Kitabı oku: «Die Nähe der Nornen», sayfa 2

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1. Der Fluch der Wahrheit

Philip hatte die Wahrheit wissen wollen, doch nun traf sie ihn wie ein Keulenschlag aus dem Dunkel. Das war eindeutig zu viel Wahrheit für nur eine einzige Nacht. An die Tatsache, dass ein Elbe zu seinen Vorfahren gehörte, hatte er sich schon beinahe gewöhnt, aber dass die Menschen, bei denen er aufgewachsen war, denen er vertraute und die er liebte, nicht seine Eltern waren, konnte er noch nicht begreifen.

Alles, was ihm in seinem Leben Halt und Sicherheit gegeben hatte, war mit einem Schlag zerbrochen. Sein ganzes Leben baute auf einer Lüge. Ausgedacht von ein paar Menschen, die es für richtig hielten, es nach ihrem Willen umzukrempeln und ihm nichts davon zu sagen. Er war wütend und er war traurig. Wütend, weil er sich hilflos fühlte, traurig, weil er alles verloren hatte. All die Wochen und Monate, in denen er allein und fern seiner Heimat umhergeirrt war, hatte er sich gewünscht, dass alles wieder so wurde wie Früher. Aber nun konnte nichts mehr so werden.

Die große Familie, in der er aufgewachsen war, war nicht seine. Er hatte keine Eltern und keine Geschwister. Er war allein. Ganz allein.

Blind starrte er auf den Schlüssel in seiner Hand. Dass er der Erbe der alten Könige sein sollte, hatte er noch nicht begriffen. Es gab nur den Namen seines Vaters, eines Mannes, den er nicht kannte und von dem er nichts wusste, außer, dass er tot war. Tot wie seine Mutter – und er war alleine.

Es gab nur noch Philip – und noch nicht einmal das. Sein Name war Philmor, und Philmor war ein ganzes Jahr älter als Philip.

Was blieb jetzt noch von ihm übrig? Früher hatte er manchmal Kraft daraus geschöpft, zu wissen, wer er war und wo er herkam. Doch jetzt gab es das alles nicht mehr. Plötzlich hatte er keine Vergangenheit mehr … und keine Zukunft.

Dekan Resilius verneigte sich vor ihm und sagte »mein König«, aber Philip konnte damit nichts anfangen. Er ließ den Schlüssel fallen, sprang auf und rannte davon. Die Lichtung hielt ihn gefangen. Dunkler, verfilzter Wald, der nirgendwo hinführte, und der nahe Abgrund waren seine Wächter. Vor dem abfallenden Hang blieb Philip stehen und sah in die Ferne.

Ein silberner Streifen zeichnete sich am Horizont ab. Nach und nach wuchs eine milchige Sonne aus dem Boden.

Unverwandt sah er ihr zu, wie sie Zoll um Zoll höher stieg und runder wurde.

»Deine Urgroßmutter, meine Tochter Helena, stand morgens oft auf einer Anhöhe und sah der Sonne beim Aufgehen zu. Sie sagte, dass sie in dieser stillen Morgenstunde ihren Liebsten, und damit meinte sie dich und Josephine, am nächsten wäre.«

Philip drehte sich zu Frendan’no – dem Elben, der sein Ururgroßvater war – um. In seinem Gesicht stand eine hilflose Frage, die seine Lippen nicht erreichte.

»Ich wusste bis vor Kurzem nichts von der Bestimmung deines Vaters«, erklärte der Elbe. »Alles, was ich über ihn wissen wollte, sah ich in seinen freundlichen grünen Augen und in der Liebe, die er deiner Mutter und dir entgegenbrachte.«

Bei dem Wort Mutter zuckte Philip zusammen. Seine Mutter war Josephine. Sie hatte seine Tränen getrocknet und seine Wunden versorgt. Sie hatte an seinem Bett gesessen, und unter ihre Decke war er geschlüpft, wenn ihn wilde Träume aus dem Schlaf rissen. Sie hatte ihn angelogen.

»Ich verstehe deine Trauer und ich spüre deinen Schmerz. Du glaubst, alles verloren zu haben, aber so ist es nicht. Josephine hat dich vergöttert und sie tut es heute noch. Ich war zufrieden damit, dass sie dich zu sich nahm. Es war richtig so. In meinem Herzen haben Felicitas und Josephine immer den gleichen Stellenwert gehabt. Zürne ihr nicht. Sie hätte es dir bestimmt selbst gesagt, doch die Zeit ist ihr dazwischengekommen. Phine erfuhr auch erst am Tag ihrer Verlobung von meiner Existenz.« Frendan’no machte eine kurze Pause. »Ein Geheimnis zu bewahren, ist eine Last, doch irgendwann gewöhnt man sich daran und es wird schwer, den Moment zu finden, an dem es Zeit ist, es zu lüften. Ich bin mir sicher, dass sie dich schützen wollte, indem sie dir die Last dieses Geheimnisses ersparte. Du wurdest ihr Kind, möglicherweise hatte sie Angst davor, dich zu verlieren.«

Frendan’nos Worte vermochten Philips Schmerz nicht zu lindern, sie zügelten nur seine Wut. Die Trauer blieb. Bei seiner Mutter … bei Phine, verbesserte er sich, konnte er sich zumindest noch einreden, dass sie eine nahe Verwandte war, aber wer war Feodor? Wer war der stille Mann mit den großen, rauen Händen? Wer war der Mann, der ihn im wilden Galopp über die Streuobstwiese getragen hatte, so wie er es heute noch manchmal mit den Zwillingen machte? Er war doch sein Vater! Und doch war er es nicht. Was hatte Feodor gesagt, als er Philip das Kettenhemd überreichte? Philip grübelte, aber die Worte wollten ihm nicht einfallen. Es war das letzte Mal, dass er seinen Vater gesehen hatte, aber die Worte fielen ihm nicht ein.

Verzweifelt sah er sich nach allen Seiten um, als ob er sie noch irgendwo finden könnte. Der Kloß in seinem Hals wurde immer dicker. Fast hatte er das Gefühl, er müsste daran ersticken.

Wie durch einen Schleier sah er die Gestalten bei den Zelten. Olaf, der sich gähnend am Hinterkopf kratzte und dann erstaunt vor dem Eingang des Zeltes stehen blieb, als er merkte, dass sich über Nacht einiges draußen verändert hatte. Leron’das, der sich mit Dekan Resilius unterhielt, zwei weitere Elben, die aus einem der Zelte kamen und aus der Glut wieder ein kleines Feuer entfachten.

Die Sonne stieg höher und löste sich aus dem Dunst. Ihre Strahlen streiften die Hügel und Täler, brachten Bäche zum Glitzern und Wiesen zum Leuchten.

Philip hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, keinen Halt mehr in dieser Welt. Er sah nicht die Hand, die Frendan’no ihm reichte und auch nicht die ratlosen Gesichter der anderen, als er an ihnen vorbei in das Zelt stürmte und sich die Decke über den Kopf zog.

»Hör zu! Langsam wird mir das ganze Theater hier unheimlich.« Olaf saß auf den Boden und sah Philip an. Dieser lag seit fast zwei Tagen nur teilnahmslos auf dem Rücken und starrte den weißen, spinnwebfeinen Vorhang über seinem Bett an, als ob er all die Weisheit dieser Welt in ihm zu finden glaubte.

»Du liegst da und sagst kein Wort. Die Schönen huschen wie Schatten über die Wiese und beachten mich kaum. Ich bin doch kein Schaf, aber so komme ich mir vor. Wenn ich bäh mache, erhalte ich ein wohlwollendes Lächeln, wenn ich etwas frage, geschieht das Gleiche. Niemand spricht mit mir. Niemand sagt mir, was los ist. Selbst dieser Leron’das, der am Anfang noch beinahe normal wirkte, wird immer eigenartiger, seit der Dekan Resilius sich auf den Weg nach Eberus gemacht hat.« Olaf seufzte. »Du antwortest mir noch nicht einmal, wenn ich mit dir spreche.« Er räusperte sich. »Was ist denn geschehen? Resilius sagte mir, ich solle dich fragen, denn ihm würde es nicht zustehen, darüber zu reden. Das ist auch so etwas! Ich bin ein einfacher Mann. Ich spreche selbst unseren Dorfprediger mit Hochwürden an, aber Resilius sagt, ich gehöre jetzt zum Kreis des Vertrauens … Verstehst du das? Er ist der zukünftige Episkopos von Corona, der wichtigste Mann der Kirche nach dem Archiepiskopos und Gott, und er sagt: Sag Du zu mir, ich heiße Resilius. Ich kann damit nicht umgehen. Wenn ich zu Hause bin und Du zum alten Gerus sage, dann zieht er mir heute noch die Ohren lang, wie damals als Kind, als ich auf dem Friedhof hinter den Grabstein gepinkelt habe.«

Philip rührte sich immer noch nicht.

Olaf stand auf. »Sprich wieder mit mir. Sag mir, was ich tun soll.« Er wandte sich ab und ging zum Ausgang. Als er die Zeltklappe zurückschlug, murmelte Philip:

»Es tut mir leid.«

Olaf blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Hast du was gesagt?«

Philip richtete sich auf und sah Olaf an. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht weiter. Ich bin verwirrt. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Mir brummt der Kopf.«

»Ist schon gut, lass dir Zeit, ruh dich aus«, lenkte Olaf ein.

»Ich werde dir sagen, was geschehen ist. Ich bin es dir schuldig.« Philip setzte sich jetzt aufrecht hin, sah Olaf eine Weile traurig an und senkte dann den Blick zu Boden.

»Ich habe erfahren, dass ich nicht der bin, der ich zu sein glaubte. Meine Eltern sind nicht meine leiblichen Eltern, denn die starben kurz nach meiner Geburt.«

Olaf setzte sich neben Philip. »Das tut mir leid. Heißt das etwa, dass du nicht der Baron von Wasserfurt bist?«

Philip zuckte mit den Schultern. »In gewisser Weise heißt es das.«

»Es geht um Arina … ich meine, um die junge Gräfin. Stimmt’s! Du glaubst, dass der Graf sie dir jetzt nicht mehr zur Frau gibt? Wenn es darum geht, ich schweige wie ein …«

»Darum geht es nicht. Ihr Vater weiß, dass ich kein Baron von Wasserfurt bin. Er wollte, dass ich einer werde. Es ging nur darum, dass mich auf der Reise keiner erkennt. Hast du es denn vergessen? Der König und der Zauberer suchten nach mir, als ich in der Säbelau ankam.« Philip zuckte erneut mit den Schultern. »Die ganze Maskerade hat nicht viel genutzt, ein Zauberer hat mich dennoch aufgespürt.«

»Moment! Gib mir einen Moment, um zu verstehen, was du mir sagst. Hilmar von Weiden weiß, dass du kein Abkömmling derer von Wasserfurt bist, und verleiht dir trotzdem diesen Titel. Er schenkt dir ein Stück von seinem Land und erlaubt dir, dich als Verlobter seiner Tochter auszugeben.« Olaf pfiff durch die Zähne. »Alle Achtung! Er muss ΄ne Menge von dir halten.«

Philip zuckte wieder mit den Schultern, es schien alles zu sein, wozu er fähig war. »Wären Agnus und Walter nicht gewesen, hätte er mich möglicherweise sofort ausgeliefert. Ich hatte einfach nur ein bisschen Glück.«

»So kann man das auch nennen. Aber jetzt verstehe ich deine Sorgen erst recht nicht.«

Philip sah Olaf von der Seite an. »Ich habe keine Eltern, und die, die ich dafür hielt, haben es nicht für nötig befunden, mir das zu sagen.«

»Haben sie dich irgendwie schlecht behandelt, geschlagen, niedere Arbeiten verrichten lassen?« Olaf versuchte, mitfühlend auszusehen, aber es war ihm deutlich anzusehen, dass er nicht nachvollziehen konnte, was Philip derart aus der Bahn warf.

Philip holte tief Luft. Jetzt, da er begonnen hatte, darüber zu sprechen, wollte er es Olaf erklären. »Sie haben mich nie schlecht behandelt, wir hatten ein gutes Verhältnis, aber … aber das ist das Schlimmste daran. Ich dachte, sie wären meine Familie ... doch ich gehöre nicht dazu.«

»Das ist Blödsinn«, sagte Olaf. »Entschuldige, dass ich dir das so sage, aber es ist ausgemachter Blödsinn. Deine Eltern wussten die ganze Zeit über, dass du nicht ihr Kind bist, und haben dich trotzdem so behandelt, als wärst du es. Glaubst du wirklich, dass sich etwas daran geändert hat, nur, weil du es jetzt auch weißt?«

»Ja! Für mich hat sich was geändert. Sie hätten es mir selbst sagen müssen.«

»Du bist kleinlich.«

»Bin ich nicht!«, rief Philip empört. »Mein Leben ist eine Lüge, nichts stimmt, alles ist erstunken und erlogen. Ich heiße nicht Philip, sondern Philmor, und bin ein ganzes Jahr älter, als ich dachte. Ich wurde dort unten in Corona geboren. Mein Urgroßvater ist ein Elbe und mein Vater war der rechtmäßige Erbe der Könige von Kronthal, ehe jemand sein Leben und das meiner Mutter deswegen auslöschte.« Philip sprang auf und stürmte aus dem Zelt.

Zurück blieb ein ratloser Olaf, der auf die wehenden Stoffbahnen an der Zeltöffnung starrte.

Frendan’no holte Philip ein, bevor der den Wald erreicht hatte, und ging schweigend neben ihm her. Als seine Schritte langsamer wurden und der gehetzte Ausdruck aus seinen Augen verschwand, setzte der Elbe zum Sprechen an.

»Ich habe gehört, was du deinem Freund gesagt hast«, begann er.

Philips Kopf war leer, er wusste nicht mehr, was er Olaf gesagt hatte. Zumindest konnte er sich nicht an seine Worte erinnern.

»Du bist verletzt und immer noch zornig, aber du richtest deinen Zorn gegen die Falschen«, mahnte der Elbe. »Deine Mutter – Felicitas – nannte dich Philip. Vom ersten Tag an nannte sie dich so. Ich nehme an, dass du bei deiner Weihe nur deshalb als Philmor in den Kirchenbüchern eingetragen worden bist, weil der Umbruch nahe schien, weil dein Vater sich darauf vorbereitete, sein Geburtsrecht geltend zu machen.«

Philip blieb stehen.

Frendan’no sah ihn beinahe schuldbewusst an. »Seit ich mich damit beschäftige, und das tue ich noch nicht sehr lange«, gestand er, »weiß ich, dass die damalige Königin, Eleonore, einige Wochen nach deiner Geburt starb. Die Kunde von ihrem Tod erreichte die Stadt Corona ein paar Tage vor dem Weihfest.«

»Wie hieß mein Vater?«, fragte Philip leise.

»Clemens«, antwortete Frendan’no. »Viele deiner Vorfahren hießen so, zumindest steht es so in den Aufzeichnungen der Kirchenarchive. Es gab auch etliche Philmors und Peredurs. Die Listen sind nicht sehr abwechslungsreich.«

»Gab’s noch irgendeinen Philip?«

Frendan´no schmunzelte. »Wäre es denn wünschenswert?«

Philip zuckte mit den Schultern. Er wusste es selbst nicht. Es war nur so ein Gedanke, weil so viele Vornamen mir P anfingen. Mit einem ziehenden Schmerz in der Magengegend wurde ihm bewusst, dass alle seine Brüder einen Namen trugen, der mit J begann. Alle außer ihm! Inbrünstig wünschte er sich, dazuzugehören, wieder einer von ihnen zu sein. Aber dieses Privileg wurde ihm genommen. Er war ein Außenseiter.

Frendan’no wich nicht von seiner Seite, aber seine Nähe wirkte nicht aufdringlich, sondern fühlte sich an wie die natürlichste Sache der Welt. Er war das, was er in all den Jahren, für seine Tochter und alle seine Kindeskinder gewesen war. Ein guter Geist, der seine Hand schützend über ihn hielt. Philip spürte den Hauch einer Erinnerung und die Geborgenheit, die in ihr lag.

Als sie Stunden später zurück ins Lager kamen, war Philip ruhiger. Der Schmerz und das deutliche Gefühl etwas verloren zu haben, blieben jedoch bestehen.

Die Wiese lag dunkel vor dem leicht rötlich schimmernden Himmel über der Schlucht. Das Feuer glimmte behaglich und leuchtete einen Fleck auf der freien Fläche aus. Schattenhafte Gestalten saßen um die Glut.

Als Philip und Frendan’no aus dem Dunkel in den Lichtkreis des Feuers traten, sprang Olaf auf und verbeugte sich tief. Sein Knie berührte den Boden.

Philip sah ihn verständnislos an. »Was tust du da?«, fragte er.

»Ich neige mein Haupt vor dem verschollenen König und bitte um die Gnade, Euch dienen zu dürfen.«

»Bist du von allen guten Geistern verlassen. Hör sofort mit dem Unsinn auf.«

Olaf erhob sich zwar, aber seinen Blick hielt er gesenkt, und er sah aus, als ob er jederzeit bereit wäre, wieder auf die Knie zu fallen.

Aus Philips Unverständnis wurde Fassungslosigkeit, doch bevor er sich über sein weiteres Empfinden klarwerden konnte, berührte ihn Leron’das leicht am Arm.

»Es freut mich, dass du dich nun zu uns gesellst. Wenn du willst, könnten wir jetzt gemeinsam ein Mahl einnehmen.«

Auch Leron’das wirkte förmlich und steif. Philip setzte sich ans Feuer. Er hatte einen Bärenhunger und keine Lust, sich über das eigenartige Verhalten seiner Freunde Gedanken zu machen. Aus dem Kessel duftete es verführerisch.

Während des Essens wurde nicht viel gesprochen, aber als Philip seine leere Schüssel von sich schob und sich zufrieden streckte, spürte er Leron’das΄ Blick auf sich ruhen. Olaf sammelte hektisch Philips Geschirr ein und ging mit einem der Elben davon.

»Wir haben viel zu besprechen, und wenn du erlaubst, würden wir dir gerne bei der einen oder anderen Sache beratend zur Seite stehen«, begann Leron’das. »Es ist nicht leicht für dich. Auch für mich war es überraschend und erschreckend zugleich, als ich erfuhr, dass du derjenige bist, den ich die ganze Zeit über gesucht habe. Destina’riu, die Norne des Schicksals, war mir wohlgesonnen, doch ich war nicht in der Lage, diese Gunst zu erkennen. Ich bin froh, dass du es bist. Schon allein deine Herkunft gibt uns Elben Grund, zu hoffen.«

Philip suchte Worte, fand aber keine. Offensichtlich ging Leron’das davon aus, dass er sich in den vergangenen Tagen Gedanken über das Erbe seines unbekannten Vaters gemacht hatte, aber dazu war er noch gar nicht gekommen. Es gab noch keine Verbindung zwischen dem verschollenen König und Philip. Er fühlte sich überrumpelt und sein kaum gefundenes Gleichgewicht geriet wieder ins Wanken. Er dachte an Olaf, der in dieser scheußlichen Demutshaltung vor ihm niedergekniet war. Sie waren doch Gefährten. Freunde. Obwohl Olaf glaubte, Philip sei Herr über ein übersichtliches Stück Land.

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin das nicht«, murmelte er. »Ich kann das nicht.«

»Wer, wenn nicht du?«, fragte Leron’das. In seinen Augen stand jedoch keine Frage, sondern eine Aufforderung, die Philip erschreckte. Er wusste, wie viele Hoffnungen auf Peredurs Erben lasteten. Agnus, Hilmar, Vinzenz – sie alle warteten nur darauf, sich ihm anschließen zu können. Die Elben – sie hatten ihn gesucht, um ein neues Zeitalter einzuläuten.

Wie viele Hoffnungen hatte Philip selbst in diesen unbekannten König gesteckt? Hoffnungen, die jetzt wie Seifenblasen in der Luft zerplatzt waren. Heute wusste Philip um die Leichtfertigkeit, zu glauben, dass einer von königlichem Geblüt reichen würde, um dem Zauberer und König Levian die Stirn zu bieten.

Wer war Peredurs Erbe? Ein unreifer Junge ohne Einfluss – ohne Familie. Was konnte er schon vollbringen, außer, all die, die gehofft hatten, zu enttäuschen.

Philip hatte hier auf diesem Berg nicht nur seine Familie verloren, sondern auch seine Freunde. Sie brauchten einen starken König. Aber das war er nicht, und darum war es besser, wenn sie niemals erfuhren, was er hier auf diesem Berg erfahren hatte. Nie wieder konnte er ihnen unter die Augen treten. Niemals von diesem Berg hinabsteigen. Es gab dort unten keinen Platz mehr für ihn.

Und Arina … So schnell es ging, schob er den Gedanken beiseite, aber er konnte nicht verhindern, dass der Schmerz sich noch tiefer in sein Herz bohrte. Frendan’nos Nähe schenkte ihm die Geborgenheit einer warmen Stube in einer stürmischen Winternacht.

»Bring mich weg von hier«, bat Philip ihn. »Bring mich irgendwo hin, wo mich niemand findet.«

»Du kannst dich vor deiner Verantwortung nicht verstecken. Du bist der letzte Erbe der Kronthaler Könige«, sagte Leron’das bestimmt.

»Ich bin niemand.« Philip stand auf.

Geschmeidig wie eine Katze stellte sich ihm Leron’das in den Weg. »Du kannst jetzt nicht gehen! Dein Vater starb, bevor er seiner Bestimmung folgen konnte. Deine Mutter trug dich, die letzte Hoffnung …«

»Der, der mein Vater war, ist Schmied und meine … Mutter trägt viele Hoffnungen, nicht zuletzt Lume’tai, die eure Hoffnung ist. Ich bin ein einfacher Junge aus Waldoria, ich bin kein König!« Er wandte sich an Frendan’no. »Zeig mir den Hang, an dem meine Urgroßmutter stand.« Dann ließ er Leron’das stehen, um seine Sachen zusammenzusuchen. Als er wieder heraustrat, ging er zielstrebig zu den Koppeln. Dort warteten der Esel Lu und sein Pferd Erós, die ihm trotz aller Widrigkeiten dieser Zeit als Gefährten erhalten geblieben waren.

Leron’das stand ebenfalls dort und streichelte den Esel zwischen den Ohren. Er sah nicht auf, obwohl er Philips Kommen bemerkt haben musste.

»Erinnerst du dich noch an den Tag am Bach? Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich mit Walter und dir über die Nachkommen von Peredur sprach? Damals war ich fest davon überzeugt, dass es viel mehr sein müssten, denn in Pal’dor war bekannt, dass Peredur drei Kinder hatte. Die Anzahl seiner Enkel und Urenkel hätte folglich erheblich sein müssen. Als ich jedoch nach langem Suchen endlich die Stammbäume in den Händen hielt, stellte ich fest, dass die Norne Varsa’ra unter den Menschen wütet wie eine Sichel im Kornfeld. Du und Walter, ihr wolltet dafür sorgen, dass ein Heer für den Königserben bereitsteht.«

»Das haben wir mehr oder weniger getan. Wir haben Vinzenz, Hilmar und Agnus davon erzählt und sie haben sich um alles Weitere gekümmert.«

»Aber wenn du dich deinen Aufgaben nicht stellst, werden sie es umsonst getan haben. Sie brauchen einen König. Sie brauchen dich. Sie vertrauen dir.«

»Wüssten sie, wer der Nachkomme Peredurs ist, würden sie es nicht tun. Ich kann das nicht. Ich habe keine Ahnung davon, was getan werden muss. Ich weiß nicht, was richtig und was falsch ist. Niemand würde mir folgen, niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, würde mehr in mir sehen, als einen zu groß geratenen Tollpatsch.« Er streichelte seinem Pferd über die Nüstern. »Es ist noch kein Jahr her, da lag ich sterbend in einem Wald. Es ist noch kein Jahr her, da haben die Mächte dieser Welt sich in den Kopf gesetzt, mir Stück für Stück mein Leben zu rauben. Jetzt ist es ihnen gelungen. Ich habe kein Leben mehr. Auf meiner Vergangenheit lasten so viele Lügen. Darauf lässt sich keine Zukunft aufbauen.«

»Das stimmt alles nicht. Aber wenn ich dir das hier und heute erkläre, wirst du mir nicht glauben. Geh mit Frendan’no hinauf in die Berge. Niste dich ein zwischen Steinen und ewigem Eis. Finde deine Wurzeln, die sowohl dort oben als auch hier unten liegen und schau nach Norden, bis du die Zinnen von Waldoria entdeckst. Aber bedenke, dort oben steht die Zeit still, während hier unten deine Freunde einen verzweifelten und derzeit hoffnungslosen Kampf führen.« Leron’das ließ den Kopf hängen. »Es gibt zwei Menschen, die wissen, wer du bist«, murmelte er. »Sie lieben dich und sie werden es dir nicht verübeln, wenn du dich nicht zeigst, aber sie wissen es und werden bis zuletzt hoffen.«

Philip wandte sich ab. Leron’das΄ Worte trafen ihn, aber er wusste nicht mehr, was er denken, was er fühlen sollte. Hilflos suchte er nach Worten, die es erklären konnten.

»Seit ich mein Elternhaus verlassen habe, weiß ich, dass es Geheimnisse gibt, von denen sie mir nichts erzählt haben. Nach und nach habe ich in schmerzlichen Erfahrungen selbst einiges herausgefunden, und es erschien mir wichtiger, denn je, nach Corona zu kommen.« Er drehte sich um und sah den Elben an. »Es ist so schrecklich! Ich habe keinen Boden mehr unter den Füßen. All die furchtbaren Dinge, die geschehen sind: Theophils Tod, meine Flucht durch den Wald, die Stimme des Zauberers in meinem Kopf, sie bekommen ein ganz anderes Gewicht. Aber auch das Stillschweigen meiner Eltern.« Er begann, sein Pferd zu satteln.

»Trägst du noch das Hemd der Albara’n?«, fragte Leron’das.

Philip hielt überrascht inne. »Ja«, sagte er.

»Ich habe herausgefunden, wie du dazu kamst.«

Philip war sich nicht sicher, ob er noch eine weitere Wahrheit hören wollte, oder ob es nicht besser war, etwas nicht zu wissen. Doch er sagte nichts und Leron’das fuhr fort.

»Peredur hatte eine Geliebte in Pal’dor. Meine traurige Base Sili’rana. Sie schenkte ihm das Hemd zum Abschied, als er Pal’dor für immer verließ. Das Hemd und die Silberpappel, die er auf dem Turmberg einpflanzte. Zwischen ihren Wurzeln vergrub er sein Geheimnis, den goldenen Schlüssel der Könige. Solltest du je den Wunsch verspüren, das Vermächtnis deiner Ahnen zu kennen, werde ich dich zu der Türe bringen. Sie zu öffnen, liegt allein in deiner Hand.«

Frendan’no sagte, dass er Philip den beschwerlichen Weg in die Berge gerne durch geebnete Pfade erleichtert hätte. Aber da Philip die Höhe nicht gewohnt war, gab es für ihn nur die Möglichkeit, Schritt für Schritt höher zu steigen, dann wieder hinab in das nächste Tal zu gehen und schließlich weiter hinauf.

Viele Tage gingen sie gemeinsam in einem endlosen Labyrinth von Tälern zwischen schroffen Bergflanken nach oben. Obwohl sie keinen einzigen Gipfel erklommen, stieg ihr Pfad beständig an. Manche Täler waren so schmal und tief, dass die Sonne ihren Grund nur um die Mittagszeit für einige Augenblicke streifte.

Nach vier Tagen standen sie zum ersten Mal auf einem Gipfel. An den Hängen unter ihnen lagen verstreut einige Bergdörfer und Hirtenhäuser. Dabei waren viele Hänge so steil, dass es aussah, als würde der Berg senkrecht aus dem Boden wachsen.

Wie lebte es sich wohl in einem solchen Gebirgsdorf, wo man den ganzen Winter über von der Außenwelt abgeschottet war? Sogar hier im Süden, wo die Winter dafür bekannt waren, mild und schneearm zu sein, gab es in dieser Höhe, auch jetzt mitten im Launing, noch weitläufige Schneefelder.

»Wenn du dein Auge bemühst, kannst du vielleicht schon den Pia’tar de Giaz sehen, auf dem Munt’tar liegt. Die Menschen hier oben nennen ihn Elbenstein.« Frendan’no lächelte verschmitzt. »Dabei lautet seine richtige Bezeichnung Eisstein.«

»Wissen die Menschen hier oben von euch?«, fragte Philip.

»Wenn du fragst, ob manche von ihnen schon einmal in Munt’tar waren, dann sage ich: nein. Rond’taro ist meines Wissens der Einzige, der in den letzten tausend Jahren die Tore einer Elbenstadt für Menschen geöffnet hat. Aber wir treffen die Menschen ab und an in der Stille der Berge. Wenn Lawinen Dörfer überrollen, versuchen wir, ihnen zu helfen. Manche von ihnen nennen uns deswegen auch Lawinendämonen.«

»Das ist nicht die Form von Dankbarkeit, die zu erwarten wäre«, sagte Philip empört, aber Frendan’no lächelte mild.

»Es geht uns nicht um ihre Dankbarkeit. Wenn sich ein Schaf verläuft, helfen wir ihm auch zurück zu seiner Herde, und sobald es sie sieht, rennt es blökend davon. Die Berge sind wilde, unberechenbare Geschöpfe. Wer hier wohnt, liebt sie. Die Menschen wie die Elben und die Tiere. Wir alle wissen um diese Liebe des anderen, und trotzdem bleibt jeder am liebsten unter seinesgleichen.«

Philip nickte und versuchte, unter all den weißen Spitzen die eine auszumachen, die Frendan´no Eisstein genannt hatte.

»Aber meine Urgroßmutter war doch in Munt’tar«, bemerkte Philip plötzlich.

»Sie war meine Tochter, eine halbe Elbin, auch wenn sie sich für ein menschliches Leben entschieden hatte.«

»Wie geht das?«, fragte Philip. »Kann man sich das aussuchen?«

Frendan’no lachte. Es war das erste Mal, dass Philip ihn lachen hörte, aber als der Elbe Philips verständnislosen Blick bemerkte, wurde er wieder ernst.

»Es gibt viele Entscheidungen, die man in einem Leben treffen kann, auch in einem kurzen Menschenleben. Wusstest du, dass dein Vorfahre Peredur auch die Wahl zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit hatte? Du hast diese Wahl auch, aber in deinem Fall verhalten sich die Dinge etwas anders.«

»Ich verstehe nichts!«, gestand Philip.

»In den frühen Zeiten, als die Menschen und die Elben noch nebeneinander in Frieden lebten, kam es öfter vor, dass sich zwei ungleiche Wesen ineinander verliebten. Die Liebe ist das Wichtigste, aber sie ist nicht das Einzige, was benötigt wird. Blut besiegelt einen solchen Bund und ein Ort der Macht. Die meisten von uns werden an einem solchen Ort geboren.«

»Dann kann also jeder Mensch unsterblich werden?«

»Wenn er von einem Elben geliebt wird und diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruht.«

»Das heißt, Peredur wurde von einer Elbin geliebt«, stellte Philip fest. Leron’das hatte dies bereits erwähnt, aber damals war Philip nicht nach Geschichten zumute gewesen.

Frendan’no nickte. »Von mehr als einer. Er wuchs in Pal’dor auf.«

»Aber wieso habe ich diese Wahl?« Endlich hatte Philip jemanden gefunden, der bereitwillig seine Fragen beantwortete.

Frendan’no lächelte. »In deinen Adern fließt mein Blut, und auch wenn du nicht Rosis Schoß entsprungen bist, so bist du dennoch in gewisser Weise auch mein Kind und genau so liebe ich dich. Wenn du es willst, wird dein Leben so lange währen, wie deine Verbundenheit mit den Elben besteht.«

»Warum hat Rosi das nicht gemacht? Warum keins ihrer Kinder bisher?« Philip bereute seine Frage, kaum, dass er sie ausgesprochen hatte.

Frendan’nos Gesicht wurde traurig, das Licht in seinen Augen trübe, aber er antwortete trotzdem. »Warum Rosi es nicht tat, kann ich nicht sagen. Viele Nächte dachte ich darüber nach. Sie hat meinetwegen viel erduldet, aber sie scheute sich, mit mir zu gehen. Meine Tochter und auch deren Kinder, genauso wie deine Mutter und Josephine erfuhren von mir erst nach ihrem Eintritt ins Erwachsenenalter. Sie alle hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits für ihr Leben gebunden.«

Philip spürte Frendan’nos Blick, aber er fürchtete sich davor, ihn anzusehen. Er fürchtete sich davor, in den Augen des Elben den Wunsch zu sehen, der in dessen Worten mitgeschwungen war. Er dachte an Arina. Zum ersten Mal seit jener Nacht auf der Lichtung ließ er den Gedanken an sie zu. Es war schmerzhaft. Philip hatte ihr versprochen, nach Eberus zu reisen, und er wünschte sich mehr als alles andere, er könnte dieses Versprechen einhalten. Würde sie verstehen, dass er sich auf gar keinen Fall zu erkennen geben konnte? Mehr denn je zweifelte Philip daran, dass es eine Zukunft für sie beide gab, aber er wusste, dass, solange sie lebte, solange er lebte, ein Funken Hoffnung in ihm glühen würde. Er konnte den Weg, den Frendan’no ihm gezeigt hatte, nicht gehen.

»Wenn es in meiner Macht liegt, werde ich dafür sorgen, dass meine Brüder, die nicht meine Brüder sind, beizeiten von dieser Möglichkeit erfahren«, versprach er. Frendan’no senkte seinen Blick und verstand, dass Philip seine Wahl getroffen hatte.

Sie wanderten den Rest des Tages am Kamm weiter und suchten sich für die Nacht einen windgeschützten Platz an der Südseite des Berges. Philip mochte Frendan’nos stille Vertrautheit. Er wusste, dass der Elbe nichts von ihm verlangen würde, was er nicht selbst wollte, und dass er zu keinem Zeitpunkt sein Handeln wertete. Er war für ihn da, bereit, ihm zu helfen, seine Bürde zu tragen und ihm beizustehen, wenn er ihn brauchte.

Philip lag schlaflos auf dem Rücken und dachte über alles Mögliche nach. Seine Gedanken waren wirr und zusammenhanglos, aber am Ende aller Dinge kam er immer wieder zu der Ausweglosigkeit seiner Situation.

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