reinlichkeit oder Zigeunertum - das letztere ließ er sich trotz Nomis anderslautender Auskunft nicht ausreden - schienen spurlos an ihr abzuprallen, und statt sich getroffen zu zeigen und zurückzuschimpfen oder zu heulen, maß sie ihn lediglich mit ihren dunklen Augen; in denen ging zwar irgendetwas vor, das aber hatte mit dem von ihm gewünschten Effekt ganz offensichtlich gar nichts zu tun, was ihn aber erst recht gegen sie aufbrachte und zu erneuten Angriffen anstachelte.

Der Lehrer seinerseits suchte, sie hin und wieder unauffällig in Schutz zu nehmen und zu fördern. So hatte er gelegentlich, wenn sich bei dem Mädchen erstaunliche Kenntnislücken offenbarten, die Klasse aufgefordert, es mögen sich doch Mitschüler finden, die ab und zu einmal mit ihr zusammen lernen, ihr bei den Hausaufgaben helfen würden. Als er nur murrende Protestlaute zu hören bekam und auch Nomis Gesicht anzusehen war, dass ihr das eher peinlich gewesen wäre, ließ er es dabei bewenden.

Mit der Zeit bekam das Phänomen Nomi seinen festen Platz, und im gleichen Zuge erlahmte auch das Interesse daran - ein Kind, von dem man nicht viel wusste, das einem in Maßen leid tat, mit dem sich im Übrigen nicht viel anfangen ließ und an dem sich lediglich in einer zum Ritual werdenden Obsession der Gruppenchef die Zähne ausbiss.

An einem Frühlingsmorgen, der sogar diese steinernen Großstadtschluchten mit einer lauen Brise blütenduftend durchstrich, waren Agnes und Elsa gemeinsam auf dem Weg zur Schule. Als sie an einem Trümmergrundstück vorüberkamen - hier war vor längerer Zeit ein altes Wohnhaus abgerissen worden, und die Ruine lag nun in all der zutiefst deprimierenden Trostlosigkeit, die den Dingen eignet, wenn sie, ihres Zusammenspiels mit Lebendigem verlustig gegangen, als Überreste eines ausgeweideten Kadavers in halbvollzogener Auflösung sich mit der Umgebung vermischen, inmitten eines allmählich verwildernden und die schlammverspritzten Tapetenreste, die modernden Hausratsbruchstücke und schimmelnden Stofffetzen mit Spinnennetzen und Vogelkot, Brennnesseln und Dornenranken überziehenden Stadtgartens -, da tauchte hinter einer teilweise stehen gebliebenen Mauerecke Nomi auf, die gerade auf den Gehweg hinaustreten wollte und dabei fast mit den beiden zusammengestoßen wäre. Sie hatte irgendetwas in den Händen und nestelte damit in ihren langen offenen Haaren herum. Als sie ihre Klassenkameradinnen bemerkte, hielt sie, sichtlich verlegen, damit inne und hätte den Gegenstand am liebsten schnell hinter ihrem Rücken verborgen, wenn es dafür nicht schon zu spät gewesen wäre.

„He, Nomi! Was hast du denn da? Zeig doch mal!“, bat Elsa.

Da hielt sie den beiden eine Blume hin: eine einzelne Rose an kurzem Stiel, eine frische, eben aufblühende Knospe, die zahllosen eins ins andere gebetteten weißen Blütenblätter sich gegenseitig stützend und gegen die Außenwelt schützend ineinander und umeinander geschmiegt, nur erst ein paar der äußersten sich dieser neugierig und lebensdurstig mit zaghaft halbgeöffneten Lidern zuwendend, und in einem aus den späten Nachtstunden übriggebliebenen perlrunden Tautropfen das hellblaue Himmelslicht mit ihrer eigenen zart goldgelben Äderung zu einem sphärisch vergrößerten Bild verbindend.

„Wo hast du die denn her?“, fragte Agnes.

„Hier, in dem Garten hinten, zwischen allem möglichen Gestrüpp, da wachsen ganz große Büsche davon. Hab ich neulich gefunden, als ich geschaut hab, ob’s hier noch Brennholz gibt.“

„Ja, aber, bist du jetzt extra da reingegangen, um die zu holen?“, fragte Agnes verständnislos, in deren Leben, wie für die meisten hier, Blumen als überflüssiger Luxus keinen Platz hatten. „Du hast dich ja sogar zerkratzt, und Brennnesseln gibt’s da sicher auch!?“

„Ich find sie soo schön!“, sagte Nomi einfach in ihrer leisen Art. Agnes schaute ihr ins Gesicht und spürte plötzlich Tränen in den Augen und eine Enge in der Kehle - sie hätte nicht zu erklären vermocht, warum, wusste nicht, dass sie in dem Moment - und nur für diesen kurzen Moment - die Verwandtschaft zwischen ihren eigenen Lebensumständen und denen des fremden Mädchens empfand, und gleichzeitig damit aber auch den entscheidenden Unterschied: dass es ihr nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre, der Schäbigkeit und Freudlosigkeit ihres Alltags auf so einfache oder auf sonst irgendeine Weise ein Stück heilender Schönheit entgegenzustellen.

„Da, nimm doch, ich schenk sie dir.“ Nomi reichte ihr die Blume kurzerhand hin. Agnes schüttelte den Kopf: „Nein, behalt sie nur. Aber danke, du bist wirklich nett.“ Und Elsa meinte: „Du wolltest sie dir doch ins Haar stecken, oder? Mach das doch, das sieht bestimmt hübsch aus!“

Nomi wurde rot und lenkte ab: sie wollten sich lieber beeilen, sonst kämen sie noch alle drei zu spät zur Schule.

Von nun an sah man sie fast jeden Tag mit einer weißen Rose. Manchmal hatte sie sie tatsächlich im Haar, was ihr natürlich sofort wieder Neckereien eintrug, manchmal hielt sie sie nur in der Hand oder legte sie vor sich auf das Pult.

Johannes hatte von Anfang an zu denen gehört, auf die das geheimnisvolle Mädchen eine starke Anziehungskraft ausübte. Gesprochen hatte er mit ihr so gut wie gar nicht, höchstens einmal hier und da ein knapper Gruß, wenn er ihr irgendwo begegnete; ansonsten ein Kreisen in respektvollem Abstand um einen magnetischen Mittelpunkt, und auch das eher im Geiste als in der körperlichen Wirklichkeit. Die Andeutung von Exotik und Unbestimmbarkeit, die sie umgab, war so ganz dazu angelegt, sein Interesse zu wecken. Jetzt, durch ihre neue „Rosenmanie“, wurde das nur noch verstärkt. Nicht nur hatte Elsa vollkommen recht gehabt und sah die fragile weiße Blüte in dem nachtdunklen Haar wirklich sehr hübsch aus; sie stellte auch einen Punkt mehr dar, in dem sich Nomi von all den anderen Mädchen unterschied, die er bisher gekannt hatte. Alle, oder doch die meisten, waren - in seinen Jungenaugen höchst übertrieben - darauf erpicht, sich herauszuputzen mit solchen Mitteln, derer sie eben habhaft werden konnten. Billigen Glitzerkram luchsten sie vielleicht ihren Vätern oder Brüdern ab, die damit handelten, oder, falls sie selbst solche Dinge auf der Straße feilboten, behielten sie für sich zurück, was etwa ein bisschen kaputt war; Haarspangen mit Glassteinen, vielleicht ein Ohrring, ein Armreif, oder wenigstens eine schöne bunte, möglichst große Schleife wurden stolz den Freundinnen vorgeführt und von ihnen gebührend bewundert, besser noch geneidet. Keiner von ihnen wäre es eingefallen, sich einfach nur eine Blume abzupflücken und mit dieser den Haarschopf zusammenzuhalten, und das auch noch eher, weil sie mindestens genauso viel Gefallen daran gefunden hätten, sie abzunehmen und anzuschauen wie sich selbst damit zu schmücken. Und Nomi erntete auch genügend Naserümpfen und hämisch-mitleidiges Getuschel aus der dreizehnjährigen Damenwelt. Johannes jedoch betrachtete dies ausgefallene Gebaren fasziniert und fand, es füge den vielen Mysterien um das Mädchen ein weiteres hinzu.

Und dann beobachtete er eines Tages eine Szene, die das Rätsel Nomi noch rätselhafter machte.

Er ging eine Straße nicht weit von Zuhause entlang, als aus der Gegenrichtung auf dem anderen Trottoir Rudolph gelaufen kam, so schnell ihn seine Beine trugen und dabei immer wieder sich umwendend, als sei der Teufel hinter ihm her. In einiger Entfernung auf seiner eigener Straßenseite war Nomi stehen geblieben und blickte hinüber. Rudolph hatte offensichtlich weder sie noch ihn gesehen, schlug einen Haken und verschwand in einem Hofdurchgang. Im gleichen Augenblick tauchten um die nächste Straßenecke zwei große Jungen, fast schon eher junge Männer auf, rannten auf Nomi zu und fragten sie etwas, beinahe ohne im Lauf innezuhalten. Johannes sah, wie sie geradewegs in die falsche Richtung wies, als wolle sie Rudolph helfen, seinen Verfolgern zu entkommen. Dann ging sie ruhig weiter ihres Weges. Mit offenem Mund blieb er stehen: Was der Junge ausgefressen hatte, um den Zorn dieser Kerle auf sich zu ziehen, wusste er natürlich nicht. Hätten sie ihn erwischt, dann wäre es ihm sicher schlecht ergangen, die hatten nicht so ausgesehen, als würden sie auf das zartere Alter ihres Gegners Rücksicht nehmen. Vielleicht hatte er ja auch etwas geklaut, und sie hätten ihn, außer ihn zu verprügeln, auch noch zur Polizei geschleppt. Jedenfalls wäre es für Nomi ein Leichtes gewesen, die beiden auf seine Fährte zu bringen. Stattdessen rettete sie ausgerechnet diesen ihren größten Feind und Peiniger vor wahrscheinlich sogar verdienter Unbill. Der hatte davon nicht einmal etwas bemerkt, so dass er ja glauben musste, er habe sein Davonkommen seiner eigenen Geschicklichkeit zu verdanken. Wenn in den nächsten Tagen Rudolph wieder mal seine Schikanen an dem Mädchen übte, ohne dass die ihn über ihre heimliche Wohltat aufklärte, war Johannes stark versucht, das für sie zu erledigen und es Rudolph unter die Nase zu reiben. Da er sich aber nicht sicher war, dass ihr das recht gewesen wäre, ließ er es bleiben, nahm sich aber fest vor, das eines Tages nachzuholen, wenn es ihm zu bunt würde.

Unterdessen taten sich bei ihm selbst jedoch Dinge, die seine Welt gehörig in der Achse knirschen ließen, und das war durchaus kein Bremsgeräusch sondern das einer Beschleunigung und Richtungsänderung, die er sich nie hätte träumen lassen. Infolgedessen ging sein Puls in den letzten Tagen ständig schnell und aufgeregt, und oft schwindelte ihn, wenn er an die Eventualitäten dachte, die sich da anbahnten.

Sein Lehrer hatte ihn doch allen Ernstes gefragt, ob er nicht versuchen wolle, auf eine höhere Schule zu wechseln! Er habe ihn jetzt seit den Sommerferien im Auge gehabt, seine Leistungen verfolgt und ihn auch sonst unauffällig auf Herz und Nieren geprüft, und sei zu dem Schluss gekommen, er habe das Zeug dazu. Was er davon halte?

Johannes konnte zunächst einmal gar nichts halten, schon gar nicht einen solchen Gedanken in seinem Kopf. Er stammelte hilflos, dass das doch gar nicht ginge, so etwas sei doch gar nicht möglich, er sei doch... sei doch bloß..., und wusste sein Gefühl der Unvereinbarkeit dann doch nicht genauer zu bestimmen.

Daraufhin empfahl ihm Herr Mäuthis, sich den Vorschlag bis zum nächsten Tag gründlich durch den Kopf gehen zu lassen und zunächst einmal ganz ohne Rücksicht auf etwaige Hinderungsgründe herauszufinden, ob er dazu überhaupt Lust hätte. Morgen würde man weiter darüber reden, man brauche gar nichts zu überstürzen.

Als das Karussell in seinem Kopf endlich ein wenig langsamer fuhr, versuchte er sich auszumalen, was denn dieser Vorschlag eigentlich bedeuten würde. Und zwischen ängstlichem Zurückschrecken und dem Gefühl, aus Mangel an konkreter Information in viel zu vagen Spekulationen zu schwimmen, kamen immer stärker sein Wissensdurst zu Wort, seine Lust, mehr von Welt und Leben kennen zu lernen, sein Ehrgeiz, sich größere Spielräume zu erschließen. Und am nächsten Tag sagte er seinem Lehrer, dass, wenn so etwas überhaupt denkbar wäre, dann würde er es wirklich gerne versuchen.

Nun wurde Herr Mäuthis konkreter: er könne zwar nicht versprechen, dass wirklich etwas daraus würde; aber es gebe Förderungsmöglichkeiten für begabte Schüler aus den armen Schichten, und selbstverständlich werde er, Mäuthis, alles tun, was in seiner Macht stehe, um Johannes bei der Beantragung eines solchen Stipendiums und, falls dies positiv ausginge, bei der Vorbereitung des Schulwechsels zu unterstützen. Jetzt solle dieser aber noch einmal neu über die Sache nachdenken und dabei berücksichtigen, dass es bestimmt nicht einfach werden würde.

„Du wirst viel, sehr viel mehr für die Schule arbeiten müssen als jetzt. Hier ist dir ja alles mehr oder weniger zugeflogen. Aber die Anforderungen sind hier ja auch recht begrenzt, und dort gibt es erstens mehr Fächer als hier, zweitens haben die anderen Schüler schon einen großen Vorsprung, den du anfangs erst einmal zusätzlich aufholen müsstest. Ich glaube allerdings, dass du das schaffen könntest. Außerdem, wenn nicht, hättest du eigentlich nichts verloren, du hättest immer noch dieselben Möglichkeiten wie jetzt auch. Es wäre andererseits auch wieder nicht dasselbe: du hättest ein Scheitern zu verkraften, und gleichzeitig wärest du vielleicht mit den Dingen nicht mehr zufrieden, die dir jetzt noch völlig genügen würden.

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