Kitabı oku: «In der zweiten Reihe», sayfa 5

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Im zweiten Wagen fuhr ich mit meinem stolzen Vater hinterher.

Als wir an der Kirche ankamen, war diese allerdings noch verschlossen und weit und breit niemand zu sehen. Das sorgte für Verwirrung. Zehn Minuten warteten wir in der Hoffnung, dass unsere Trauung nicht ausfallen musste. Da kam der Pastor mit hochrotem Kopf endlich angelaufen. Er hatte die Zeit aus den Augen verloren. Die nächste Verwirrung folgte gleich auf dem Fuße. Wilhelm hätte unser neues Familienstammbuch mitbringen müssen, daran hatte er nicht gedacht. Eigentlich konnten wir ohne das Dokument nicht getraut werden. Aber der Pastor drückte ein Auge zu, als er unsere erschrockenen Gesichter sah.

Aus Geldmangel feierten wir im engsten Kreise. Das hieß, dass wir zum Mittagessen zurück in Vaters Wohnung gingen, dieses Mal ohne Kutschen zu Fuß. Mit uns um den Tisch saßen unsere Eltern, Claus und Tante Liesel, Fritz und Bertha, dazu Martha und Erich, damit waren wir schon acht. Dazu noch zwei von Wilhelms Geschwistern, Erna und Herbert.

Am späten Nachmittag fuhren wir auf Hochzeitsreise nach Höxter an der Weser. Eines der Hochzeitsgeschenke war eine Fahrkarte der 2. Klasse anstelle der üblichen 3. Klasse. Das bedeutete ein angenehmeres Reisen auf gepolsterten Sitzen. Angekommen wohnten wir vier schöne Tage lang in der Pension Wilhelmshöhe mit einem herrlichen Blick über die Stadt und auf die Weserberge. Obwohl das Wetter wenig freundlich zu uns war, machten wir Spaziergänge und begannen unser gemeinsames Leben. Einmal sind wir dabei in einen Platzregen geraten und kamen bis auf die Haut durchnässt nach Hause. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als so lange unter der Bettdecke zu bleiben, bis die Kleider trocken waren.

Viel zu schnell flogen diese innigen Tage vorbei. Von dort aus ging die Fahrt direkt in unser erstes eigenes Heim, nach Lienen.

Herbergsmutter und Lehrerin

Am Bahnhof angekommen erwartete uns eine große Überraschung, wir wurden mit einem blumengeschmückten Wagen abgeholt. Als wir in unseren neuen Hof einbogen, begrüßte uns Chor-Gesang. Die ersten Sommergäste waren schon eingezogen und schmetterten zusammen mit dem Hauspersonal das vierstimmige Lied »Du meine Seele, singe!«

Was für ein freundliches Willkommen. Wir strahlten vor Freude. Wir kannten diesen Liedsatz auch und stimmten freudig mit ein. Wilhelm ließ seinen dröhnenden Bass erklingen und ich sang die Altstimme.

Für meine Aussteuer hatte ich all die Jahre in Paderborn gespart. Neben den Möbeln von Vater waren ein ovaler Esstisch mit Stühlen, ein Sekretär und ein Vertiko, alles Hochzeitsgeschenke, bereits geliefert worden. Alles Weitere schafften wir uns nach und nach von Wilhelms Gehalt an. Meine kleine Entlohnung kam in die Spardose. Uns standen drei Zimmer zur Verfügung. Wir hatten schon auf Papier unsere wenigen Möbel gerückt. Es gab ein Schlafzimmer direkt neben dem allgemeinen Speisesaal. Dort passten unser Schrank, die Betten und die Kommode gut hinein. Von dort aus gingen wir in unsere Wohnstube und von da weiter ins Esszimmer, in dem Wilhelm eine Arbeitsecke für sich abgetrennt hatte. Eine Küche brauchten wir nicht, weil wir mit der Gemeinschaft essen konnten, ich also zum Glück nicht selber kochen musste.

Im Außengelände gab es einen Stall mit einem Pferd, einigen Ferkeln und fünf Kühen. Zum Haus gehörte der große Mischlingshund Ingo. Ein Bächlein floss durch die Wiesen, hier wollte Wilhelm unbedingt eine Bademöglichkeit einrichten lassen.

Das war also »unsere« Volkshochschule.

Gleich am nächsten Morgen ging die Arbeit los. Ich begleitete Wilhelm zu allen Terminen, wo es nur möglich war. Es war für mich reines Glück, mit ihm die Gegend zu erkunden, sich überall vorzustellen und zusammen für die Volkshochschule zu stehen. Wir fühlten uns gemeinsam für deren Gedeihen verantwortlich. Hier war ich in meinem Element, es war für mich eine sinnvollere Arbeit als das Erstellen von Lohnlisten und ein Vielfaches besser als das Waschen von Wäsche. Auch wenn gewiss beides nötig war im Leben.

In den Gemeinden, in denen er sonntags ab und zu predigen sollte, rührten wir die Werbetrommel. Wir waren drei Tage beim Pfarrer im benachbarten Tecklenburg eingeladen, zogen von Hof zu Hof und machten Besuche bei allen Bauernfamilien der Umgebung. Gerade die mit erwachsenen Söhnen und Töchtern kamen für uns in Frage. Begeistert erzählten wir von den Weiterbildungsmöglichkeiten für die jungen Menschen und hofften, dass unser Funke übersprang. Ich wurde auch nicht müde, bei Händlern, Fabrikanten und wohlhabenden Bauern, um Spenden zu bitten, um allen geeigneten jungen Menschen Verpflegung, Unterkunft und Unterricht zu ermöglichen.

Endlich war es soweit. Die Evangelische Volkshochschule Lienen wurde als eine Außenstelle der Volkshochschule Lindenhof in Bethel offiziell gegründet und feierlich eingeweiht. Höhepunkt war »Pastor Fritz«, wie Wilhelm Friedrich von Bodelschwingh nannte. Er hielt als Leiter von Bethel den Festvortrag vor über 400 Menschen im Gemeindehaus von Lienen. Dass so viele Menschen kamen, machte mich sehr glücklich. Wir stießen wohl ein dringend benötigtes Projekt an. Bodelschwingh zu hören war ein besonderes Erlebnis, fand Wilhelm.

»Er hat ein in Liebe brennendes Herz und schenkt einem großen Reichtum, wenn man ihn hören darf.«

Ich war auch beeindruckt von ihm, würde es vielleicht nüchterner formulieren: Er war ein hervorragender Redner. Vermutlich meinten wir dasselbe.

Unser Ansatz war, ein Angebot für die ganze ländliche Bevölkerung ohne Rücksicht auf Vermögen und soziale Stellung zu machen. Wir wollten, wie es der Name sagt, eine Volkshochschule sein, weder Fachschule, höhere Schule noch Universität. Wir wollten auch nicht in Konkurrenz treten mit anderen Fortbildungsschulen.

Wilhelm drückte es noch einmal anders aus. Das zeigte seine tiefe Verbundenheit mit der Idee.

»Wir wollen dem ganzen Menschen etwas geben für Geist, Seele und Leib, und alles, was unsere jungen Bauern in sich aufnehmen, soll zu ihnen als den Bauern sprechen, aus ihrer Umgebung, ihrer Anschauungswelt erwachsen sein. Darum muss die Heimatsprache, die Heimatgeschichte, die Heimatwirtschaft und die Heimatkirche Ausgangspunkt der Arbeit sein.«

Gleich am nächsten Tag begann unsere Arbeit, zunächst mit sieben Schülern. Nach einigen Tagen kam ein achter noch dazu, es war eine fröhliche Arbeitsgemeinschaft. Dazu trug gewiss bei, dass alle während der Lehrgänge im Haus untergebracht waren, die Gemeinschaft deshalb bis in die Abendstunden weitergehen konnte.

Die viermonatigen Winter-Lehrgänge begannen im November und waren für die erwachsenen Söhne aus bäuerlichen Familien gedacht, die sich so außerhalb der landwirtschaftlichen Arbeitszeiten weiterbilden konnten. Sie bekamen Unterricht von externen Lehrern in Landwirtschaftslehre, Bürgerkunde, Volkswirtschaft und Heimatkunde, Plattdeutsch, Gesundheitslehre, Sternenkunde und Gesang, die zunächst ehrenamtlich zu uns kamen. Deutsch, Geschichte, Religion und Turnen lehrte Wilhelm selber.

Ich übernahm mit großer Freude Rechnen und deutsche Grammatik. Die jungen Menschen bestätigten mir oft, wie gut ich erklären konnte. Ich genoss jedes Mal den Moment, in dem ihnen der Groschen sichtbar fiel und das Gesicht verstehend aufleuchtete. Zusätzlich war ich für alle die Hausmutter. Mit allen alltäglichen Sorgen kamen die jungen Menschen, die teilweise gar nicht so viel jünger waren als ich, zu mir. Bei mir liefen alle Fäden zusammen, die sich aus der Küche, der Wäscherei, dem Garten, der Schneiderstube, den persönlichen Problemen der Einzelnen und auch dem Haushaltsbuch bei mir bündelten.

In den Lehrgängen für die Töchter, die ebenfalls vier Monate dauerten und im März begannen, standen außerdem Säuglingspflege, praktische Handgriffe in der häuslichen Krankenpflege, Erziehungskunde und Familienfragen auf dem Stundenplan. Da es auch hier zunächst nur fünf Schülerinnen waren, hatte dieser Kurs einen stark familiären Charakter.

Auch der Spaß sollte bei uns nicht zu kurz kommen. Spielen und Vorlesen, die Beschäftigung mit den Deutschen Märchen, Wandern und Reisen standen mit auf dem Programm. Ebenso Besprechungen zu aktuellen Tagesfragen wie Geburtstagen, geselligem Zusammensein, Theaterspielen, Singen und Tanzen gehörte dazu.

Das Wissen bereicherten zusätzlich Ausflüge zu Fabriken, wie z.B. dem Besuch einer Seifenfabrik, einer Buch- und Kunstdruckerei, einer Weberei und Spinnerei, einer Hebammen-Lehranstalt, Besuche von Kirchen und Museen in Osnabrück oder Oldenburg.

Mit Jugendtreffen und gemeinsamen Festen für die Öffentlichkeit versuchten wir, die Volkshochschule im Kreis bekannt zu machen. Später veranstalteten wir auch regelmäßige Singwochen. Auch diese wurden gut angenommen.

Die ländliche Bevölkerung war allerdings nicht nur begeistert von unserem Bildungsangebot. Eine Großmutter sorgte sich um ihren Enkel.

»Do wät de Junge to klouk.«

Auch die Wirte der Umgebung merkten, dass die Jugendlichen wegblieben, und ärgerten sich.

Wilhelm und ich hatten wahrlich keine niedrigen Ansprüche an unser Tun. Ebenso wichtig wie die gemeinsame Arbeit war uns das gemeinsame Leben in Freude und Ernst, in Spiel und Gesang, in Tischgebet und Hausandachten. Uns lag es fast mehr auf dem Herzen, ihnen etwas für die innere Gestaltung ihres Lebens zu geben als im Unterricht zu glänzen.

In den Ferien bevölkerten Sommergäste das Haus und die freien Betten. Diese Wochen waren Erntezeit und niemand in der Landwirtschaft zu entbehren. Für uns galten sie als Werbezeit und wir waren dazu mit dem Rad unterwegs. Die Familien besuchten wir oft drei oder viermal, bevor diese sich endlich entschlossen, der Volkshochschule ihre großen Kinder anzuvertrauen.

1926

Kurzes Glück

Nach dem Osterfeuer, das von vielen Jugendlichen besucht wurde, boten wir jeden Sonntagabend ein Treffen auf unserm Gelände an, ohne eindeutige Absicht, nur für die Freude. Die Schar der Teilnehmenden, die mit Fahrrädern und Motorrädern nicht nur aus Lienen, sondern auch aus den Nachbarorten anreiste, wurde immer größer. Wir mussten sie bald in zwei Gruppen einteilen. Von 18 bis 20 Uhr kamen die unter Sechzehnjährigen, die Älteren lösten sie anschließend ab.

Es war ein vergnügtes Treiben rund um unsere Volkshochschule.

Nach Ostern begann der zweite Lehrgang, dieses Mal hatten sich fünf Schülerinnen angemeldet. Eine Sechste kam noch dazu. Wie hätte ich damit zufrieden sein können, doch mein Leben bekam eine neue Richtung.

Seit dem Jahresanfang glaubte ich, schwanger zu sein. Wilhelm geriet außer sich vor Freude. Ich freute mich auch, aber ich war auch verunsichert. Ein Kind war doch eine Anschaffung für das ganze Leben. Was kam da auf mich zu? Würde ich es schaffen, sowohl die Geburt, über die ich bis dahin fast nichts wusste, als auch eine gute Mutter zu sein? Mir fehlte jetzt ganz besonders meine Eigene, die ich um Rat fragen konnte.

Wilhelm meinte, dass ich den Unterricht in der Volkshochschule nicht würde weiterführen können. Denn als Mutter hätte ich andere Aufgaben. Ich starrte ihn an und war zunächst einfach nur sprachlos. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich dachte, wir führten eine moderne Ehe.

Doch er ließ nicht mit sich diskutieren. Ich hätte heulen können vor Wut und tat es auch. Vor allem war ich maßlos enttäuscht. Sollte das jetzt meine Zukunft sein? Wieder in der Schürze leben? Waschen, Bügeln und Kinder aufziehen? Die klassische Pfarrfrau? Wann immer ich das Thema anschnitt, wiegelte er sofort ab.

»Wenn du willst, kannst du mir bei den Haushaltsbüchern der Volkshochschule helfen. Du kannst doch so gut rechnen. Aber sonst bist du Mutter.« Abschließend wollte er nicht länger diskutieren und auch nichts mehr davon hören.

Eine deutsche Mutter arbeitete aus seiner Sicht nicht mit dem Verstand, sondern dem Herzen und mit Fleiß. Sein Kind unter meinem Herzen war aus seiner Sicht wichtiger als mein intellektueller Anteil, mein Denken, meine Lust am Lernen und am Unterrichten. Mir fiel wieder ein, dass er mir einmal erzählt hatte, wie beeindruckt er damals von den fleißigen deutschen Frauen in der Landwirtschaft gewesen war. Er sah sie im Ersten Weltkrieg als junger Mann vom Zug aus, als er unterwegs nach Frankreich an die Front war. War das sein Frauenbild? Vielleicht verbunden mit dem Fleiß seiner Mutter in der Wäscherei? Darin konnte ich mich beim besten Willen nicht wiederfinden.

Ich brauchte lange, mich von dieser Enttäuschung zu erholen. In diesen Wochen zweifelte ich oft an seiner Liebe. Er beteuerte sie mir zwar immer wieder, doch sein Bild von mir liebte er wohl noch mehr.

Zum Glück hatte ich immer Hausmädchen, sowohl für meinen eigenen Haushalt als auch für den der Volkshochschule mit der großen Schar Menschen, zusätzlich mit den Übernachtungs- und den Sommergästen.

Da ich sie selber nicht gut anlernen konnte, wurden sie alle zum Glück schnell selbstständig. Kam allerdings Wilhelms Mutter Bertha zu Besuch, wurden sie zu ihrem Leidwesen heftig kritisiert und auf ihre Weise angelernt. Nichts ließ sie ihnen durchgehen, nicht einmal drückte sie ein Auge zu. Manches Mal atmeten alle auf, wenn sie wieder abreiste.

Außerdem gab es unsere unersetzliche Köchin Auguste Pieper, kugelrund und mit einer Nickelbrille auf der Nase. Sie und ihre unendliche Geduld waren mit Gold nicht aufzuwiegen.

Mich bewegte die Frage, ob ich mit dieser neuen Aufgabe wohl zufrieden sein konnte?

Immerhin hatte ich jetzt Zeit für das Klavier und den Zupfgeigenhansel, für die Briefmarkensammlung und meine Bücher, für die Betrachtungen von Kunstbüchern und meiner Kunstpostkarten. Eigentlich begeisterten mich Maler aller Art, vor allem die Expressionisten. Im Speisesaal stellte ich mein Altärchen auf, wie ich es immer nannte, eine immer wechselnde Auswahl meiner Postkarten. Die Hausbewohner durften sie jederzeit betrachten und gerne erzählte ich, was ich über die Künstler wusste. Ich hatte vor, dass alle, die in unser Haus kamen, sich auch daran erfreuen konnten.

Dann gab es auch noch Ingo, den schwarzen Mischlingshund der Volkshochschule, er erfreute mein tierliebes Herz. Überhaupt – den Umgang mit Tieren fand ich manches Mal leichter als den mit Menschen. Als ich einmal mit der Pastorenfrau von Lienen zum Einkaufen unterwegs war, begegnete uns eine Frau mit einem Kinderwagen und einem Hund. Während meine Begleitung in den Kinderwagen schaute, hatte ich nach einem kurzen Gruß vor allem Augen für den Hund und streichelte und kraulte ihn zu seiner Freude.

Die Kaiserhymne

Und mein Bauch? Er wuchs und wuchs und erschien mir riesig. Ob ich wohl irgendwann mit einem großen Knall platzen würde?

Beim Einkaufen wurde ich darauf angesprochen, ob ich wohl Zwillinge erwarte? Ich fragte unsern Hausarzt, der aber meinte: »Tja, Frau Simon, ich höre kaum die Herztöne von einem.«

Am 25. August 1926 spürte ich die ersten Wehen, doch das Kind ließ auf sich warten. Wilhelm zeigte sich zutiefst beeindruckt, mit welcher Kraft und Tapferkeit ich diese Schmerzen aushalten konnte. So ist ein Frauenleben eben, dachte ich, ich musste da jetzt durch. Andere Frauen hatten das auch geschafft. Die Presswehen waren jedoch so schwach, dass die alte Hebamme und die Vertretung unseres leider verreisten Hausarztes, ein junger Mann, sich schließlich dafür entschieden, die Geburtszange einzusetzen. Doch als hätte das Kind es gehört, kam es ihnen zuvor. Ein kleines Mädchen kam heraus, zart und fast unbewegt, so dass der Arzt und die alte Hebamme sich sehr viel Mühe machen mussten, um es durch Schlagen und Baden zum Schreien zu bringen. Darum hatten sie kaum Zeit, sich um mich zu kümmern. Endlich hörte ich das erlösende leise Maunzen, wie ein kleines Kätzchen. Ich merkte, wie ich vor Anspannung kaum atmen konnte, und seufzte erleichtert. Als sich die Hebamme mir zuwandte und meinen Leib abtastete, sagte sie fast entsetzt: »Da ist ja noch eins.« Also doch Zwillinge! Doch zunächst war es notwendig, dass ich mich von der Quälerei der letzten Stunden etwas erholen konnte. Ich bekam etwas zu essen und schlief sogar noch einmal kurz ein. Im Wegdämmern hörte ich, wie Wilhelm das Neugeborene in die Arme gelegt wurde und er der Hebamme den Namen mitteilte, für den wir uns entschieden hatten. Ingeborg sollte unser Töchterchen heißen. Zusätzlich hatten wir die Namen der beiden Großmütter für sie vorgesehen, Mathilde und Bertha.

Als ich erwachte, meinte Wilhelm: »Jetzt brauchen wir wohl noch einen zweiten Mädchennamen.« Ich war zwar erschöpft, aber durch das Erlebte auch ein bisschen überdreht. Die Wehenpause dauerte zum Glück länger und ich kam wieder ein wenig zu Kräften. Da schoss mir die Melodie der Kaiserhymne in den Sinn und ich fing nach Heil dir im Siegerkranz an zu singen: »Ingeborg und Erika, kommt zu dem Großpapa. - Erika wäre doch auch ein schöner Name.«

Es vergingen wohl drei Stunden, bis es zu der zweiten Geburt kam. Die kleine Ingeborg hatte ich inzwischen schon einmal an die Brust legen können, sie versuchte, auch ein wenig zu trinken. Als die nächsten Wehen einsetzten, schlief sie ruhig in ihrem Körbchen.

Diesmal dauerte es nicht lange und Ingeborgs Zwillingsschwester war da – es war ein Junge, der sich und uns mit einem gesunden Schreien zeigte, wer er war. Hans Peter nannten wir ihn. Und den Namen des Großvaters Friedrich bekam er noch dazu. So waren wir beide geplanten Namen schon über die Zwillinge los.

Als Wilhelm ein paar Stunden später nach kurzem Schlaf vor die Haustür trat, stand sein Kollege Bruder Schmitt, der Pfarrer aus Lienen, vor der Tür. »Ja, Bruder Simon«, sagte er, »geboren werden und sterben, das sind die schrecklichsten Dinge im Leben.« Wilhelm erzählte es mir lachend. Als Bruder Schmitt einige Tage später an unserem offenen Fenster vorbei ging, schaute er herein und gratulierte mir frischgebackener Mutter mit den Worten: »Guten Morgen, Frau Pastor! Kinder kriegen ist doch die herrlichste Sache der Welt!« Ich musste lachen und fand, er hatte mit beiden Sätzen Recht.

Um das Leben ringen

Den ganzen Tag war ich damit beschäftigt, die beiden zu stillen und zu nähren. Ingeborg und Hans Peter füllten meine Tage völlig aus.

Ich fürchtete bald, dass unser Töchterchen nicht ganz gesund war. Sie war deutlich ruhiger als ihr Bruder, schaute ernsthaft in die Welt und gedieh nicht. Sie verlor von ihrem Gewicht. Zwar liebte sie es, wenn ich sie badete, und freute sich, wenn wir mit ihr spielten. Doch dabei erschöpfte sie sich deutlich schneller als Hans Peter. Auch das Trinken strengte sie sehr an, sie schwitzte dabei und bekam zunehmend häufiger blaue Lippen. Nur winzige Mahlzeiten konnte sie zu sich nehmen und bei sich behalten. Unser Hausarzt hatte keine Erklärung, woran das liegen könnte. Gut war, dass ich beide stillen konnte, jedoch musste ich Ingeborg rund um die Uhr alle zwei Stunden anlegen, was mir zusehends meine Kraft raubte. Immerhin konnte mir Wilhelm wenigstens abends helfen, indem er das jeweils andere Kind hielt. Mit Hans Peter tat er das sehr gerne, er scherzte und lachte mit ihm. Hatte er dagegen Ingeborg auf dem Arm, betrachtete er sie zwar liebevoll, aber stumm.

In ihren großen, intensiv aus dem kleinen Gesichtchen blickenden Augen steckte nicht viel Kindliches. Die Ernsthaftigkeit und ein zunehmendes Ringen um ihr Leben wurden immer deutlicher.

Doch bald war es nicht mehr zu übersehen, unser kleines Mädchen war ernsthaft krank. Das ganze Heim war voller Sorge um sie. Die Kinder waren knappe drei Wochen alt, als wir nach ihrem wiederholten Atemnotanfall begreifen mussten, dass sie vielleicht nicht mehr lange bei uns bleiben würde. Deshalb taufte Wilhelm sie kurzentschlossen abends in unserem Wohnzimmer.

Vier Wochen später taufte er auch Hans Peter im Gottesdienst, Ingeborg ging es an dem Tag so gut, dass wir sie mit in die Kirche nehmen konnten.

»Wir haben am 10. Oktober die Taufe unserer Kinder feiern dürfen und freuen uns alle täglich an ihrem Fortschritt«, schrieb er in einem Artikel in der Zeitschrift von Bethel, »Die Deele«.

Wilhelm arbeitete viel und ich hatte das Gefühl, dass es ihm ganz entgegenkam. Für die tiefe Sorge um Ingeborg schien ich alleine verantwortlich zu sein. Zumindest trug er sie nicht sichtbar mit, denn er zog sich sehr zurück. Bestimmt sah es in seinem Inneren anders aus, aber er sprach nach dem Schrecken der Nottaufe nicht mehr darüber. Wenn überhaupt, dann nur von der Zuversicht, dass sich vielleicht alles doch noch zum Guten wenden konnte.

Und ich? Ich machte einfach weiter. Was sonst blieb mir übrig? Sachlich und nüchtern war ich. Das sollte ich noch öfter hören. Manchmal dachte ich, dass meine Art notwendig ist. Neben diesem eigentlich emotionalen Mann hielt ich damit unsere Welt zusammen.

Mich erinnerte dieses Warten an etwas, was unweigerlich kommen würde. Ich konnte es nicht glauben und wollte es auch nicht. Dass niemand das Wort Tod aussprach, all das erinnerte mich an eine Zeit in meiner Jugend.

1916

Der Steckrübenwinter

Ich war dreizehn, als der Krieg ausbrach. Damals lebte ich mit meinen Eltern Claus und Mathilde Schmidt in Köln-Kalk. Meine Geschwister Erich und Martha waren fünf und zehn Jahre jünger als ich.

Vater wurde eingezogen und nach Belgien und Frankreich geschickt. Unsere Haushälterin Johanna versuchte, mit der immer schwierigeren Versorgung zurechtzukommen. In Kalk wurden sogenannte Gulaschkanonen aufgestellt, damit es ab und zu wenigstens einen nahrhaften Eintopf gab. Nach der Schule nahm ich meine Schwester oft an die Hand und wir zogen mit unserm Napf los, damit wir etwas Warmes in den Bauch bekamen.

Der Hunger war allgegenwärtig. Vater meinte, dass wegen des Krieges falsch gewirtschaftet wurde, die nötigen Grundnahrungsmittel waren rationiert worden. Außerdem lag es an dem verregneten Herbst 1916, der die Kartoffelfäule mit sich brachte, und der unerwartet starken Kälte im folgenden Winter. Deshalb brach die Hungersnot aus. Auch die Steckrüben, die eigentlich Viehfutter waren und nun verteilt wurden, konnten sie nicht mehr aufhalten. Mutter und Johanna versuchten, trotzdem möglichst so viel Abwechslung wie möglich in unser Essen zu bringen, doch letztlich schmeckte alles gleich: Auflauf, Koteletts, Pudding, Marmelade, Brot und natürlich die tägliche Suppe. Immerhin hatten wir damit etwas im Magen. Es war eine schreckliche Zeit in diesem »Steckrübenwinter«, wie er später genannt wurde. Wir froren und hatten solchen Hunger.

Mutter, die ohnehin ein stiller Mensch war, wurde noch stiller. Als ich sie einmal umarmen wollte, sagte sie: »Nein, nein, lass mich.« Es war auch ihr nüchterner Wesenszug, aber vielleicht ahnte sie schon, wohin ihr Weg gehen würde. Denn plötzlich wurde sie krank, sehr krank. Im Februar 1917 wurde sie wegen Unterernährung und Tuberkulose ins Krankenhaus gebracht, sie hustete so furchtbar, dass uns angst und bange wurde. Drei Tage später, an einem eiskalten Morgen, starb sie.

Erich und ich waren in der Schule, als Mutter starb. Martha war noch kein Schulkind und öffnete uns mittags die Tür. Ganz aufgeregt rief sie uns zu: »Wisst ihr das Neueste? Mutter ist tot.«

Ich war sechzehn Jahre, Erich elf und Martha war erst sechs Jahre alt. Wie sollte es bloß ohne sie weitergehen? Johanna brachte uns ins Krankenhaus, damit wir uns verabschieden konnten.

»Darf ich ihr einen Kuss geben?« fragte ich Johanna.

»Das darfst du, aber nicht auf den Mund, nur auf die Stirn.«

Sie hatte Sorge, dass ich mir auch noch die Tuberkulose holte.

Tante Elschen, Mutters Schwester, war bei ihr gewesen und erzählte von ihren letzten Stunden.

»Sie sollte Ruhe durch eine Einspritzung haben, nachdem sie sehr stark gehustet hatte. Es ist mir gerade so, als wenn ich eine Lungenentzündung bekäme, hatte sie gesagt. Die furchtbaren Nervenschmerzen haben sie versucht, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu lindern. Sie hat dann ruhig schlafen können, bis sie wieder eine große Unruhe ergriff. Morgens um sieben Uhr wurde sie für den Tag fertig gemacht, trank ihre Milch und nach einer Stunde kam ihr Heiland sie holen, sie hat nach Vater gefragt und dann hat sie ihn mit Namen gerufen. Einmal wollte sie noch aufgerichtet werden, dann verschwand das Bewusstsein. Nun dürfen wir der lieben Mutter die Ruhe gönnen und ihr die Erde nicht durch allzu viel Klagen schwer machen.«

Zum Schluss folgte ihr Lieblingsspruch.

»Ausgelitten, ausgestritten auf der Erde, eingezogen in die sel’ge Ferne!«

Sie kümmerte sich jetzt um das Allernotwendigste, denn Vater war ja noch in Frankreich an der Front.

Tante Elschen nahm die kleine Martha nach der Beerdigung mit nach Rheda. Erich und ich gingen hier in Kalk weiter zur Schule. Johanna blieb natürlich weiterhin unsere Haushälterin. Als Vater endlich kam, gab es für mich kein Halten mehr. Ich verlor die Fassung und weinte und weinte. Er sah mich eine Weile stumm an und verließ dann das Zimmer. Ich blickte ihm voll Jammer hinterher. Wollte er mich denn nicht trösten? Es war doch alles so furchtbar traurig. Was hatte ich falsch gemacht, dass er mich nicht wenigstens in den Arm nehmen wollte? War es falsch, traurig zu sein? Nicht allzu viel klagen, hatte Tante Elschen gesagt, dass es der Mutter nicht zu schwer würde. Ich würgte den dicken Kloß im Hals hinunter und nahm mir vor, nie wieder eine Träne zu vergießen. Wenn, dann weinte ich später aus Wut, aber das kam nicht oft vor, denn ich war ja von Natur aus ein heiterer Mensch.

Vater gefiel das schwarze Zeugs, wie er meine Kleider nannte, überhaupt nicht, auch nicht meine ewige Trauermiene, wie er es nannte. Seine Art war es, mit seinem vergnügten Naturell den Alltag neu zu ordnen und nach vorne zu blicken. Er war immer ein lustiger Mann gewesen und schien seine Traurigkeit einfach weg zu lachen. Da Erich das sehr gelegen kam, fühlte ich mich mit meiner Traurigkeit sehr alleine. Nur bei Johanna fand ich Trost.

»Soldaten weinen nicht.«, erklärte sie mir. Ich war ein Soldatenkind. Dann galt das wohl auch für mich.

Ich hörte, wie sie einer Nachbarin erzählte, dass Herr Schmidt und die armen Kinder das Geschick gefasst und still ergeben tragen.

1927

Viel zu weit weg

Zu Beginn des neuen Jahres, Ingeborg war gerade vier Monate alt geworden, schickte uns unser Hausarzt nach Münster. Er konnte sich nicht erklären, warum es ihr immer schlechter ging. Bangen Herzens brachten wir sie, in warme Tücher gewickelt, mit der Eisenbahn dort ins Krankenhaus. Unterwegs sprachen wir kein Wort. Für unsere größte Sorge hatten wir keine Sprache. Wilhelm starrte aus dem Fenster und mein Blick wanderte zwischen dem kleinen Mädchen in meinem Arm und einer unklaren Ferne hin und her.

Doch auch in der Kinderklinik ergab die Untersuchung keinen klaren Befund. Der Arzt vermutete eine beginnende Lungenentzündung und legte uns nahe, sie bei ihnen zu lassen.

In der folgenden Zeit fuhr ich jede Woche einmal hin, um unsere Kleine zu besuchen.

Das Haus fühlte sich seltsam leer an ohne sie. Natürlich hatte ich jetzt mehr Zeit für Hans Peter, er hatte oft warten müssen, bis er an der Reihe war. Doch auch er schien seine Schwester zu vermissen. Er blickte sich manchmal wie suchend um. Auch weinte er viel in dieser Zeit und ließ sich nur schwer beruhigen. Das Zusammensein mit diesem doch eigentlich munteren Kerlchen tat mir gut, er tröstete mich über den leeren Platz an seiner Seite hinweg. Immer wieder wanderten meine Gedanken zu Ingeborg nach Münster. Ich sollte nicht zu oft kommen, hatten die Krankenschwestern mir geraten. Das arme Kind hatte so geweint, als wir sie dort gelassen hatten, dass sie wieder eine Atemnot entwickelt hatte. Es würde sie nur beunruhigen und sie könnte sich ohne uns besser an die neue Umgebung gewöhnen.

Mir schien, ihre Augen waren noch größer geworden, wenn sie mich bei meinem Besuch anblickte. Manchmal kam Wilhelm auch mit, dann suchten wir das Gespräch mit dem Chefarzt. Dieser vermutete, dass sie vielleicht einen angeborenen Riss im Zwerchfell haben könne, der ihr so zu schaffen machte. Wenn sie ein Jahr alt werden sollte, könne ein chirurgischer Kollege eine Operation versuchen. Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen.

Im Februar fuhr Wilhelm für eine Woche mit seinen Schülern »auf große Fahrt«, wie die Abschlussfahrt bei uns im Haus hieß, nach Oldenburg und Quakenbrück. Am letzten Abend sollte es, zurück bei uns in der Volkshochschule, eine große Abschiedsfeier geben. Auch alle Eltern waren eingeladen.

Zwei Tage vorher erreichte mich eine Postkarte aus Münster. Der Oberarzt schrieb, dass sich Ingeborgs Zustand verschlimmert habe. Ich war hin und her gerissen, ob ich sofort nach Münster fahren sollte. Der Entschluss, auf Wilhelm zu warten und mit ihm gemeinsam zu fahren, fiel mir schwer. Letztlich, wenn ich ganz ehrlich zu mir sein sollte, traute ich es mir nicht zu. Ich wusste nicht, ob ich meine Fassung würde halten können, ob ich es aushalten könnte, unser kleines Mädchen sterben zu sehen. Alles ohne ihn.

Am Morgen des Tages, als ich ihn mit der Gruppe zurückerwartete, erreichte mich der Anruf, dass sie in den Morgenstunden gestorben sei. Jetzt war es für mich keine Frage mehr, ich machte mich sofort auf den Weg. Ich hatte keine Tränen während der ganzen Fahrt, ich fühlte nichts. Der Chefarzt hatte erst ein einziges Mal dieses Krankheitsbild gesehen und erbat die Zustimmung zu einer Obduktion. Natürlich stimmte ich zu und ging davon aus, dass es auch in Wilhelms Sinne war.

Als ich nachmittags nach Hause kam, war die Gruppe noch immer nicht zurück. Als sie endlich kam, musste ich Wilhelm die traurige Nachricht überbringen. Zunächst konnte er sie sich nur anhören. Jetzt musste er erst die aufgeregten Schüler und die Abschiedsfeier mit den Eltern am selben Abend bewältigen, bevor er sich unserem Kummer stellen konnte. Es fühlte sich für mich an wie ein völlig falsches Leben, als ich mit ihm zur Abschiedsfeier ging und mich schweigend dazu setzte.

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