Kitabı oku: «In der zweiten Reihe», sayfa 3
Wer suchet, der findet?
Ernst hat Post von Wilhelm bekommen. Es war endlich so weit, sein Herz hatte ein Gegenüber gefunden. Anders als wir erwarteten, war es nicht Fräulein Ottsen, sondern eine Pfarrerstochter, die er schon von Kindesbeinen an kannte. Immer wieder einmal kehrte er bei seinen Wanderungen in seinen Ferien dort ein. In diesen Tagen waren sie sich näher gekommen, schrieb er. Verlobt hatten sie sich noch nicht, aber er stand kurz davor, sie zu fragen. Er war des Lobes voll über sie, wenn ihr auch eine höhere Schulbildung fehlte. Das sei zwar nicht ausschlaggebend für eine Pfarrfrau, aber er hatte das Empfinden, dass man manches nicht mit solchen Mädchen besprechen könnte, weil es Sprachkenntnisse und philosophische Bildung voraussetzte. Natürlich war ihm ein Mädchen mit liebem und treuem Herzen eher willkommen als eines, das einem Wörterbuch der allgemeinen Bildung glich. Doch solch ein Mädchen zu finden war sehr schwer. Wichtig war ihm vor allem Gesundheit an Leib und Seele, ein achtbares Elternhaus und ein Herz, das seinen Heiland kennt. Das fand er in Gertrude Holstemeier.
Wir sahen uns an.
»Wilhelm hat ziemlich hohe Ansprüche«, meinte Ernst und ich pflichtete ihm bei. Da war ich dann tatsächlich nicht die Richtige für ihn gewesen.
Allerdings war Gertrude nicht so stürmisch wie er, schrieb er noch, sie empfand nicht mit seiner Glut.
Wieder sahen wir uns an.
»Wenn das mal gut geht«, sagte ich und diesmal pflichtete Ernst mir bei.
Schürze statt Buch
Da ich bald heiraten würde, riet mir mein Vater, jetzt ganz praktische Dinge zu lernen, nämlich das, was ich wohl als Pfarrfrau brauchte. Damit war ich überhaupt nicht einverstanden. Doch er setzte sich durch. Mit meiner Verlobung war mir nun ein anderer Weg vorgezeichnet. Seufzend nahm ich mir vor, ihn anzunehmen und nach meinem Konfirmationsspruch geduldig und fröhlich in Hoffnung sein. Was das noch alles für mich bedeuten sollte, konnte ich mir damals noch nicht vorstellen.
Solange Ernst noch studierte, machte ich zunächst einmal ein Haushaltsjahr. Da meine Mutter so früh starb, hatte ich von ihr in dieser Hinsicht nicht viel lernen können. Niemand hat mich in solche Dinge eingewiesen, also schien das wohl nötig zu sein - fand mein Vater. Er schrieb ein Bewerbungsschreiben auf eine Anzeige und empfahl mich in einen Pfarrhaushalt.
»Sie wünschen sich ein gebildetes junges Mädchen«, sagte er. Gebildet? Vielleicht konnte es doch gut werden? Also machte ich mich auf den Weg nach Wehrendorf an der Weser. Dort kam ich tatsächlich in einen gebildeten Haushalt. Die Bibliothek war eindrücklich.
»Ja, du darfst dir gerne ein Buch ausleihen und lesen. Aber erst, wenn die Arbeit getan ist«, sagte die Frau des Hauses. So strich ich beim Abstauben die Bücherreihen entlang und suchte mir schon einmal eines aus. Doch zum Lesen kam ich kaum. Ich war neben allem, was ein solcher Haushalt alles an Kraft verbraucht, auch für die Kinder zuständig. Das war das Schönste in diesem Jahr. Die Kinder mochten mich und ich mochte sie. In erster Linie, das musste ich leider sehr schnell erkennen, war ich allerdings für die Wäsche verantwortlich, Stopfen, Bügeln und vor allem Waschen. Warum sollte ich dafür ein gebildetes junges Mädchen sein?
Ich fürchtete, dass ich wohl mein ganzes Leben lang, meine vom eisigen Wasser schmerzenden Finger spüren würde. Im tiefsten Winter musste ich nämlich die Wäsche im Wasser reiben, spülen und auswringen. Ich nahm mir fest vor, wann immer möglich diese Arbeit zu vermeiden und abzugeben. Vielleicht würde ich ja in unserem zukünftigen Pfarrhaushalt auch Hausmädchen bekommen. Zu ihnen würde ich immer freundlich sein. Unsere Bücher dürfen sie ausleihen und ich würde ihnen viel über Kunst erzählen.
Trugschluss
Als wir uns an Weihnachten endlich wiedertrafen, war es plötzlich aus mit Ernst und mir. Er löste die Verlobung, weil ich ihm zu kalt war und zu unnahbar, sagte er. Immer wieder hatte er deshalb auch Augen für andere Mädchen gehabt und verließ mich dann endgültig. Obwohl wir uns doch einander versprochen hatten, hielt ihn das nicht von einer Trennung ab.
»Ich hatte es mir fest vorgenommen, aber ich schaffe es nicht«, sagte er. »Kaum kommt ein Anstoß von der Seite, ist es mit meinem Entschluss vorbei.«
Was war an mir so schwierig? Liebte ich nicht tief genug? War ich nicht leidenschaftlich genug? Nein, leidenschaftlich war tatsächlich nicht meine Sache, aber ich war treu und blieb es auch. Ich hatte schon immer den berühmten langen Atem, der mich durch Höhen und Tiefen getragen hat. Vielleicht hätte ich die Leidenschaft noch lernen können. Hatte ich ihm etwa vorschnell mein Wort gegeben? Ich versuchte, Ernst keine Vorwürfe zu machen, aber es gelang mir nur schwer. Ich war sehr gekränkt. Zum einen, weil er mich vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Zum anderen war es eine Schmach, verlassen zu werden. Sollte ich die Trennung vor meiner Familie mit der fehlenden Leidenschaft begründen? Nein, da würde ich mich schämen.
Nun kam mir ein anderer Gedanke, der mich erstarren ließ. Für das Leben mit ihm hatte ich mein Studium aufgegeben, das war das Schlimmste. Zurück an die Universität war jetzt vermutlich nicht mehr möglich. Vater wollte davon nichts mehr wissen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich auf Ernst. Wie hätte mein Leben ohne diese dämliche Verlobung aussehen können? Ich weinte aus Enttäuschung und aus Wut – wenn mich niemand sah. Die Blöße gab ich mir nicht.
1922
Listen statt Schürze
Endlich war dieses schreckliche Jahr geschafft. Nein, die Arbeit im Haushalt war nichts für mich. Ohne einen Mann an meiner Seite musste ich ohnehin Geld verdienen. Zurück in Paderborn bekam ich bei Vaters Arbeitgeber, dem Reichswehrministerium, eine Anstellung, in der Abteilung Heeresunterkunftsamt. In diesem Büro war es schön warm und insgesamt sehr viel angenehmer als in einer Waschküche. Dort wurde ich Büro- und Kassengehilfin, meine Aufgaben waren das Aufstellen von Lohnlisten, Krankenkassen, Invalidenversicherung und verschiedene Steuerangelegenheiten.
»Sie müssen die Ihnen übertragenen Arbeiten mit Sorgfalt und Fleiß pünktlich und gewissenhaft ausführen und Ihre volle Arbeitskraft den dienstlichen Pflichten widmen«, sagte mein Vorgesetzter. Darauf wurde ich mit Handschlag verpflichtet.
»Gleichwohl verpflichten Sie sich, über dienstliche Tätigkeit strengste Verschwiegenheit zu bewahren, das gilt auch noch nach Ausscheiden aus dem Dienst.«
»Jawohl, verstanden.«
Jeden Monat klebte ich mir gewissenhaft eine Steuermarke für meine Angestelltenversicherung in ein kleines Heftchen. In dem dafür vorgesehenen Feld musste ich diese handschriftlich mit dem jeweiligen Datum entwerten. Manchmal fragte ich mich, ob die Vorlesungen der Nationalökonomie dafür gut gewesen waren. Ich war froh, überhaupt eine Arbeit zu haben. Solch kleine Tätigkeiten sorgfältig zu erledigen, machte mich zufrieden. Es erinnerte mich ein wenig an meine Briefmarken-Sammlung. Auch damit konnte ich mich lange beschäftigen.
Manchmal wurde ich gefragt, ob mir diese Arbeit gefiel. Auf jeden Fall fand ich sie besser als das Haushaltsjahr. Immerhin entsprach sie meiner Sorgfalt und meinem Ordnungssinn im Kleinen.
Wilhelm sagte später über mich: »Die Mutter ist in den kleinen Dingen ganz groß und in den großen Dingen ganz klein.« Dazu schwieg ich dann.
Leises Anklopfen
Eine Postkarte von Wilhelm kam vom Bodensee. Er studierte inzwischen in Tübingen und war zu Beginn der Semesterferien ein paar Tage auf Schusters Rappen unterwegs. Er dachte an mich, freundlich war die Postkarte. Ich fragte mich, ob Ernst ihm von der Auflösung unserer Verlobung berichtet hatte. Standen die beiden noch in Kontakt, waren sie noch Freunde?
Kurz darauf kam ein ausführlicher Brief. Hier schrieb er über sein bevorstehendes Examen und dass er auf der Suche nach einem Platz für ein letztes, ein besonderes Semester war. Utrecht stand zur Debatte. Er würde überall in Europa hingehen, am liebsten bliebe er allerdings in Deutschland. Und dann kam sein noch immer aktuelles Thema. Er schrieb mir ganz offen, wie es seine Art war, über die Einsamkeit. Er berichtete von seiner Unfähigkeit, ein Mädchen in Liebe an sich binden zu können, im Gegenteil, sie mit seiner Leidenschaft eher zu erschrecken. Dass er ausgerechnet mich zu diesem Thema als Ziel seiner Gedanken auswählte, überraschte mich.
Gleich setzte ich mich an den Sekretär und griff zu Papier und Feder.
»Lieber Wilhelm.
Ich würde mir an Deiner Stelle nicht so viel den Kopf darüber zerbrechen, wer einmal Deine Weggenossin sein wird. Lege alles in Gottes Hand. Wenn er Dich glücklich machen will, dann wird er Dir schon zur Zeit die Augen öffnen und Dir die Richtige in den Weg schicken. Binde Dich nur nicht eher, als bis Du die frohe Gewissheit hast: ,Sie ist die mir von Gott bestimmte‘, und als bis Du die Kraft in Dir fühlst, auch für sie die Verantwortung übernehmen zu können. Helene.«
Er ging mir immer wieder durch den Kopf. Auch die Worte von Elisabeth Dauner, dass er das ganze Leben mit mir gehen wollte. Damals ahnte ich nicht, wie kurz mein Weg mit Ernst werden würde. Der hatte mich verzaubert mit seinem Strahlen, seinem Charme. Nun verzauberte er eine andere.
In Wilhelms Antwortbrief las ich, dass er demnächst auf dem Weg nach Bielefeld sei. Er wollte sich Bethel ansehen, den Stadtteil, in dem die Anstalten lagen und mich gerne auf dem Weg dorthin besuchen. Ob mir das recht sei? Das war es natürlich. Ich freute mich auf den Besuch, denn ich hatte ihn lange nicht gesehen, gewiss eineinhalb Jahre. Zuletzt im Mai 1921, als Ernst aus dem Krankenhaus entlassen wurde und er uns zum Bahnhof brachte.
Er strahlte, als er aus dem Zug stieg. Er sah gut aus, zufrieden und stattlich. Vater gestattete es, ihn bei uns einzuquartieren. Ich zeigte ihm meine Bücher und wir saßen stundenlang zusammen und blätterten darin herum. Dann ließ er sich von mir durch die Stadt führen, wir gingen zusammen spazieren und holten Vater vom Büro ab.
Beide umschifften wir das Thema Ernst, bis Wilhelm irgendwann tief Luft holte:
»Ernst hat mir deinen Abschiedsbrief gezeigt.«
Also wusste er jetzt Bescheid. Jahre später erzählte er mir, dass Ernst ihm auch gesagt hatte:
»Jetzt kannst du gehen, der Weg ist frei.«
Wie gut, dass er jetzt schwieg.
Doch neugierig war ich auch.
»Wie geht es Fräulein Ottsen?«
»Das weiß ich nicht, ich habe sie seit dem Winter nicht mehr gesehen.«
Also hatte ich mich damals geirrt, als ich dachte, mit ihnen beiden könnte es etwas werden.
Jetzt schwieg Wilhelm wieder und ich fragte nicht weiter. Er hatte es also in dem Brief wirklich ernst gemeint, als er von seiner Einsamkeit sprach.
Vorwärts geschaut!
Mein Bruder fand Wilhelm einen beeindruckenden Mann und bat ihn, in sein Album zu schreiben. Das tat er gerne. Erich zeigte es mir später.
»Paderborn, 24.10.1922
Ein treuer Freund kann Dir sein, wer Deine Sehnsucht teilt und ein Bruder, der den gleichen Weg mit Dir gehen will. Aber der beste Freund und der liebste Bruder kann keinen Schritt für Dich gehen. Darum bist Du am Ende immer allein – mit Deinem Gott.
Zum Anfang unser Freundschaft
Wilhelm«
Ich ließ es mir nicht nehmen und bat darum, in sein Tagebuch schreiben zu dürfen, was er mir freudig gestattete. Nach allem, was er mir erzählte, war er ein Zweifler vor allem an sich selbst. Ich wollte ihm Mut und Gelassenheit geben.
»Willst Du ein Ziel erreichen,
ein schweres ohnegleichen,
darfst Du nicht ängstlich schwanken,
nach rechts, nach links nicht wanken:
Nein, vorwärts geschaut!
Auf Gott vertraut!
Dann wird’s gelingen,
Du wirst’s erringen!
(E.Schütze)
Dir, lieber Wilhelm, und Deiner Arbeit wünscht Gottes Segen
Helene«
Zum Abschied schenkte ich ihm mein Hebräisch-Wörterbuch. Er konnte es gut brauchen und bei mir stand es bloß auf dem Bücherbrett herum.
»Auf ein recht baldiges Wiedersehen«, verabschiedete Vater ihn, als er am nächsten Morgen weiter nach Bethel fuhr. Ich horchte auf. Mochten die beiden Männer sich?
Schon zwei Wochen später kam Wilhelm wieder. Diesmal hatte er einen anderen Vorwand. Wir hatten beim letzten Besuch über ein Muster für Stickereien gesprochen und über Bänder und Spitzen. Sogleich hatte er bei seinem Vater nachgefragt und kam mit einem kleinen Beutel voll an. Er musste gleich am nächsten Tag wieder zurück, aber auch diesmal hatten wir schöne Stunden miteinander. Er erschien mir nicht mehr so redselig und leidenschaftlich wie früher. Mein Gefühl sagte mir, er hatte sich ein wenig ausgetobt und ruhte mehr in sich.
Ich wusste selbst nicht so recht, was ich wollte. Es zog mich zu ihm. Meine Sorge war jedoch groß, dass ich wieder enttäuscht würde. Diesmal wollte ich mich gründlich prüfen, nicht wieder voreilig ja sagen. Immerhin hatte er schon für so manches Mädchen geschwärmt. Ich musste sicher sein, dass es ihm wirklich um mich ging und nicht darum, nicht mehr einsam zu sein.
Der nächste Brief kam aus Bethel. Tatsächlich hatte sich Wilhelm dort an der Theologischen Schule für sein vorletztes Semester eingeschrieben. Weil in Bethel eine meiner Tanten wohnte, nutze ich einen Besuch bei ihr als Anlass, mich mit ihm zu treffen.
Er hatte sich sehr gefreut, als ich mich ankündigte, allerdings war an diesem Wochenende auch seine Mutter da.
Bertha Simon, ich hatte sie schon kennengelernt, damals, als ich mit ihm und Ernst nach Hause in die Weihnachtsferien fuhr. In Barmen hatte sie uns ein blitzschnelles Frühstück gezaubert. Vielleicht wäre es gut, auch sie einmal wieder zu sehen. Vielleicht würde ein Treffen etwas mehr Klarheit bringen in meine Gedanken? Eine Mutter ist ja ein wesentlicher Mensch für einen Mann.
So saßen wir zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer des Studentenwohnheimes und Wilhelm ließ uns Kakao bringen. Es war November und kalt, da tat das heiße Getränk gut. Nur Ernst fehlte in dieser Runde. Diesen Gedanken scheuchte ich schnell beiseite. Er hatte sich selbst ausgeschlossen.
Als ich aufbrach, wollte Wilhelm mich unbedingt die kurze Strecke durch den Wald begleiten und ließ dafür sogar seine Mutter eine halbe Stunde alleine. Da es so dunkel war, hängte ich mich bei ihm ein, natürlich nur, um nicht zu fallen. Die etwas ängstliche Tante stand schon am Fenster und hielt Ausschau.
»Du brauchst keine Angst haben, Tante Gerda, ich bin unter männlichem Schutz gekommen.«
»Jaja, ich hab es mir doch beinahe gedacht.«, erwiderte sie. Wir verabredeten noch, dass Wilhelm und seine Mutter uns beide am nächsten Tag zum Spaziergang abholten. Es wurde zwar ein recht kalter und nebeliger Spaziergang, aber so haben wir uns doch wenigstens noch einmal sehen können. Wenn auch ein Spaziergang zu viert etwas ganz anderes war als einer zu zweit.
1923
Wie weiter?
Ernst hatte sich wieder verlobt, hörte ich. Das machte mir mehr aus, als mir lieb war. Er war immerhin meine erste Liebe gewesen. Doch weg mit dem Gedanken. Ob aus Wilhelm und mir etwas wurde, bezweifelte ich. Immer wieder kamen mir seine hohen Ansprüche in den Sinn und ich glaubte kaum, dass ich die Richtige dafür war. Und nur um unter die Haube zu kommen, ging ich bestimmt nicht noch einmal eine Verlobung ein. Es gab gewiss etliche, die durch Leid gute Menschen wurden. Ich glaubte nicht, dass ich dazu gehörte. Ich fürchtete, Leid und Sorgen hätten mich eher schlechter gemacht. Ich fand mich manchmal ungeduldig mit meinen Kolleginnen im Büro meines Vaters und auch mit meinen Geschwistern. Entgegen meinem Naturell hatte ich in diesen Tagen eine eher missmutige Stimmung. Im neuen Jahr 1923, das gerade begann, sah ich für mich keinen Lichtblick. Die Arbeit forderte mich nicht heraus, um mich herum geschah eine Verlobung nach der anderen und ich saß als alte Jungfer dazwischen. Was hatte ich schon vorzuweisen? Ein abgebrochenes Studium und eine abgebrochene Verlobung. In den Zeitungen konnte ich davon lesen, was Frauen jetzt alles leisteten. Sie wurden Pilotinnen und Ärztinnen, wir konnten wählen gehen und uns die Haare kurz schneiden. Wir durften Hosen tragen und ohne Ehemann leben. Für mich schien das alles nicht zu gelten.
Zum Glück hatte ich genügend Dinge, an denen ich mich erfreute. Ich las schon immer gerne oder ich setze mich ab und zu an unser Klavier. Viel konnte ich nicht, aber einige Lieder spielte ich immer wieder. Oder ich nahm die Gitarre, um die Volkslieder aus dem Zupfgeigenhansel zu singen. Dieses Liederbuch der Wandervogelbewegung kannte ich schon seit ein paar Jahren, im Laufe der Zeit wollte ich das gesamte Buch auswendig lernen. So könnte ich jederzeit und überall singen.
Auch meine Briefmarkensammlung, mit der ich mich schon seit meiner frühen Jugend beschäftigte, machte mich zufrieden. Ich hielt regelmäßigen Kontakt zu anderen Briefmarkenfreunden, zu Schulfreundinnen und Verwandten, denen ich fast täglich Briefe schrieb.
Mein reger Briefwechsel mit Wilhelm tat mir gut. Er schrieb so viel über sein Studium, ich konnte mich in seine Überlegungen, seinen Glauben und auch seine Zweifel gut hineinfühlen. Manches Mal versuchte ich auch mein Wissen mit einzuflechten, das schien er anzuerkennen. Dieser Austausch war vor allem für meinen Verstand eine Wohltat.
Anlässlich meines nächsten Besuches bei Tante Gerda ließ ich es darauf ankommen und ging auf dem Weg von der Bahn auf gut Glück bei ihm vorbei. Einen ganz anderen Wilhelm fand ich so vor. Ich entdeckte ihn auf dem Schulhof beim Turnen, bei seinen Freiübungen, in Hemd und Hose. Das war ihm ein bisschen unangenehm, doch was ich sah, gefiel mir. Ein durchtrainierter, stattlicher Mann, dem die Bewegung sichtlich Freude machte. Ich konnte nicht lange bleiben, es wurde nur ein kurzer Gruß, den ich ihm geben konnte.
Wenig später kam er wieder nach Paderborn. Vater hatte nichts dagegen und so wurden es einige Besuche, oft sogar zwei im Monat.
Erst nach einer Weile begriff ich es. Vater hatte nichts gegen eine Verbindung zwischen uns und hoffte sogar, dass ich so endlich unter die Haube käme. Dass Wilhelm bei ihm sogar schon um meine Hand angehalten hatte, wusste ich allerdings nicht. Beide schwiegen dazu.
»Die Milch!«
Über Pfingsten kam er wieder zu Besuch. Zwischen uns war eine immer deutlichere, durchaus angenehme Spannung gewachsen. Entgegen seiner Art schwieg er oft an meiner Seite, wenn wir uns nicht gemeinsam mit einem Bild oder Buch beschäftigten. Ob er sich nicht stürmisch zu meinen Füßen werfen wollte, sich lieber zusammen riss? Ob er Sorge hatte, frühere Fehler zu wiederholen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder.
An den Feiertagen hatten wir viel Zeit und wenig Arbeit. Obwohl er mitten in seiner Examensarbeit steckte, hatte er gut vorgearbeitet, damit er diese Tage freihalten konnte. Wir saßen am Nachmittag in der guten Stube auf dem Sofa und lasen in alten Briefen meiner Brieffreundinnen. Ich war in der Küche gewesen und hatte Milch für einen Kakao aufgesetzt. Walters rechter Arm lag wie zufällig hinter mir auf der Sofalehne und wir saßen recht dicht beieinander. Da fand ich die Postkarte von Ernst und ihm, die sie mir zum ersten gemeinsamen Neujahrstag geschrieben hatten. Dort stand zum ersten Mal dieser Satz Glück auf den Weg!
»Kennst du die noch?« fragte ich ihn und sah ihn an.
»Aber natürlich«, antwortete er und blickte mir tief in die Augen.
»Hast du denn damals mit einem Gruß von uns gerechnet?«
»Ich hatte schon Weihnachten darauf gewartet«, erwiderte ich. Es klang wie ein Bekenntnis.
Da spürte ich seine Hand an meinem rechten Arm und wie er meine linke Hand mit seiner linken nahm.
»Ach du, jetzt kommt es also heraus.«
Eine Weile saßen wir so ganz still, ohne ein einziges Wort. Mir wurde eng um die Brust. Plötzlich sprang ich auf.
»Die Milch!« rief ich und lief hinaus in die Küche.
Zum Glück kochte sie noch nicht über, ich kam im allerletzten Moment, um sie vom Feuer zu ziehen. Damit war auch der Zauber vorbei. Es war noch einmal gut gegangen. Blitzschnell flogen die Gedanken durch meinen Kopf. Die Verlobung mit Ernst war schief gegangen. Bitte nicht nochmal diese Schmach. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt in der Lage war, richtig zu lieben. Wilhelm war so unglaublich romantisch. Würde ich ihm geben können, was er haben wollte, vielleicht sogar brauchte? Wenn ich es wagte, wenn ich mich ihm hingab, wurde vielleicht auch klarer, was aus mir werden sollte, nämlich doch eine Pfarrfrau.
Ich musste schon viel zu früh selbstständig sein, jetzt würde ich die Verantwortung für mein Leben teilen können. Mit diesem klugen Mann an meiner Seite, der schon viel erlebt hatte und über das Leben Bescheid wusste, bliebe ich auch dicht an der Theologie. Das alles sprach für ihn. Wie oft hatten wir über biblische Texte gesprochen und uns gegenseitig inspiriert. Wilhelm schien mir zwar ein schwärmerischer, aber auch ein ernsthafter Partner auf Augenhöhe zu sein.
Am nächsten Spätnachmittag fanden wir uns erneut auf dem Sofa wieder. Zog es uns so stark dorthin? Diesmal zeigte ich ihm einen kleinen selbst gefalteten Papierball. Draußen regnete es ununterbrochen und warm war es auch nicht. Er nahm meine linke Hand, um sie zu wärmen, und ich hielt mich spielend an dem kleinen Papierball fest. Als er mir wieder seinen rechten Arm umlegte, hatte ich nur den einen Gedanken. Soll ich oder soll ich nicht? Lange saßen wir ganz still. Da fasste sich Wilhelm ein Herz: »Helene«, sagte er, »dass wir nun hier so sitzen, was hat das zu bedeuten? Ich wage nicht, dich zu fragen ...«
Weiter kam er nicht. Ich gab mir den letzten Ruck und ließ mich in seine Arme sinken.
»Wenn du mich nehmen willst, wie ich bin, wenn du noch Geduld mit mir haben willst?«
»Natürlich«, flüsterte er.
In der nun folgenden Ruhe, Herz an Herz und Wange an Wange, verschwand die Zeit. Bis wir die Augen hoben und Walter mich bat:
»Helene, gib mir den Brautkuss.«
Unsere Lippen fanden sich. Er küsste anders als Ernst, seine Lippen waren viel weicher, aber auch fordernd.
Anschließend saßen wir lange schweigend umschlungen und hörten den Glocken der Franziskanerkirche zu, die unsere Zeugen wurden.
Marthas Gesicht hellte sich auf, als sie hereinkam und uns so sitzend fand. Auch Erich tat ganz überrascht, als er abends kam und uns Hand in Hand sah.
»Na endlich«, brummelte er.
Am nächsten Morgen gingen wir gemeinsam zu Vater und standen Arm in Arm vor seinem Sessel.
»Was wollt ihr denn?«
»Das, was Sie sehen, Ihnen sagen«, meinte ich.
Vater hob seinen Blick und musterte uns. Seine Augen blieben an unseren Händen haften.
»Ach, das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich dachte schon, was ihr wohl Besonderes habt.«
So war er, aus allem machte er einen Scherz oder stellte sich so dumm, dass es ein Scherz werden musste.
Nun setzten wir uns hin und schrieben auch einen gemeinsamen Brief an Wilhelms Eltern nach Barmen. Auch für sie war es vermutlich keine Überraschung, meinte er.
Die feurige Mor
Nun kam er offiziell jeden zweiten Samstag am Nachmittag nach Paderborn und fuhr am frühen Montagmorgen wieder zurück. Er brauchte die restliche Zeit dringend für sein Examen. Deshalb war ich überrascht und auch erschrocken, als er eines Morgens schon früh um sieben Uhr in meinem Büro auftauchte. Was war passiert?
»Wilhelm!« entfuhr mir und die Kolleginnen sahen auf.
Er zog mich kurz hinaus und erklärte mir, warum er gekommen war. Er hätte die Chance bekommen, noch ein Semester in Dänemark anzuschließen, und müsste sich dazu schnell entscheiden. Aber ohne eine Zusage von mir würde er diese Möglichkeit ausschlagen. Für das Examen könnte und müsste er natürlich auch dort lernen.
»So viel Schönes darfst du doch nicht ausschlagen. Nein, fahr bloß hin. Ich freue mich für dich!«
Mit einem Kuss und einer Umarmung bedankte sich der frohe Student und sprang winkend vor Freude um die Ecke auf den Weg zum Bahnhof. Ich ging zurück an meine Listen und merkte erst jetzt, was das für mich bedeutete. Kaum hatten wir uns gefunden, sollte er schon wieder weg. Schade. Ich hatte es dennoch ernst gemeint, was ich ihm sagte, denn seine Freude über die Chance blitzte ihm aus den Augen.
Bevor er fuhr, war mir wichtig, ihn meiner Familie vorzustellen, auch Mutters Verwandtschaft in Rheda. Wir zeigten ihm ihr Grab. Auch von hier musste er bald wieder zurück an den Schreibtisch.
Dann war er weg.
Er schickte mir regelmäßige Briefe und erzählte von seinen Erlebnissen und Gedanken. Wie gut, dass ich auch selbst so gerne Briefe schrieb, so blieben wir in Verbindung. Er war in einer Pfarrfamilie untergebracht und nannte den Pastor und seine Frau Mor und Far, wie in Dänemark Kinder ihre Eltern nannten. Er tat es deren kleinen Kindern nach und fühlte sich schnell heimisch. Zwischen kleinen Aufgaben für die Gemeinde von Pastor Severinsen musste er auch dort natürlich fleißig lernen. Das Examen wartete nicht. Von Mor bekam er viel Mutterliebe, schrieb er, bei Pastor Severinsen erlernte er auch das Buchbinden mit großem Eifer. Für seine eigene Zukunft als Pastor fand er eine Menge Anregungen.
»Ich spreche mit Mor viel über dich, liebe Helene«, las ich. »Ich freue mich, wenn wir uns wieder durch’s Haar fahren können, deine Arme mich festhalten und ich ruhig werden kann. Du bist mein Hafen.«
Wilhelm wirkte unruhig in seinen Briefen, häufig erwähnte er Mor. Einmal traf mich fast der Schlag, als er schrieb, sie habe ihn geküsst. Ich kenne doch ihn und seine schwelende Leidenschaft, was war da passiert? Seine Beteuerungen glaubte ich ihm durchaus, es habe nichts mit mir zu tun, die um ein paar Jahre ältere Mor habe eben so ein feuriges Wesen. Auf jeden Fall hatte er heftige Sehnsucht nach mir, schrieb er – oder überhaupt nach einer Frau? Ich hatte zwar das Gefühl, ihm und seiner unruhigen Natur gutzutun. Doch zu oft tauchte der Gedanke in mir auf, ob ich dieser Aufgabe gewachsen sein konnte. Manchmal wollte er mehr, als ich zu geben in der Lage war. Bei seiner starken Leidenschaft fiel ich immer wieder wie in mich zusammen und wurde ganz passiv. Ja, ich gab mich ihm hin, soweit ich es durfte, solange wir noch nicht verheiratet waren. Hätte ich mich ihm ebenso stürmisch an den Hals geworfen, wäre es um uns geschehen. Hier trug ich die Verantwortung, weil nur ich diejenige war, die uns bremsen konnte.
Ende September kam er endlich aus Dänemark zurück. Ich hatte mich sehr beeilt, um pünktlich aus dem Büro auf dem Bahnsteig stehen zu können. Ich hielt Ausschau und reckte den Hals. Ganz hinten stieg er aus, ließ sein Gepäck fallen und flog auf mich zu. Ich musterte ihn so unauffällig wie möglich. Hatte sein Erlebnis mit Mor ihn verändert? Er war mir gegenüber ausgesprochen herzlich und freute sich so sehr, mich zu sehen, dass ich beschloss, diese Episode zu vergessen. Das Gute im Menschen zu sehen, das kann ich.
Drei Tage konnte er bleiben. Er lernte, während ich im Büro war, und wir genossen heimliche Abendstunden unter dem Sternenhimmel, bei einer Kutschfahrt oder Spaziergängen. Viel zu schnell waren die gemeinsamen Tage auch schon wieder vorbei. Wilhelm fuhr zu zwei letzten Paukwochen, wie er sie nannte, zu seinen Eltern nach Barmen und ich versuchte, so gut es ging weiter zu sparen für meine Aussteuer.
Wie gewonnen, so zerronnen
Inzwischen war die Inflation im vollen Gange. Bei Wilhelms Reisebeginn hatte eine dänische Krone bereits 30.000 Mark gekostet und bei seiner Rückreise ein Vierteljahr später schon 18 Millionen. Ein Dollar kostete 7.194.000.000 Mark. Wo sollte das alles hinführen? Mein selbstverdientes Geld stellte mich zwar zufrieden, jedoch die Entwertung machte mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Von dem Lohn, den ich mittags ausbezahlt bekam, konnte ich am nächsten Morgen höchstens noch ein Brot kaufen. Wie sollte ich denn so weiter für meine Aussteuer sparen?
Eines Tages überlegte ich zusammen mit meiner dreizehnjährigen Schwester, was wir mit den Mengen an Papiergeld bloß machen sollten. Martha war schon immer pfiffig, natürlich hatte sie einen Einfall. Am nächsten Sonntag gingen wir zusammen in den Gottesdienst. Zum Glück schienen wir die Einzigen zu sein, die diese Idee hatten, als der Klingelbeutel vorbei gereicht wurde. Wir entleerten meine Handtasche und alle vier Manteltaschen auf Marthas Schoß. Ich hielt den Klingelbeutel gut fest und sie stopfte, so fest sie konnte, die Milliarden hinein.
Inzwischen war Wilhelm zu seinem ersten Staatsexamen in Bonn gewesen. Ich nahm mir ein paar freie Tage und fuhr nach Barmen. Dort wollte ich ihn willkommen heißen, wenn er nach Hause kam. Seine Mutter hatte mich eingeladen, um ihm eine Freude zu machen. Bei Simons kam mir in den Sinn, dass auch ich jetzt diejenige hätte sein können, die von der Prüfung kam. Diese Gedanken kamen und ließen sich zum Glück wieder beiseiteschieben. Was nutzte das Hadern? Warum sollte ich mir Gedanken über etwas machen, das nicht sein konnte? Es würde nur Kummer daraus wachsen. Ich hatte mir fest vorgenommen, meinen Frieden damit zu haben, dass mein Leben nun doch ein frauliches sein würde. Ich wollte mich für Wilhelm freuen, und das gelang mir auch.
Da kam er in die Stube, entdeckte mich, hob mich hoch und drehte sich mit mir im Kreis.
»Dich hält ein angehender Vikar in den Armen!« rief er und strahlte vor Stolz.
Theorien aus Österreich
Wie sollte es nun mit uns weiter gehen? Während ich weiter im Heeresunterkunftsamt arbeitete, suchte er eine Arbeit. Bis das Vikariat begann, musste er von etwas leben, denn seine Eltern konnten ihn nicht mit durchfüttern. Erst wollte er wieder in der Bank arbeiten, die ihn in den Semesterferien immer genommen hatte, doch er bekam das Angebot, ein paar Monate in St. Pölten bei Wien in einer Gemeinde als Assistent zu arbeiten. Das war wirklich weit weg. Er war doch gerade erst wieder aus Dänemark zurück.